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Spaß gesteuert
Etwas seltsames war mit ihm geschehen.
Immer weiter entfernte er sich von dem schützenden Grün, kam dem ebenmäßigen Boden, über den die Riesen glitten, dafür von Sekunde zu Sekunde näher.
Aber er wollte nicht in diese Richtung. Dort gab es den Tod. Dort hörte alles Hoppeln auf.
Ein lautes Brummen. Schon wieder schoss eines dieser Ungetümer an ihm vorbei. Es war so irritierend. Weshalb hörten seine Hinterläufe nicht mehr auf ihn?
Er bekam Panik. Nur noch wenige Sprünge, und er stand inmitten der gefährlichen Zone.
Sollte es so zuende gehen?
Es war nicht fair.
***
"Boah! Den hats voll erwischt." - Robert riss seinem Freund die Fernsteuerung aus den Händen, und bearbeitete wie wild den Bewegungshebel.
"Der zuckt nichtmals noch", sagte er dann.
Claudio sah ihn zweifelnd an.
"Wundert dich das? Das Vieh ist quer über die Straße gebügelt."
"Ja, schon, aber gestern den konnte ich noch ein paar Minuten lang bewegen, der war nur zur Hälfte im Arsch."
Es ertönte ein Trauermarsch aus den kleinen Lautsprechern der Fernsteuerung. Die beiden Jungs hatten ihn aus dem Internet heruntergeladen, und das Gerät so eingestellt, dass es die Melodie immer dann spielte, wenn ein kontrolliertes Tier nicht mehr lebte, oder außer Reichweite gekommen war.
"Was suchen wir uns jetzt? Wie wärs mit einem Vogel? Bei unseren Nachbarn am Haus ist ein Nest. Wir könnten die Jungtiere abstürzen lassen."
Claudio stieß mit seinem Fuß gelangweilt einen kleinen Stein weg.
"Immer das Gleiche. Vögel, Hasen, Hamster. Das macht keinen Spaß mehr." - Er deutete auf die Fernbedienung.
"Ich dachte, dein Bruder kann die modifizieren. Das hast du schon vor zwei Wochen gesagt."
"Kann er auch. Ich hab´ selbst gesehen, wie er den Hund durch unser Wohnzimmer gejagt hat."
"Ach...du klopfst doch bloß Sprüche."
"Mache ich nicht. Mein Bruder will nur immer eine Gegenleistung für alles. Du kennst ihn doch. Wenn er mir die Steuerung umbaut, dann muss ich zwei Wochen auf meine Schwester aufpassen."
Claudio grinste. - "Na und? Ist doch kein Problem. Dann sperrst du die Bekloppte einfach solange in ihrem Zimmer ein. Die kriegt doch eh´ nichts..."
Ein schwerer Schlag in die Magengrube schnitt Claudio das Wort ab, und ließ ihn wanken.
" Niemand spricht so über Melanie. Auch mein bester Freund nicht. Hast du das verstanden?"
"Alter! Ist ja schon gut. Brauchst´ mir nicht gleich mit so einer Wucht eine zu verpassen.", erwiderte Claudio, während er sich die Hand vor die Stelle hielt, an der Robert ihn getroffen hatte.
"Ich meine ja bloß...so schlimm ist es doch nicht, wenn wir dafür die Ethikbarriere umgehen können. Denk´ mal an diesen Penner im Park, wie der glotzen würde, wenn der plötzlich von seinem eigenen Köter gebissen werden würde."
Robert dachte nach.
"Okay", begann er schließlich, "wenn du mir diese Woche beim Aufpassen hilfst, und mit ihr in die Stadt fährst, dann frage ich ihn. Deal?" - Sein Gegenüber spreizte die Finger zum Veteranengruß, den Claudio bei seinem Vater abgeschaut hatte.
"Ich schwöre. Können Offizierssöhne lügen?"
***
Felix´ Zimmer stellte ein einziges chaotisches Relikt des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts dar.
Auf einem überdimensionalen Poster waren die Türme des World Trade Centers abgebildet, denen sich eines der Flugzeuge näherte, und darunter stand in verschnörkelter Schrift : "Leider können wir noch keine Menschen steuern, um sie von schlimmen Taten abzubringen. Aber ist es nicht toll, den eigenen Hamster auch einmal außerhalb des Laufrads zu sehen, wie er mit der PetCam - tm - auf dem Rücken freizügige Aufnahmen unterhalb des Rockes der heißen Nachbarin macht? I - CONTROL. Dressur war gestern. Selber steuern ist auch ein viel größeres Vergnügen."
Claudio wandte den Blick von dem Poster ab.
"Wo bleibt denn dein Bruderherz?", fragte er dann und zog dabei die Schublade des Schreibtisches auf.
"Bist du verrückt? Mach´ die wieder zu, du dummer Arab-Sympha. Wenn er uns dabei erwischt, wie wir in seinen Sachen rumschnüffeln, dann kannst du die Sache mit dem Penner und dem Köter gleich vergessen."
"Nun bleib mal ganz locker. Wenn eure Kellertreppe knarrt, mach´ ich das Ding ja auch wieder zu. Nun schau´ sich einer das mal an!"
Claudio nahm ein völlig zerstörtes Gerät aus der Schublade.
"Ist das ein Handy? Da sind ja sogar noch Tasten dran. Der Kerl ist echt ein Freak", sagte er und legte es wieder zurück. Dann kramte er weiter. Als er nichts interessantes mehr fand, dem er seine Aufmerksamkeit widmen konnte, schloss er die Schublade.
Robert atmete erleichtert aus. Gelegentlich nervte ihn die Dreistigkeit seines Freundes.
"Er wird sicher gleich hier sein. Er muss noch nach Melanie schauen. Sie hat heute den halben Tag lang rebelliert. Manchmal hockt sie wochenlang bloß rum und reagiert auf niemanden, und dann verwüstet sie plötzlich das ganze Haus. Hoffentlich ist sie nächste Woche ruhiger."
Claudio blickte ernst.
"Das will ich doch hoffen, wenn ich mit ihr in die Stadt fahre. Eines sage ich dir, wenn sie mich blamiert, dann wird das ein verdammt kurzer Ausflug."
"Du hast es versprochen. Erinnerst du dich?"
"Ich habe nicht versprochen, mich zum Narren zu machen. Das können andere besser."
"Du kennst meine Schwester. Du weisst, wie sie ist. Jetzt mach´ ja keinen Rückzieher, du..."
Die Zimmertür wurde aufgerissen und herein stürmte ein ungepflegter Felix, der nicht mehr als eine Jogginghose und ein Unterhemd trug.
"Hab´ ich euch zwei Wüstenhunden erlaubt, mein Zimmer zu betreten?", schrie er.
Robert hob beschwichtigend die Hände, während er ein Stück von seinem zornigen Bruder zurückwich.
"Es tut mir leid. Ich dachte, weil du ja oben noch beschäftigt warst..."
"Oh ja, beschäftigt nennst du das, wenn ich deiner Schwester den Arsch abwische?"
Dann wurde er auf einmal ruhiger, lächelte sogar.
"Aber naja, damit ist für die nächsten vierzehn Tage ja auch Schluss. Ich habe die Sache mit Mama und dem Sir bereits abgeklärt. Also, ihr wollt von mir, dass ich die Ethikbarriere ein wenig umgehe?"
Claudios vom Schreck fahl gewordenes Gesicht füllte sich wieder mit Farbe. Er nickte dümmlich.
"Das wäre toll, wenn du das kannst, Felix."
"Selbstverständlich kann ich das. Alles eine Frage der gesetzlichen Bestimmungen, und der Wege, sie zu umgehen. Von wegen Ethik. Hätten wir anständige Gesetze in diesem Land, dann gäbe es diese scheiss´ Barrieren überhaupt nicht. Gib´ mal her das Teil."
Claudio streckte ihm die Fernbedienung wie einen heiligen Gegenstand entgegen. Zum ersten Mal wurde Robert bewusst, dass sein Freund abhängig war. Für ihn stellte das steuern von Tieren keinen reinen Zeitvertreib dar. Nein, dieser Junge musste kontrollieren. Er brauchte das Gefühl von Macht, und allein aus diesem Grund langweilte er sich. Seine Opfer sollten immer größer und intelligenter werden. In diesem Augenblick ekelte sich Robert vor ihm.
"Die Zielerfassung ist viel zu ungenau, da muss ich basteln, und ich brauche einige Rohplatinen. Moment."
Felix drückte auf eine Taste seines Terminals. Ein durch den Raum tönendes Freizeichen drang aus unsichtbaren Lautsprechern und wurde schließlich von einer rauchigen Stimme abgelöst. Vermutlich die eines Freundes, von dem er sich die unzähligen Kleinstbauteile besorgte, die auf dem fleckigen Teppich des Zimmers ausgebreitet waren, wie Nägel auf einem Fakirbrett.
Während Felix diskutierte, hüpfte Claudio aufgeregt von einem Bein auf das andere. Robert nahm indess die Wände in Augenschein. Er kam selten hier herunter. Er hasste seinen Bruder. So sehr er den Gedanken für gewöhnlich auch verdrängte.
Die Poster vorsintflutlicher Rockbands wechselten sich mit denen ab, die die großen Konzerne zum Motiv hatten. Hauptsächlich ging es hierbei um I-Control, aber auch einige Werbebotschaften der Gen-Industrie waren vertreten. Vom ganzen Stolz der Bundeswehr fehlte dafür jede Spur. Der Sir betrat dieses Zimmer nie, und Robert gestand sich ein, dass ihn zumindest der gemeinsame Hass auf den Vater mit seinem Bruder verband.
"In Ordnung." - Felix legte auf.
"Kommt in zwei Stunden wieder, ihr beiden."
***
Auf dem Weg zur Haustür kam ihnen Roberts Mutter aus der Küche entgegen. Sie sah erstaunt aus.
"Na nu, geht ihr schon?", wollte sie wissen.
"Wir sind nachher wieder da", kam Claudio seinem Freund mit der Antwort zuvor.
"Aber ich habe gerade einen Kuchen in den Ofen geschoben. Das ihr mir davon später aber ja kostet."
Robert verdrehte die Augen.
"Ja Mama, machen wir." - Er öffnete die Tür.
"Ach, übrigens...der Sir fährt heute Nachmittag noch zurück zu seinem Stützpunkt. Es wäre schön, wenn du ihm alles Gute wünschen würdest. Also sei zeitig wieder da."
"Bin ich, Mama."
Draußen schien die Sonne heiss auf die Köpfe der beiden Freunde.
"Und was machen wir jetzt?"
"Keine Ahnung."
"Wir können doch die zwei Stunden über schlecht dasitzen und Däumchen drehen."
Claudio zuckte mit den Schultern.
"Hast du eine bessere Idee?"
Ein Hase lief an ihnen vorbei, und zwei Gören hinterher.
Ohne dem Tier mit ihren Blicken zu folgen, wussten sie, dass sein Ziel die nächste Straße war.
"Dann lass uns zuschauen."
"Okay!"
*** Alles eine Frage des Willens ***
"Mama Mia! Wie ihr Wüstenhunde mich in solch eine Situation bringen konntet."
Felix klammerte sich am Kamin fest.
"Warum mussten wir auch unbedingt aufs´ Dach klettern?" - Claudio suchte nach sicherem Halt. Beiläufig bemerkte er das Vogelnest am Nachbarhaus, aus dem schrilles Gepiepse drang.
"Schnauze! Ihr wolltet eine Modifikation, und ich gebe euch die beste, neueste. Ganz aktuell aus Russland. Hab´ ich selbst noch nicht ausprobiert."
"Also sind wir jetzt deine Versuchskaninchen, oder was?" - Robert hielt sich an den moosbewachsenen Schindeln fest, die aussahen, als würden sie jeden Moment wie Schuppen vom Kopf des Gebäudes fallen.
"Wir können auch gerne zurückklettern."
"Nicht nötig", rief Claudio schnell. Robert hingegen hätte diesen ganzen Mist liebend gerne hingeschmissen. Sein Bruder hatte von seinem unsichtbaren Freund am Telefon ein Forum genannt bekommen, in dem es seinem Wortlaut zufolge um eine ganz spezielle Neuerung ging. Die Fernsteuerung der beiden war angeblich geradezu prädestiniert, um herauszufinden, ob diese tatsächlich funktionierte.
"Ich sags´ euch, es soll sogar bei Menschen ein Kribbeln im Kopf verursachen, so sehr wird die Barriere außer Gefecht gesetzt. Wenn das stimmt, findet ihr mich morgen ersteinmal im Zoo. Wie wäre es mit einem Elefanten, der quer durch die Stadt randaliert?"
Claudio lachte, dann rutschte er ab. Noch ehe Robert begriffen hatte, was gerade geschehen war, stürzte sein Freund vom Dach und blieb starr im Kräutergarten liegen.
"Scheiße!"
"Jetzt dreh´ nicht durch, so tief ist das nicht. Wir müssen bloß an die Antenne. Bloß an die Fernsehantenne. Dann drehe ich sie ein Stück und ihr Signal liefert mir die korrekte Frequenz für die Fernsteuerung."
"Felix, bist du bescheuert? Claudio ist gerade abge..."
"Ich habs!"
Ein Knall ließ sein Trommelfell vibrieren.
Robert fiel nach hinten, und bekam in letzter Sekunde den kitschigen Wetterhahn zu fassen, den er sonst immer so verachtet hatte, jetzt aber per Stoßgebet heilig sprach.
Er zog sich an dem Messinggebilde hoch und warf einen Blick auf die Straße. Die Autos taumelten.
Oder war es sein Gleichgewichtssinn, der nicht richtig funktionierte?
Er sah den Mercedes des Sirs, der sich nach der emotionslosen Verabschiedung auf dem Weg zurück zum Stützpunkt befand. Auch er fuhr Schlangenlinie; dann traf er frontal auf einen anderen Wagen.
Der Hahn riss ab, und Robert folgte dem Sturz seines Freundes.
Inmitten des Falls sah er seinen Bruder, der die abgerissene Antenne in seinen Händen hielt und erstaunt auf selbige blickte.
"Es tut mir leid", rief er.
Robert schlug auf. Ihm wurde schwarz vor Augen. Einst hatte er sich mit Felix gut verstanden. Diese Gewissheit kam genauso plötzlich, wie die Ohnmacht, die von ihm Besitz ergriff.
Einst hatten sie sich gut verstanden, das stimmte.
Aber dann musste irgendein perverser Puppenspieler die Fäden in die Hand genommen haben. Es war zu der Zeit, als es Melanie immer schlechter ging.
Es war zu der Zeit, in der die Antennen installiert worden waren.