Sonus
Sonus wachte auf. Seine Augen waren noch trocken und ließen sich nur schwer öffnen. Ein fahler Lichtschein trat durch das verdeckte Fenster und erhellte den Raum in einem unschuldigen Zwielicht. Er öffnete das Fenster, wie jeden Morgen. Ein zarter Hauch warmer Morgenluft schlich hinein und erweckte ihn.
Die Stadt lag vor seinem Fenster, wie ein bunter Wald aus weißen Blöcken, bedeckt mit roten Ziegeln und das Getümmel in den Straßen und das Gezwitscher der Vögel, sie brachten Sonus zum Tanzen und der Wind, der an seinem Fenster vorbeiflog, er beflügelte ihn. Sonus ging aus seinem Tanze ans Fenster und wollte am Liebsten auf dem Wind hinausgleiten in die Welt und über den Dächern den Leuten zuwinken, um dann für immer fortzugleiten über die Wälder, Felder und Flüsse hinter der Stadt und weit darüber hinaus. Er würde weit entfernte Länder sehen und ihre Menschen, wie sie anders lebten als jene die er kannte, aber doch Menschen waren. Kein Vogel würde seinem Fluge folgen können und die Welt würde auf ihn empor sehen, geblendet von der Sonne und irgendwann würden unter ihm die Sterne fallen und die Sonne versinken. Die Welt würde sich weiterdrehen, nur ohne ihn, denn er wäre ihr überlegen und würde sie nur noch von weiter Ferne belächeln. Und in seinem Fluge würde er andere Welten kennen lernen, andere Sterne, die kein Mensch außer ihm je erblicken würde. So flog Sonus seinen schönen Flug und stets begleitete ihn eine Melodie.
Und aus seinem Traume gerissen, setzte sich Sonus an sein Klavier. Er spielte die Melodie, die ihn hinfortgetragen hatte und versank in ihr. Und noch bevor seine Seele ganz aus der Welt ging, klingelte sein Wecker und entriss ihn seiner eigenen Welt. Geschlafen hatte er nicht mehr, doch geträumt allemal. Und so hatte er sich wieder um seine alltäglichen Geschäfte zu kümmern. Der Wecker ist immer das Zeichen dafür; Ein Zeichen, dem sich nur wenige widersetzen.
Sonus stand auf und zog sich langsam an, dann ging er ins Badezimmer. Er putzte sich die Zähne, wusch sich sein Gesicht, dann ging er in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein; Kaffeepulver und Wasser hatte er immer schon abends vor-bereitet. Er setzte sich an den Küchentisch und aß ein wenig Brot, dazu einen Brocken Weichkäse und drei Scheiben Schinkenwurst. Er trank Orangensaft, zwar aus dem Glas, doch stammte er aus einer Flasche aus dem Supermarkt. Das Sonnenlicht fiel durch die großen Fenster seiner Küche und mit den gelb gestrichenen Wänden tauchte es die Küche in ein warmes, verzaubertes Licht in welchem alles Leben aufzublühen schien. Sonus trank den letzten Schluck Orangensaft und machte sich sogleich auf.
Er ging aus dem Haus. Der Nachbar, der gerade dabei war, in sein Auto zu steigen, grüßte ihn sehr freundlich, Sonus grüßte zurück. Er ging durch sein Gartentor, die Straße entlang. Die Bäume rechts und links der Straße wurden durch einen leichten Luftstoß erregt und gingen freudig hin und her. In einem Hof spielten Kinder und auf Sonus Straßenseite kam ihm langsam eine alte Frau entgegen. Sonus lächelte sie freudig an. Sie lächelte zurück. Sonus ging langsam auf die Innenstadt zu. Hier war das Getümmel der Menschen in vollem Gange, da alle zu ihrer Arbeit drängten. Sonus im Gegensatz ging nicht zur Arbeit, denn von Arbeit hielt er nicht viel.
Er kam nun durch einige schmale Gassen, rechts und links mit Wohnhäusern begrenzt, die alle Reihe an Reihe gebaut waren. Teilweise hatten sie Risse im Mauerwerk und der Putz bröckelte ab, doch in jedem der Häuser schienen Menschen zu leben. Die Straße war dort sehr hübsch gepflastert, wenn das Pflaster auch schon sehr alt zu sein schien und schon sehr gelitten hatte unter den vielen Füßen und Holzrädern und Gummireifen, die es über die Jahre begangen hatten. Die Gasse war gerade mal so breit, dass ein Auto durchfahren konnte. Aus einem Fenster schaute eine ältere, dicke Frau mit einem weißen Kopftuch. Sie grüßte Sonus herzlich. Er grüßte freundlich zurück. Auf der Straße spielten Kinder mit einem kleinen Ball, der wohl nur noch wenig Luft enthielt. Als Sonus vorbeiging stoppten die Kinder ihr Spiel und betrachteten ihn neugierig, wie es Kinder eben so tun.
Plötzlich zog ein warmer Windhauch durch die Gasse und Sonus sah, wie die Wolken über ihn hinwegzogen. Da begann er eine Melodie zu pfeifen. Es war nicht etwa eine bekannte Melodie. Nein, sie stieg gerade in Sonus Gedanken und so entwich sie auch gleich seinem Munde. Die Melodie strahlte eine solche Herrlichkeit aus, dass überall die Fenster der Häuser sich öffneten. Leute schauten heraus, um zu erfahren, woher die Musik stammte. Doch Sonus war schon wieder ganz woanders. Er war vom Wind mitgetragen worden und ritt nun auf den Wolken.
Auf der Treppe zu einer Haustür saß ein kleiner Junge, der traurig dreinblickte. Sonus stoppte sein Pfeifen und ging zu dem Jungen. Er fragte ihn, warum er so unglücklich aussah. Dann ging er zurück, wo er eigentlich herkam. Der Junge blickte ihm nach, bis Sonus hinter einer kleinen Biegung verschwand. Nach einiger Zeit kam er mit den anderen Kindern zurück. Diese nahmen den kleinen Jungen lächelnd bei der Hand und liefen mit ihm zurück. Sonus ging weiter.
Er kam aus der Gasse auf eine Einkaufspassage. Es gab dort Bekleidungsgeschäfte, Schuhgeschäfte, Restaurants, Eisdielen, Bäckereien, Metzgereien, Obstläden, Feinkostgeschäfte, Lebensmittelgeschäfte, Kioske und Krämerläden. Obwohl Sonus schon lange in dieser Stadt lebte, war er bislang von den vielen Geschäften nur in fünf gewesen. Und von den anderen wollte er auch nichts weiter wissen. Hier waren zu der Zeit immer die meisten Leute. Einige Touristen, manche Kauflustige, ein paar geschäftige, auf dem Weg zur Arbeit und manche, die nur hier durchgingen, um am schnellsten an ihren Zielort zu gelangen.
Sonus blieb eine Weile stehen und beobachtete die Menschen und er stellte sich vor, welche Schicksale sich wohl hinter jedem einzelnen von ihnen verbargen, woher sie kamen, wohin sie gingen, was sie bisher erlebt hatten, warum sie jetzt so waren, wie sie waren, ob sie wohl gerade verliebt, in Trauer, gestresst oder einfach nur glücklich waren, ob er ihnen schon einmal begegnet war, was sie wohl für Leidenschaften hatten, wie sie als Kinder gewesen sein konnten, warum die einen so, die anderen so gekleidet waren, ob es jemanden gab, der auf sie wartete...
Als ihn eine Frau kurz anlächelte, dachte er darüber nach, warum sie das wohl getan hatte, ob sie ihm ansah, wie gern er die Menschen beobachtete, ob sie ihn vielleicht eher bemitleidete oder gar auslachte. Er versuchte, sich an den genauen Ausdruck ihres Lächelns zu erinnern, aber er sah kein klares Bild mehr vor sich, also beschloss er, es zu vergessen und der Frau für immer dankbar zu sein, denn ein nettes Lächeln ist das schönste und wunderbarste, das einem ein Fremder Mensch, der nichts weiter von einem verlangt, geben kann.
Plötzlich bemerkte Sonus, wie eine kleine, grauschwarz getigerte Katze um seine Beine strich. Sonus hockte nieder und streichelte die Katze und sprach liebend mit ihr. Er bewunderte das Wesen für die Freiheit, mit der es durch die Straßen ziehen konnte und für sein heiteres Gemüt, mit dem es furchtlos und ohne Misstrauen mit jedem fremden Menschen Kontakt suchte. Doch er bemitleidete die Katze auch, dafür, dass sie unfähig war, die Schönheit der Welt zu erblicken und zu erkennen und die Schönheit einer Melodie zu vernehmen. Seine Melodie würde sie nie hinfort tragen, nie beflügeln, nie vergessen lassen. Er summte leise seine Melodie und wie er erwartete, veränderte die Katze ihr Spielen und Schnurren und Streichen nicht. Dann stand Sonus auf und die Katze lief davon. Und Sonus wusste, dass er sie nie wieder sehen würde.
Seine Melodie weiter summend, ging er die Einkaufspassage hinunter. Die Menschen strömten an ihm vorbei, doch er schien immer langsamer zu gehen, und irgendwann waren sie nur noch ein bunter Schatten, der an seinen Seiten vorüberströmte. Sonus war allein und doch unter tausend Freunden. Seine Melodie ließ die Stadt um ihn herum sich drehen und verschwimmen und mit ihm verschmelzen und doch flog er ihr davon, als hätte er sie nie gekannt. Er lag im Himmel auf einer weiten Wiese und betrachtete die Wolken, bis er wieder hinab fiel, an den Sternen vorbei, durch die Wolken und zurück in die Einkaufspassage seiner Stadt.
Sonus ging in ein Café, um eine Tasse Tee zu trinken und die Leute dort zu beobachten. Es gab dort für ihn den besten Tee der Stadt und vielleicht auch den besten Tee der Welt. Er setzte sich an seinen Lieblingsplatz in der Ecke. Nur zwei andere Tische waren besetzt. An dem einen saß ein junges Liebespaar. Es waren ein Mann mit blonden, kurzen Haaren und eine Frau mit dunkelbraunen Haaren, die sich beide Hände hielten und sich glücklich verliebt anlächelten. Auf ihrem Tisch standen neben ihren Händen zwei leere Teller mit Krümeln darauf und zwei leere Tassen mit Resten von Kaffe darin.
Am anderen Tisch saß ein älterer Herr mit grauweißen Haaren, die sich um seine hohe Stirn wanden in einem teuer aussehenden Nadelstreifenanzug. Er blickte finster und missgelaunt durch seine Lesebrille in eine Zeitung. Eine blonde Bedienung ging an den Tisch mit dem Herrn und stellte ihm eine Tasse Cappuccino darauf. Der Herr tat so, als hätte er es nicht bemerkt. Sonus fragte sich, weshalb er sich nicht bedanken wollte. Viele Menschen habe Probleme, doch der Herr sah nicht aus wie ein Mensch mit Problemen. Warum war er also so missgelaunt und mürrisch? Plötzlich klingelte sein Mobiltelefon. Er ging ran und hörte einen Augenblick lang zu, wobei seine Mine immer finsterer wurde. Dann fing er an, ins Telefon zu brüllen. Sein Kopf wurde purpurrot und er brüllte irgendwas von Unterlagen, Aufträgen und Geldgeschäften. Er beendete das Telefonat, stand wütend auf und klatschte die Zeitung auf den Tisch, wobei er den Cappuccino verschüttete. Er zog einen Zehn-Euro-Schein aus der Tasche und warf ihn auch auf den Tisch. So viel hatte der Cappuccino sicher nicht gekostet, doch der Herr ging in einem schnellen, wütenden Schritt einfach hinaus und hatte damit etwa sieben Euro Trinkgeld gegeben. Sonus beobachtete, wie er hinausstampfte, sich draußen nach seinem Auto umsah und dann aus seinem Sichtfeld ging. Sonus fragte sich, was wohl passiert war. Doch er dachte sich, dass es wohl eher eine Lappalie war und der Mann eben sehr aufbrausend war. Er musste wohl einen sehr stressigen Beruf haben und da würde wahrscheinlich jeder irgendwie wütend, wenn ihn der Beruf sogar an einem so stillen Ort einholt, wenn man sich gerade ein wenig entspannen und ablenken will. Das Pärchen am anderen Tisch hatte dem Herrn auch nachgeschaut und machte sich jetzt über ihn lustig. Da war Sonus ein wenig sauer auf das Pärchen, denn er verstand den Herrn, aber sie machten sich nicht einmal die Mühe, sondern fanden in ihm nur einen Grund, ihrer natürlichen, menschlichen Schadenfreude zu frönen.
Die Bedienung kam an den Tisch, wo der Herr gesessen hatte und zeigte sich erstaunt über die zehn Euro. Sie schaute sich um, ob der Herr auch nicht zurückkommen würde, steckte das Geld ein und räumte den Tisch ab. Sonus kündigte an, zahlen zu wollen.
Zurück auf der Straße ging er nach links, die Einkaufspassage ein Stück weiter, dann in eine Querstraße nach rechts, dann wieder rechts auf eine größere Straße. Dort war gleich eine Bushaltestelle, an der er wartete. Nach drei Minuten kam der Bus. Sonus stieg ein und setzte sich gleich auf einen Einzelplatz vorne rechts. Die Fahrt begann. Der Bus fuhr an einigen Geschäften vorbei, dann an einigen Baufälligen, kleineren Fabrikgebäuden. Dann bog er von der größeren Straße links ab in ein Wohngebiet. Vorbei an einigen Einfamilienhäusern, die wohl schon etwa dreißig bis vierzig Jahre alt waren, hielt der Bus zum ersten mal bei einem kleinen Fußballplatz. Nun ging es weiter vorbei an älteren Häusern, bis er durch ein Neubaugebiet kam, welches gerade eifrig dabei war, erweitert zu werden. Auch hier hielt der Bus. Schließlich fuhr er nach rechts, zurück Richtung Innenstadt. Doch er blieb am Stadtrand und kam schließlich durch ein Industriegebiet. Er fuhr vorbei an großen Fabrikhallen, die jedoch schon eher Ruinen glichen. Davor waren große Höfe, umschlossen von rostigen Maschendrahtzäunen, auf denen noch verrostete Metallcontainer standen. Einige Fabriken waren noch in Betrieb und es fuhren Lastwägen und Gabelstapler auf den Höfen herum. Doch alles in allem sah das Industriegebiet trostlos und traurig aus. Alles war in bräunlich graue Farben getaucht, verstaubt und zerfallen. Fensterscheiben waren eingefallen und alles war in einen verschwundenen Schleier einer schöneren Vergangenheit getaucht. Graue Schornsteine ragten empor. Manche qualmten, doch die meisten taten das schon lange nicht mehr. Trotz dieses hässlichen Anblicks konnte Sonus eine gewisse Schönheit in diesen Bauten erkennen, da sie Geschichten erzählten. Die Ruinen hatten eine Vergangenheit, wie alte Menschen, die zunächst langweilig und ausgezehrt wirken, aber doch ein langes Leben, voll von Erlebnissen, Erfahrungen, Leid und Glück vorzuweisen haben. Sonus dachte sich, dass man diesen Menschen viel öfter zuhören sollte und ärgerte sich, dass es so wenige noch taten. Er stellte sich vor, wer die Menschen gewesen sein könnten, die diese Fabrikhallen viele, viele Jahre zuvor wohl gebaut haben könnten, wie die Zeit damals gewesen war und was die Arbeiter wohl für Erwartungen in ihre Zukunft und in diese Hallen hatten. Wie ihre Arbeitstage wohl ausgesehen haben und wie sie schließlich zu ihren Familien nach Hause gekommen sind. Eine gewisse Sehnsucht beschlich Sonus, in diese Zeit hineinblicken zu können, wenn auch nur für ein paar wenige Minuten. Dann sah er aber wieder die Gebäude, wie sie jetzt waren und dachte daran, dass sie in hundert Jahren wahrscheinlich nicht mehr dort stehen würden. Sie würden dann nichts mehr erzählen und ihre Geschichten wären längst vergessen.
Der Bus erreichte schließlich den Busbahnhof. Sonus stieg aus und nahm einen tiefen Zug der frischen Luft, die an diesem schönen Tag über die Stadt wehte. Ein anderer Bus brachte ihn dorthin zurück, wo er zuvor in den ersten Bus gestiegen war. Er ging zurück durch die Nebenstraßen, die Einkaufsstraße, die kleinen Gassen und die andere Straße mit den Bäumen an der Seite und schließlich zurück in sein Haus.
Zurück an seinem Fenster sah er wieder hinaus und erblickte goldenes Licht, das die Stadt und die Wälder und Felder dahinter und alle Bäume und alle Häuser und Straßen in einen Schimmer von Vergänglichkeit tauchte, zugleich aber die schöne Nacht ankündigte, die alles Treiben, alle Erregung, allen Schmerz und alle Traurigkeit des Tages in einen tiefen Schlaf setzen und schließlich einen neuen Morgen freigeben würde, der jedem Ding neue Schönheit bringen wird.
Sonus setzte sich wieder ans Klavier und spielte ein letztes mal sein Lied. Und plötzlich öffnete sich das Fenster und es schien, als würde sich die Welt unter Sonus hinwegdrehen. Er sah die goldenen Dächer der Stadt. Er sah die Menschen und sah wer sie waren und sah ihre Ängste und Probleme, die alle unbedeutend waren und sah weite Wiesen mit kleinen Obstbäumen und dunkle Wälder, die im roten Licht der Sonne ihren Frieden fanden und irgendwann verschwand die Sonne hinterm Horizont und hinterließ eine solche Ruhe in der Welt, dass es schien, als wäre alles vergessen, was an diesem Tag passiert war. Und Sonus flog weiter und höher, über die Wolken und darüber hinaus. Und er sah die Welt von weitem und betrachtete sie mit einem Lächeln. Sie entfernte sich immer weiter von ihm und schon lange war die Melodie verstummt, doch Sonus flog weiter und weiter fort und irgendwann fielen die Sterne unter ihm herab.