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Spätfolgen
Mag sein, dass da was dran ist, doch haben wir noch Zeit, auf solche Signale zu warten? Außerdem grummelt mein Bauch seit Wochen, ich bin nervös und sitze halbe Nächte grübelnd im Wohnzimmer. Meine Mutter hält mein Empfinden für Panikmache und empfiehlt Yoga.
»Findest du nicht, dass du maßlos übertreibst?«, sagte sie gestern am Telefon. Ich konnte ihr spöttisches Lächeln vor mir sehen, den Blick wohlgefällig auf die tadellos manikürte Hand gerichtet.
»Nein Mama, das finde ich nicht!« Ich wollte nicht wie ein trotziges Kind klingen, klang aber genau so.
»Das ist doch lächerlich, Vera, als wenn du damit die Welt retten könntest!« Ihre Stimme bekam eine unheilvolle Schärfe.
»Sicher nicht, Mama. Wer kann das denn überhaupt noch? Es geht mir um so etwas wie Selbstachtung, verstehst du? Ich muss endlich Stellung beziehen, sichtbar, nicht immer nur reden und mich aufregen.«
Ich hörte sie genervt seufzen. Sie malte sich bestimmt aus, was Tom sagen würde, und ahnte den Tobsuchtsanfall der Zwillinge. Alles sehr unangenehm für meine Mutter.
»Mein Gott, Vera«, sagte sie, »diesen einen Flug noch, dann kannst du den Rest deines Lebens in Wanderschuhen rumlaufen!« Sie legte eine Pause ein, ich schwieg,
»Weißt du was, Vera? Ich glaube, dir geht es einfach zu gut!«
Ich drückte das Gespräch weg.
Stimmt, Mama, dachte ich. Mir geht es tatsächlich gut, ich bin wohlhabend, gesättigt, verwöhnt und genau deshalb geht es mir von Tag zu Tag schlechter. Abends sitze ich mit einem gekühlten Weißwein auf der Couch und betrachte die Katastrophen der Welt auf unserem 75 Zoll Bildschirm.
Tom sitzt daneben und blättert in einer juristischen Fachzeitschrift. Die Jungs kommen dann und wann vorbei, ständig auf dem Sprung, haben Verabredungen oder gehen zum Sport. Ich habe versucht, mit Tom über meine Beklemmungen zu reden, über das Gefühl, dass wir unsere Lebensgrundlagen zerstören, doch Tom wuschelte durch mein Haar und meinte, ich sei mal wieder ein Sorgenpüppchen!
»Alles wird sich regeln«, meinte er, »wir fahren doch schon elektrisch und essen viel weniger Fleisch; wenn das mehr Leute machen, geht es dem Klima bald besser!«
Sprach's, sprang auf, weil er noch was ganz dringendes zu tun hatte, oder noch einmal in die Kanzlei musste.
Unsere Jungs sind wunderbar, haben im Sommer Abitur gemacht und wollen beide Jura studieren, sehr zu Toms Freude, der genau dies von ihnen erwartet hat. Sie eifern ihrem Vater nach, zielstrebig, freundlich und charmant wie Tom. Tom ist sehr stolz auf seine Söhne, deshalb hat er sich eine riesige Überraschung ausgedacht: Wir fliegen gemeinsam nach New York, vielleicht ein letztes Mal alle zusammen, denn Jan und Henry werden zum Studium wegziehen. Zehn Tage mit Kunst, Kultur, Jazz, Theater, Musik; Tom hat an alles gedacht. Er überlässt nie etwas dem Zufall.
Tom trifft Entscheidungen und setzt mein Einverständnis voraus. Oft ist das auch prima, er überrascht mich mit Unternehmungen, seine Einfälle sind beneidenswert kreativ und er freut sich wie ein Kind, wenn ich vor Begeisterung sprachlos bin. Tom ist liebevoll und großzügig, doch sehr enttäuscht, wenn seine Entscheidungen nicht vorbehaltlos angenommen werden.
Ein heikler Punkt, den ich lange bagatellisiert habe.
Als unser Haus vor fünfzehn Jahren fertig geworden war, hatte ich mir eingeredet, dass ich die offene Wohnform wunderbar finde, kaum Türen, Küche in den Wohnbereich intergriert, alles so transparent, wie Tom es genannt hatte. Dabei liebe ich Räume, die eine Tür haben. Ich liebe es, eine Tür hinter mir zumachen zu können. Ich mag es nicht, wenn mir jemand von der Wohnlandschaft aus beim Kochen zusehen kann. Damals war ich mir mit dieser Vorliebe altbacken vorgekommen, hatte mich bemüht, es so zu sehen wie Tom, mein weltgewandter, erfolgreicher Mann, auf den ich sehr stolz war.
Das bin ich immer noch, doch mittlerweile habe ich längst begriffen, dass Tom mit seiner Anwaltskanzlei samt den vier angestellten Anwälten nur deshalb so viel Geld verdient, weil er ausschließlich die Interessen reicher Klienten aus der Wirtschaft vertritt. Das ist nicht kriminell, aber mir ist es im Laufe der Jahre unangenehm geworden. Ich schäme mich manchmal für seine Äußerungen.
»Den Prozess XY haben wir gewonnen, da konnten die Angestellten nichts machen. Gerechtfertigte Kündigung zur Erhaltung des Betriebes.«
Er schnippt mit den Fingern, zwinkert mir zu und deutet ein unechtes Bedauern an. Die Pandemie hat Tom viel Geld eingebracht. Ich betrachte ihn immer häufiger wie einen Fremden.
Anfang des Jahres hatte ich eine Coronainfektion, trotz Impfung. Drei Tage fühlte ich mich elend und lag fiebernd und hustend im Bett.
Tom ließ mir Medikamente und Säfte von Frau Kwasinski, unserer Haushaltshilfe, ins Zimmer reichen. Frau Kwasinski hat drei Kinder und wäre lieber nicht gekommen, doch das ging natürlich nicht. Tom verdrehte die Augen und bat sie flehentlich, mich nicht im Stich zu lassen, gab ihr ein großzügiges Geldgeschenk und ließ durchblicken, dass sich viele Frauen nach so einem Job sicher die Finger lecken würden. Frau Kwasinski verstand und kam. Ich bestand darauf, dass sie sich jeden Tag testete und mir nicht begegnete.
»Aber sicher Schatz, wie du willst«, raunte Tom durch die Tür und fuhr zum Juristenkongress nach Berlin. Ich schwieg dazu. Die Jungs hatten das intermezzo mitgekriegt.
»Der Papa ist vielleicht ne Nummer«, riefen sie, trommelten ein Fingersolo an meine Tür und stürmten aus dem Haus. Sobald alle weg waren, schlich ich ins Gästebad, stand mit wackligen Füßen unter der Dusche und wünschte, dass ich die lähmende Traurigkeit einfach abwaschen könnte.
Als Putin die Ukraine überfiel, saß ich vor meinem Computer und lektorierte einen historischen Roman für meinen Hamburger Verlag. Seit fast zwei Jahren arbeitete ich im homeoffice, saß in meinem Arbeitszimmer mit Blick auf den Rhein und den alten Schlossturm und genoss diese Unabhängigkeit.
Frau Kwasinski klopfte an meine Tür und trat sofort ein. Sie konnte vor Aufregung kaum sprechen und hielt nur mühsam die Tränen zurück.
»Krieg, es ist Krieg! Putin hat Krieg gegen Ukraine angefangen, ich weiß nicht, was wird jetzt mit Polen, ich habe Angst!«
Ich tauchte langsam aus dem mittelalterlichen England auf und versuchte zu verstehen.
In den Tagen danach war ich wie betäubt. Ein Gefühl der Unwirklichkeit ergriff mich, ich konsumierte Nachrichten und sprach mit Freundinnen, rief im Verlag an und sehnte mich plötzlich nach meinen Kollegen.
Nur mit Tom konnte ich wieder nicht über meine Angst und Unsicherheit sprechen. Bei einem Abendessen mit seinen Kollegen samt Frauen, betonte er seine guten Kontakte zur Landesregierung, gab er den abgeklärten Insider, der genau wusste, dass dieser Spuk bald enden würde. Ich verstand nie, woher er diese Behauptung nahm, die ihm sowieso niemand glaubte. Der Zweckoptimismus gehörte zu seinem gesellschaftlichen Auftreten.
Als die Menschen aus der Ukraine flohen, spendete Tom große Summen an Caritas und Diakonie.
Als ich Deutschunterricht für Geflüchtete anbot und zwei Kurse bei der Volkshochschule gab, nahm er mich in die Arme und küsste mich.
»Du bist wunderbar, Vera, ganz wunderbar.«
Als ich ihn fragte, ob wir nicht eine ukrainische Mutter mit ihrem Sohn aufnehmen können, unser Haus ist schließlich riesig und im Herbst ziehen die Jungs aus, schüttelte er vehement den Kopf.
»Dein Engagement in allen Ehren, mein Schatz, doch hier zuhause ist unser Privatbereich, den ich dringend brauche, das verstehst du doch.«
Tom lächelte, streichelte meine Wange und wir redeten nie mehr darüber.
Als der Hitzesommer begann, der vierte in Folge, rief sein Bruder aus Franken an und erzählte, dass er Sorge habe, seinen Biohof nicht mehr halten zu können. Schon im letzten Jahr musste er Kühe verkaufen, Winterfutter viel zu früh verfüttern und nun gehe es bald um die Existenz. Tom hörte ihm geduldig zu, signalisierte Verständnis, sagte ihm dann, dass sich in Zukunft wahrscheinlich viele Menschen eine neue Existenz werden schaffen müssen, Frank habe da als studierter Ökonom und Landwirt sicher gute Chancen.
Natürlich bot er ihm auch Geld an, einen Teil als zinslosen Kredit mit unbestimmter Laufzeit.
Alles, was Tom sagte, war faktisch richtig. Ich saß vor meinem Schreibtisch und hatte Steine auf den Schultern. Meine Finger fanden die Tastatur nicht.
Als Jan und Henry ihr Abitur bestanden hatten, gab Tom eine 'kleine Party' in den Rheinterrassen, achtzig coronafreie Gäste, ein erlesenes Büffett und eine Band.
Meine Mutter rief mich am nächsten Tag an.
»Was war denn mit dir gestern los? Du hast Tom ganz schön enttäuscht, und die Jungs auch!«
»Mir ging es nicht gut, Mama. Ich habe seit Tagen Kopfschmerzen und alles war zu laut, verstehst du? Einfach zu laut!« Mir kamen die Tränen. Meine Mutter hörte das sofort.
»Meine Güte, Vera, da kann man doch mal zwei Tabletten nehmen und sich zusammenreißen! Oder sind das Spätfolgen von deiner Coronainfektion?«
Als die Energiekrise thematisiert wurde, die Rezession deutlich wurde und die Flughäfen überquollen, sagte Tom gut gelaunt, dass er sich nun um die Tickets nach New York kümmern werde und Ende September ginge es dann 'ab über den großen Teich'.
»Wir können deinen 45. Geburtstag ja am Broadway vorfeiern, was meinst du, Schatz?«
Ich sah ihn an, wusste, dass ich ihn immer noch liebte und nicht mitfliegen würde. Ich dachte an die Menschen in meinen Deutschkursen, die zum Teil in Zeltstädten lebten, an die Kinder, die noch keinen Schulplatz hatten, an die verstopften Autobahnen, den bald wieder verstopften Luftraum, an die Menschen, die schon jetzt verhungerten und an die, die bald nicht mehr in ihren Heimatländern würden leben können.
Ich dachte an Tom, der so viel arbeitete, der glaubte, durch seinen Erfolg ein Recht auf unseren Wohlstand zu haben, der mir jetzt so schamlos vorkam. Ich dachte an unsere Söhne, die bald eigene Apartments in Berlin haben würden, die ebenso fleißig, mit einem selbstverständlichen Machtinteresse ausgestattet waren wie ihr Vater.
Ich dachte an meine Mutter, die so stolz auf ihren Schwiegersohn war und mit ihm und unserer Familie bei ihren Freundinnen angab.
Ich dachte an mich, die ich aus dieser Welt herausgefallen war, nach zweiundzwanzig Jahren traurig, hilflos und beschämt hier saß.
Gestern Abend habe ich meiner Familie gesagt, dass ich nicht mit nach Amerika fliegen werde. Sonst habe ich nichts gesagt. Jan und Henry sahen zunächst einander, dann ihren Vater an. Tom hielt den Blick einen Moment auf den Teller gesenkt, dann schaute er mir ins Gesicht und lächelte.
»Das ist sehr schade, mein Schatz. Ich habe deine Erschöpfung durchaus bemerkt, doch ich wusste nicht, dass es so schlimm ist. Vielleicht sind es wirklich Spätfolgen. Erhol dich, kurier dich aus, geh in die Sauna und schlaf ganz viel, okay?«
Ich nickte und sah die Erleichterung in ihren Gesichtern.