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Sonntag
Apokalypse
...glitzernde Wellen in der Sonne, leuchtende Schiffe am Horizont. Palmen im Wind, Menschen im Wasser. Möwenschwärme über dem Pier, über dem Strand. Bälle, Badehandtücher und Schirme. Stimmen und Rauschen. Das Kreischen der Vögel. Ein junges Paar watet durch die Brandung. Hand in Hand. Die Welt schrumpft um die beiden zusammen. Ganz nah. Sie reden, lachen und reden weiter. Große Gesichter, verträumte Blicke.
Störungen. Das Paar wird entstellt, die Welt verzerrt. Farben verändern sich. Plötzlich Schwärze.
„Verdammte Scheiße.“ S hämmerte auf den Tasten der Fernbedienung herum. Nichts. Er stand auf, schlurfte zum Fernseher, drückte den Einschaltknopf. Der Bildschirm blieb schwarz.
„Dreckskiste“, fluchte S und schlug mit der Faust gegen das Plastikgehäuse.
Der Fernseher war tot, verstorben am Sonntagmorgen gegen vier Uhr.
S ging zur Couch zurück und ließ sich auf das Lederimitat fallen. Sogar Gott hatte am Sonntag die Werkstatt geschlossen und die Beine auf den Tisch gelegt. Wo zur Hölle sollte er also jemanden finden, der sich um seinen Fernseher kümmerte?
S fischte eine Bierflasche vom Couchtisch und trank. Irgendwann schlief er ein.
S wachte auf. Er streckte sich und gähnte, wollte zur Fernbedienung greifen, seufzte und griff stattdessen nach einer Schachtel Zigaretten. Er steckte sich eine Kippe in den Mund und kramte ein altes Benzinfeuerzeug aus der Tasche seiner Jogginghose. Das silberne Gehäuse war zerkratzt, der ehemalige Glanz mattiert. S schnippte die Kappe nach oben, drehte das Zündrädchen und hielt die Zigarette in die Flamme. Er nahm einen tiefen Zug, schürzte die Lippen und blies Rauch in die stickige Luft, beobachtete die Schwaden, die sich kräuselten und zur Decke stiegen, betrachtete die Risse, die den Putz durchzogen wie Flüsse, Linien, Muster, morbide Kunstwerke des Verfalls; eine nackte Glühbirne über dem Couchtisch beleuchtete sie, verdrängte das hereinfallende Zwielicht und tauchte den Raum in mattes Gelb.
Draußen heulte der Wind, Regentropfen prasselten rhythmisch gegen das Wohnzimmerfenster, Wassermassen flossen gluckernd die Regenrinne hinab.
P klopfte glühende Asche auf den Teppich und ließ seinen Blick von den Linienformationen an der Decke über die vergilbte Tapete zum Fernseher gleiten. Er starrte auf den dunklen Bildschirm, erkannte vage das Spiegelbild seiner Wohnung, sah Fotos an der Wand, verwelkte Blumen auf der Fensterbank, sah das Bücherregal, Porzellanfiguren, die Rücken an Rücken mit Nachschlagewerken standen, sah das Aquarium in der Zimmerecke und Flaschen auf dem Couchtisch. Und dahinter sah er sich selbst.
S stand auf, ging zum Fenster und starrte auf die menschenleere Straße. Dunkle Wolken zogen über den Himmel wie schwerfällige Schlachtschiffe, unzählige Pfützen verwandelten die Asphaltwüste in eine Seenplatte. Graue Wohnblöcke ragten empor, Betonklötze, die so tot wirkten wie die Ruinen einer zerbombten Stadt. Hausnummern und Klingelschilder, dunkle Fenster in dunklen Fassaden.
S drückte die Zigarette in einem Blumentopf aus und ging durch den Flur in die Küche. Das Linolium klebte unter seinen Füßen wie eine Fliegenfalle, seine Schuhe lösten sich bei jedem Schritt mit einem leisen Reißen vom Bodenbelag. Er öffnete den Kühlschrank, begutachtete seinen Inhalt – zwei Flaschen Bier, ein Würstchenglas ohne Würstchen und eine Plastikdose, deren Inhalt so aussah, wie er roch. S schloss die Tür und setzte sich an den Küchentisch. Er zog eine kleine Schüssel zu sich heran, lotste sie vom anderen Ende des Tisches zu seinem aufgestützten Ellenbogen, vorbei an Fischfutterdosen und alten Zeitungen, löste einen Löffel aus einer getrockneten Kaffeelache, steckte ihn in den Brei aus aufgeweichten Cornflakes und Milch, der in dem Keramikgefäß klebte, und rührte in der bräunlichen Masse herum. S aß ein paar Löffel voll, stand auf und stellte die Schüssel neben die Spüle, in der schmutziges Geschirr bis über den Rand hinaus quoll; verkrustete Essensreste überzogen Messer, Teller, Gabeln und Tassen wie Schorf.
Er nahm eine Dose Fischfutter vom Tisch, schlenderte ins Wohnzimmer, ging vor dem Aquarium in die Hocke und presste seine Nase gegen das Glas. Algen wehten im Strom der Sauerstoffpumpe, zwei Guppies hingen träge im trüben Wasser, die Bäuche auf dem grünlichen Kies. Ein toter Fisch trieb zwischen den Wasserpflanzen. S stellte die Dose auf den Boden und entfernte die Abdeckung des Aquariums. Warme, feuchte Luft schwappte ihm entgegen, ein Hauch von Moder. Er zog den Fisch an der Schwanzflosse heraus, trug ihn ins Badezimmer und warf ihn in die Kloschüssel, pinkelte und zog die Spülung. Das Tier tanzte kurz im gelben Wasser, bevor es im Abflussrohr verschwand. Klare Flüssigkeit lief nach, stieg langsam und überspülte die braunen Streifen. S klappte den Deckel zu und wandte sich zum Waschbecken. Er ließ Wasser über seine Hände laufen, schüttelte sie ab und griff nach einem Handtuch. Als er es vom Haken nahm, stieß er das Zahnputzglas von der Ablage unter dem Spiegel, versuchte es aufzufangen, doch seine Hände griffen ins Leere. Das Glas zersplitterte im Waschbecken.
Genesis
S betrachtete die Scherben, stieß sie vorsichtig mit dem Zeigefinger an, ließ sie, leise klirrend, wie Boote durch ein Meer aus anderen Scherben gleiten. Er nahm einen Splitter, hielt ihn in das Licht der Neonröhre, drehte ihn zwischen seinen Fingern und steckte sich das Glasstück in die Hosentasche. Dann riss er den Spiegel von der Wand und zerschmetterte ihn auf dem Boden, fegte mit einer Klobürste Deos und Aftershaveflaschen von der Ablage über dem Waschbecken und stopfte den Duschvorhang in die Toilette. S stürmte aus dem Badezimmer in die Küche und warf den Tisch um. Fischfutterdosen rollten über das Linolium. Er zertrat sie, zeriss alte Zeitungen, warf einen Stuhl gegen die Wand, zerschmetterte Gläser, Tassen, Teller und Schüsseln, verbog Gabeln und Messer, verbeulte Töpfe und Pfannen mit einem Nudelholz, zerschlug das Glasfenster des Backofens und trat die Kühlschranktür aus den Angeln. P hob ein Messer auf, stolperte durch die Scherben in den Flur, riss auf dem Weg ins Wohnzimmer Kleiderhaken von der Wand. Er schlitzte die Couch auf, rammte die Klinge in den Kunststoffbezug, wühlte in der Schaumstofffüllung und verteilte sie auf dem Teppich.
Das Bücherregal kippte um, Porzellanfiguren zersplitterten unter Buchrücken und Holzbrettern, Blumentöpfe verspritzten Erde, als sie gegen die Wände schlugen. Blätter und Blüten regneten herab, fielen auf heruntergerissene Fotos und zerbrochene Rahmen.
S schob das Aquarium vom Tisch, ein Schwall Wasser durchnässte seine Hose bis zu den Knien. Er trampelte auf dem Kies herum, zerquetschte Fische unter seinen Schuhen.
Es klingelte an der Tür.
S dreht die Glühbirne aus der Fassung und warf sie über die Schulter. Er ging zum Fernseher, hob ihn vom Tisch und legte das Gerät mit dem Bildschirm nach unten auf den Teppich, zertrat die Fernbedienung, eilte zum Fenster und schloss die Gardinen.
Es klingelte wieder.
S ging zur Haustür und öffnete sie.
„Ja?“
„Ich... äh... habe Lärm aus ihrer Wohnung gehört und wollte nur nachsehen ob.. ob...“
„Alles in Ordnung.“
„Oh... gut. Dann entschuldigen Sie bitte die.. äh... Störung. Ich dachte nur...“
„Kommen Sie doch rein.“
„Das ist nett, aber ich...“
„Nur eine Minute.“
„Das würde ich wirklich gerne, glauben Sie mir, aber ich.. ich muss...“
„Bitte. Ich brauch’ kurz Ihre Hilfe. Mein Regal ist... umgekippt und alleine kann ich es nicht wieder aufstellen. Zu schwer.“
„Ach so... nun... in Ordnung. Ich konnte ja nicht wissen, dass..“
„Nein, das konnten Sie nicht.“
S trat einen Schritt zurück und machte eine einladende Geste, schloss die Tür hinter seinem Nachbarn und ging voran ins Wohnzimmer.
„Was zum... Was ist denn hier..“
„Renovierung.“
„Ach... sie... äh... renovieren... nun, dann werde ich sie lieber nicht... äh.. vielleicht geh’ ich jetzt besser... ich hab’ Essen auf dem Herd und....“
S ging zur Couch und zog das Messer aus der Sitzfläche. Als er sich wieder umdrehte, war der Nachbar bereits im Flur verschwunden. P folgte ihm, fasste an seinem Arm vorbei und drückte die Tür ins Schloss, die er bereits einen Spalt geöffnet hatte.
„Außerdem ist mein Fernseher kaputt“, sagte er und rammte dem Mann das Messer in den Hals. Dieser riss die Hände nach oben, umklammerte den Messergriff, stolperte vorwärts, stieß gegen die Tür, taumelte ein paar Schritte nach hinten und fiel der Länge nach auf den Boden. Er zerrte am Messer, strampelte mit den Beinen, warf den Kopf hin und her, öffnete den Mund, versuchte zu schreien, doch Blut erstickte jeden Laut, blubberte heraus, lief ihm über Kinn und Hals und vermischte sich mit dem Strom, der aus der Wunde sickerte.
S beobachtete ihn, bis er sich nicht mehr bewegte. Er zog die Leiche ins Wohnzimmer, zerrte sie zum Fernsehschrank und lehnte den Körper mit dem Rücken dagegen, riss das Messer aus der Wunde, hackte, stach und zerschnitt. Dann ließ er die Klinge aus seiner Hand gleiten.
S ging zur zerfetzten Couch und setzte sich. Er trank das abgestandene Bier aus und legte die Füße auf den Tisch. Manchmal musste man sich selber um die Dinge kümmern. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lächelte.
Eine rote Lache, glänzendes Metall. Blut strömt aus den Wunden, strömt aus dem Mund. Weit aufgerissene Augen, weit aufgerissener Bauch. Eine blutige Masse quillt heraus, Gedärme auf dem Schoß. Ein toter Blick, Augen starren ins Nichts. Der Kopf gesenkt, das Kinn auf der Brust. Schlaffe Arme hängen an den Schultern. Der Körper rutscht, sackt zur Seite. Alles wird rot...