- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Sorin
„Wo bleibt er nur?“ Nervös sah Magdalena auf die Uhr, bevor sie sich zum achten Mal innerhalb der letzten halben Stunde auf die Zehenspitzen stellte und aus dem geöffneten Fenster ihrer kleinen Studenten-Wohnung hinab auf den Bürgersteig blickte. Schwüle, staubige Hitze lag an diesem Spätsommernachmittag wie Blei auf den Straßen Bukarests. Passanten drängten dicht an dicht durch die Dacia, Mütter schoben Kinderwagen und manch Obdachloser sein Hab und Gut in einem Einkaufswagen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite türmte sich ein grauer Plattenbau mit brüchigem Putz in die Höhe, durchsetzt von mit rostigen Gittern umsäumten Balkonen, auf denen einzelne Wäschestücke der Mieter an Schnüren aufgereiht waren. Durch die Abgase der Autos, die sich über die Verkehrswege der Stadt schoben würde die Wäsche bald genauso grau wie die Platten sein.
Magdalenas grüne Augen blitzten, als sie ihn endlich die Straße herauf kommen sah und sie spürte wieder dieses fiebrige Gefühl in ihren Wangen, als sei sie krank. Sie mochte dieses Gefühl nicht. In dem großen Spiegel, den er letzte Woche neben ihrem Bett angebracht hatte, betrachtete sie sich. Der Jeansrock umspielte ihre schlanken Beine, sie trug ihr rotes Lieblingsshirt und ihre schwarzen Locken hatte sie zum Pferdeschwanz gebunden. Zufrieden lächelte sie ihr Spiegelbild an, als sie hörte, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde.
„Magda?“ Sorins Stimme klang durch den Flur. „Magda, bist du da?“
„Du kommst aber spät.“ Magdalena lugte aus dem Schlafzimmer und sah ihn gespielt vorwurfsvoll an.
„Ach, Schwesterchen, nicht böse sein. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du Sehnsucht nach mir hast.“ Er lachte und dabei fiel eine dunkle Strähne in seine Stirn. Seine braunen Augen blinzelten ihr über den Brillenrand liebevoll spöttisch entgegen und kleine Schweißperlen glänzten auf seiner bronzenen Haut.
„Du sollst mich nicht immer Schwesterchen nennen, Sorin. Deine Mutter hat meinen Vater geheiratet. Mehr nicht.“ Sie verzog das Gesicht.
Vor dreizehn Jahren hatte ihr Vater Ileana, Sorins Mutter, geheiratet und Magdalena, bis dahin Einzelkind, hatte sich mit einem sieben Jahre älteren Stiefbruder abfinden müssen. Plötzlich musste sie teilen. Ihr Zimmer - und die Liebe ihres Vaters. Nach einigen trotzigen Machtkämpfen hatten sie sich schließlich aneinander gewöhnt, irgendwann gemocht und inzwischen – was inzwischen war, machte Magdalena Angst. Früher hatte sie es gerngehabt, wenn man sie für Geschwister hielt, hatte stolz von ihrem großen Bruder erzählt, der auf sie aufpasste und für den ihre Freundinnen schwärmten. Heute war es anders.
„Ist ja schon gut, Magda. Reg dich nicht gleich auf.“ Irritiert sah er sie an, bevor er ein Stück Papier aus seiner Tasche kramte und vor Magdalenas Nase damit herumfuchtelte.
„Was ist das?“
„Der Vertrag, Magda. Ich hab die Stelle bei der Bank bekommen. Ab sofort können wir gemeinsam die Stadt unsicher machen. Natürlich muss ich noch ein paar Tage bei dir wohnen, bis ich eine eigene Wohnung gefunden habe, aber das macht dir ja sicher nichts aus. Und von meinem ersten Gehalt kaufe ich dir was Schönes.“ Er umarmte sie.
Magdalena spürte, wie sich das fiebrige Gefühl aus ihren Wangen durch den ganzen Körper schlich und sie schloss einen Moment die Augen. Sorins Geruch, der ihr seit Jahren nur allzu vertraut war, kroch in ihre Nase. Schon als er damals mit seiner Mutter bei ihnen eingezogen war, hatte er so gerochen, das gleiche Shampoo, die gleiche Seife. Es roch nach zuhause – nach Familie. Familie. Dieser Gedanke wurde ihr zunehmend unerträglicher.
„Herzlichen Glückwunsch“, sagte sie heiser und schob ihn von sich weg.
„Geht’s dir nicht gut? Du hast ja ganz heiße Wangen. Bist du krank?“ Besorgt sah er sie an.
Sie schüttelte den Kopf.
„Es ist nichts. Nur die Hitze draußen macht mir zu schaffen.“
„Ja, es ist unglaublich heiß. Wir sollten mal wieder an einen See fahren, so wie früher, was meinst du? Einfach in die Sonne legen und schwimmen.“
„Ja, sollten wir. Aber nicht jetzt, ich muss etwas für die Uni tun.“
Magdalena wandte sich ab, ging in die Küche und setzte sich an den mit ihren Unterlagen bedeckten Tisch. Sie nahm Goethes Werther zur Hand und musste feststellen, dass sie in den fünf Stunden nicht mehr sechs Seiten geschafft hatte. Stattdessen zierten sich küssende Strichmännchen den Rand der Blätter, in deren Mitte ein großes „S“ prangte. Missmutig ließ sie den Kugelschreiber auf den Tisch fallen und sah aus dem Fenster.
„Ich dachte, du musst arbeiten? Du siehst eher aus, als ob du gleich einschläfst.“
Sorin stand hinter ihr und nahm sich das letzte Bier aus dem Kühlschrank.
„Was liest du denn da überhaupt gerade? Zeig doch mal her.“ Er griff nach dem Werther und blätterte durch die Seiten.
„Hm. Deutsch. Verstehe ich nicht. Worum geht es?“
„Es geht um einen jungen Mann, der eine Frau liebt, die er nicht lieben darf und sich deshalb schließlich umbringt.“
„Oh. Also keine Geschichte für die gute Laune, was? Wobei, wer sagt eigentlich, wen man lieben darf und wen nicht?“ Er lachte und blätterte weiter. „Magda? Was ist das denn?“ Er hielt ihr das Buch unter die Nase und zeigte auf die Strichmännchen.
„Und wer ist denn ‚S‘? Hast du dich etwa verliebt, Kleine?“ Ein Grinsen umspielte seine Mundwinkel.
Magdalena funkelte ihn böse an.
„Lass das du Spinner, ich bin nicht verliebt, verstanden?!“
„Mir kannst du das doch sagen, Magda. Ehrlich, ich verrat es auch nicht deinem Vater.“
Lachend knuffte er sie in die Seite. Eigentlich lachte er immer und nie nahm er etwas wirklich ernst. Manchmal glaubte Magdalena, dass er soviel lachte, weil er nicht weinen wollte. Das Leben hatte ihm, wie auch ihr, schon oft hartes Brot zu kosten gegeben und die Dinge nicht ernst zu nehmen war seine Art, damit umzugehen.
Das Klingeln der Haustürglocke unterbrach sie. Magdalena riss den Werther aus Sorins Hand und eilte zur Tür, um den Öffner zu betätigen. Kurze Zeit später stand Elena Pallady, Magdalenas Kommilitonin und Freundin, im Flur und wedelte mit einer Flasche Wein.
„Hey Magda, ich komme alleine nicht weiter mit dem Stoff, da dachte ich, wir trinken heute Abend ein Glas Wein und schauen mal, ob wir gemeinsam das Liebeselend in diesem Buch ertragen. Für mich alleine ist das viel zu depressiv.“
Elenas kurze blonde Haare standen strubblig in alle Richtungen und Magdalena vermutete, dass wieder einmal den halben Nachmittag im Pool ihrer Eltern zugebracht hatte, anstatt sich wirklich mit dem Stoff zu beschäftigen. Für dramatische Liebesbeziehungen hatte Elena ohnehin keinen Sinn. Mit ihrer unbeschwerten Art zog sie Männer an und konnte sich grundsätzlich aus der Schar ihrer Verehrer den aussuchen, der ihrer momentanen Lebensstimmung am ehesten zusagte. Dass ihre Beziehungen nicht von Dauer waren, störte Elena dabei wenig.
„Na, dann komm mal rein.“ Magdalena schob sie in die Küche.
„Wen haben wir denn da?“ Elena hob interessiert die Augenbrauen und musterte Sorin unverhohlen.
„Das ist Sorin, mein Bru… ähm, mein Stiefbruder.“
„Freut mich. Ich bin Elena. Ich studiere mit deiner Schwester.“
„Stiefschwester“, setzte Magdalena nachdrücklich hinzu.
„Sie besteht heute irgendwie darauf, dass wir keine Geschwister sind“, sagte Sorin, reichte Elena die Hand und lachte, doch in sein Lachen mischte sich diesmal Unverständnis über Magdalenas seltsames Verhalten.
„Wir sollten uns an die Arbeit machen.“ Magdalena gefielen die Blicke nicht, die Elena und Sorin austauschten und sie wollte diese Begegnung so schnell wie möglich unterbinden.
„Aber du kannst auch gerne erst ein Glas Wein mit uns trinken. Wäre doch schade, wenn wir das Kennenlernen schon so schnell beenden müssten.“
Magdalena trommelte mit den Fingerspitzen geräuschvoll gegen die Küchentür.
„Schon gut, ich glaube, ich lass euch erstmal alleine. Wir können den Wein ja auch später noch trinken…“ Sorin nahm sein Bier und verließ die Küche. Elena sah ihm nach, bevor sie sich wieder an Magdalena wandte.
„Magda, was ist mit dir denn los? Ist dir der Werther aufs Gemüt geschlagen? Oder hast du sonst was?“
„Es ist nichts. Und nun lass uns arbeiten, sonst werden wir ja nie fertig.“ Magdalena schlug das Buch auf und begann zu lesen. Eine Weile waren beide schweigend in die Lektüre vertieft, als Elena kichernd aufsah.
„Weißt du Magda, jetzt wo ich Vlado gestern in die Wüste geschickt habe – also, dein Bruder, entschuldige, dein“, sie betonte es augenzwinkernd, „Stiefbruder, der könnte mir schon gefallen. Oder hat er etwa eine Freundin? Würde mich auch nicht wundern, so gut wie er aussieht.“
Magdalena zuckte zusammen.
„Elena, du solltest dir mehr Gedanken um dein Studium machen, anstatt ständig um neue Männer. Sonst wird das nie was und du musst den Rest deines Lebens auf Papas Tasche liegen. Ich kann mir das nicht leisten.“
Elena betrachtete ihre Freundin eine Weile prüfend.
„Magda, kann es vielleicht sein, dass du nur deshalb so sehr darauf beharrst, dass er dein Stiefbruder ist, weil man seinen Bruder nicht lieben darf?“ Magdalena wollte protestieren, doch Elena winkte lächelnd ab.
„Versuch erst gar nicht, mir zu widersprechen. Ich kenn dich gut, Magda. Und ich bin nicht blind. Glaubst du, mir ist nicht aufgefallen, wie du ihn ansiehst, wenn du denkst, dass er es nicht merkt? So sieht eine Frau keinen Mann an, der ihr nicht gefällt. Schade eigentlich, ich hätte mich wirklich gerne von seinen Qualitäten überzeugt.“
Grinsend trank sie einen Schluck Wein. „Aber keine Sorge, unter diesen Umständen ist er natürlich tabu für mich. Ein Jammer. Aber du solltest das schleunigst mit ihm klären. Diese Laune halte ich auf Dauer nämlich nicht aus, Magda.“
Elena leerte ihr Weinglas und packte das Buch in ihre Tasche.
„Ich gehe jetzt. Wir sehen uns morgen. Viel Glück.“ Sie umarmte Magdalena kurz und schon war sie zur Tür hinaus.
Magdalena ging ins Schlafzimmer, wo Sorin auf dem Bett lag und las.
„Hey. Deine Freundin schon wieder weg?“
„Ja, sie wollte noch etwas erledigen.“
„Achso. Schade. Sie war nett.“ Er sah von seinem Buch auf. „Hat sie einen Freund?“
„Immer mal wieder. Bei ihr kann man sich nie ganz sicher sein. Der heute ihr Freund ist, kann morgen schon ihr Ex sein. Sie nimmt es da nicht so genau und mit großen Gefühlen hat sie nichts am Hut.“ Magdalena fühlte sich elend. Sie wollte ihre Freundin nicht schlecht machen, doch noch weniger wollte sie, dass Sorin sich in Elena verliebte.
„Ihr ist halt noch nicht der Richtige begegnet.“ Er richtete sich auf und sah Magdalena an.
„Aber sag mal, Magda, was ist denn eigentlich mit dir los? So kenne ich dich gar nicht. Früher hast du mir doch auch alles erzählt. Ich war der Erste, der damals wusste, dass du in Anton verliebt warst oder wenn du Liebeskummer hattest. Was hat sich denn geändert?“
Sie schob ihn vor den Spiegel.
„Du willst wissen, in wen ich verliebt bin? Dann sieh hinein.“
Sorin blickte in den Spiegel, doch sah er nicht sich, sondern Magdalena an.
„Magda…“
„Verstehst du es jetzt?“
Er drehte sich um, blickte sie an und strich über ihre Wange. Seine Hand fuhr in ihr Haar und er zog das Haarband heraus, so dass ihre Locken über die Schultern fielen.
„So gefällst du mir viel besser.“ Seine Stimme klang unruhig.
„Spiel nicht mit mir.“
„Das tu ich nicht, Magda.“
Er kam näher, so nah, dass Magdalena seinen warmen Atem in ihrem Gesicht spüren konnte. Vorsichtig berührten sich ihre Lippen, tastend, fragend, doch gleichzeitig ohne in diesem Moment eine Frage unbeantwortet zu lassen. Sorins Zungenspitze teilte behutsam ihre Lippen, während er Magdalena eng an sich zog. Die Hände, die ihr früher Pflaster auf aufgeschlagene Knie klebten oder Eis aus den Mundwinkeln putzten waren jetzt die Hände, die sie fest hielten, die ihr Gänsehaut bereiteten. Nie hatte sie sich einem Mann näher gefühlt als in diesem Moment.
Ihre Hände glitten unter sein Hemd und streichelten seine warme Haut. Ihr war, als könne sie den Sommer fühlen, den Wind in den Feldern und die Sonne am Himmel.
Langsam löste er sich von ihren Lippen und sah sie an.
„Magda…“
Sie nickte und er lächelte. Er nahm sie an die Hand und zog sie auf das Bett. Dort sah er sie wieder an und sie nickte nochmals. Sorin strich durch ihr Haar und klemmte ihr eine Strähne hinter das Ohr.
Kleidungsstücke fielen zu Boden und blieben achtlos verstreut liegen.
Seine Küsse waren vorsichtig, als wolle er auch jetzt noch auf sie aufpassen. Er küsste ihre erhitzte Haut, ihr Haar, die Innenfläche ihrer Hände, mit denen sie ihn berührte.
Magdalenas Finger tanzten auf seinem Rücken, glitten über die Linie seiner Wirbelsäule und verharrten auf seinem Hintern, bevor sie ihren Weg zurück in sein dichtes Haar fanden.
Einen Moment hielt er inne und sah sie an.
„Du musst jetzt nicht mehr auf deine kleine Schwester aufpassen.“
„Ab jetzt werde ich auf die Frau aufpassen, die einmal meine kleine Schwester war.“