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Spock ist tot
Gewidmet dem Menschen, der mich überhaupt auf die Idee gebracht hat, SciFi zu schreiben... selber Schuld!
In der U-Bahn sitzt ein kleiner Junge, er ist ganz allein unterwegs. Seine Haut ist blau, seine Ohren sind spitz. Es ist vier Uhr morgens, außerdem Samstag, deshalb erregt das Kind einige Aufmerksamkeit. Vielleicht liegt es auch an seinem außergewöhnlichen Äußeren, wer weiß?
Besonders eine Gruppe dunkelhäutiger Jugendlicher scheint das Kind interessant zu finden. Sie sitzen dem Jungen schräg gegenüber. Einer der Jugendlichen, der wohl der Anführer ist, beugt sich immer wieder über den Gang und glotzt ihn an. Das scheint lustig zu sein, denn alle anderen lachen.
Xzhresh sitzt in der U-Bahn und guckt aus dem Fenster, als seine Gedankengänge jäh gestört werden. Er blickt den Menschen an, der ihn angesprochen hat.
„Bist du einer von Raumschiff Enterprise?“, fragt der Mensch. Er riecht nicht gut. „Mister… Mis.. Mister S… Spock?“ Die zwei Männchen, die sein Rudel bilden, brechen in grölendes Gelächter aus.
Dabei weiß der Mensch gar nicht, wie nahe er der Wahrheit kommt. Xzhresh dreht den Kopf und guckt ihn an.
Der Mensch hat zwei Namen, übermittelt das Gehirnimplantat dem Arcraner - einer ist Ali, einen kann der Arcraner nicht aussprechen. Er ist neunzehn Erdenjahre alt, ist zweieinhalb Standard-Maßeinheiten groß, wiegt siebzig Kerfts. Die Konzentration von Ethanol und Testosteron in seinem Blut weicht von den Normwerten ab. Sein Fell ist schwarz und mit Chemikalien verklebt. Der Arcraner denkt, dass der Mensch sich dringend waschen sollte. Seine Leber ist massiv angegriffen, außerdem sind viele Lungenbläschen abgestorben.
Als die U-Bahn hält, schwankt der Mensch und hält sich an der Lehne fest. Xzhresh beobachtet ihn interessiert.
Kurz bevor sich die Türen schließen, wankt ein weiterer Mensch herein. Er hält eine Zigarette in der Hand. Nach einem kurzen Blick stellt Xzhresh fest, dass die Zigarette THChaltig ist.
„Hey, Alter, hast du Gras?“, fragt der Ali-Mensch. Das versteht der Arcraner nicht. Was meint der Mensch? Er ruft rasch ein paar Daten über Gras ab und findet heraus, dass es sich dabei um chlorophyllhaltige Wiesenpflanzen handelt, die von der Spezies Mensch nicht verdaut werden kann.
Der Neuankömmling nickt. Er heißt Ulli, sagt das Implantat, ist zweieinachtel Standardmaßeinheiten groß, wiegt zweiundachtzig Kerfts, sein Fell verbirgt er unter einer schreiend bunten Kopfbedeckung und auch in seinem Blut befindet sich mehr Ethanol als es sollte. Auch er hat Leberschäden, seine Lunge ist wesentlich angegriffener als die des Ali-Menschen, in seinem Bindegewebe ist überproportional viel Fett eingelagert. Seine Hose und seine Jacke sind aus einem Material, das Xzhresh im ersten Moment für die Haut eines Artgenossen hält. Der Arcraner ist fasziniert - wie barbarisch!
Dann aber fokussiert sich der Scanner und zeigt eine genauere Analyse des Materials. Xzhresh startet eine Anfrage, von welcher Spezies das Material stammt.
Die Tierart heißt "Kalb". Sie ist klein, hat große Augen und macht Geräusche, die ein bisschen so klingen wie das Aufdröhnen von Antriebsdüsen. Die kann Gras übrigens verdauen, weil sie vier Mägen hat. Sind Ali und Ulli Kühe? Er vergleicht kurz, kann aber keine Ähnlichkeit feststellen. Na gut, vielleicht ein bisschen...
Der Bordcomputer der Transportkapsel bietet Querverweise zum Thema "Massentierhaltung". Der Arcraner schaut nach.
Der Empathische Rat verbietet es, empfindungsfähige Lebewesen zu töten, außer natürlich, sie sind gefährlich für andere, aber das scheint die Spezies Kalb nicht zu sein. Warum also "Massentierhaltung"? Hat vor vielen Jahren einmal ein Massaker an den Menschen stattgefunden, sodass die Nachkommen der Täter dafür heute noch bezahlen müssen? Er schickt ein Memo an seinen Bordcomputer, der soll ihn daran erinnern.
„Awwa ich wakaww ni... nix", sagt er. Xzhresh braucht eine Weile, bis er verstanden hat, dass der Mann keinen seltsamen Dialekt redet. Es ist nur so, dass seine Zunge bei zweieinhalb Promille nicht mehr so recht funktionieren will. Ulli wedelt mit seiner Zigarette, und der Blick des Arcraners fällt auf das große Schild über der Tür, auf dem ebenjenes Suchtmittel, das der Ulli-Mensch in der Hand hält, mit einem roten Kreis drumherum abgebildet ist. Sie ist mit einem roten Balken versehen. Ein paar Nanosekunden lang philosophiert er über die Bedeutung, gibt dann aber auf. Vielleicht ist das eine andere Zigaretten-Spezies?
„Gib ma’ die…“, sagt Ali, greift nach der Zigarette und inhaliert den Rauch. Xzhresh versteht den Zusammenhang zwischen dem Wort, das Ali benutzt hat - sein Universalübersetzer hat es mit „ein Behälter, um Einkäufe nach Hause zu transportieren" – und der Zigarette nicht, sieht aber interessiert zu.
Das Tetrahydrocannabinol setzt sich an Alis Neurorezeptoren fest. Ein weiterer Zug bindet den Suchtstoff im Fettgewebe des Mannes. Wie es aussieht, gibt es hier wirklich kein intelligentes Leben. In seinen Unterlagen, die der Empathische Rat ihm mitgegeben hat, hat er gelesen, dass in einem öffentlichen Verkehrsmittel der repräsentativste Querschnitt durch die Bevölkerung zu finden sei. Natürlich nicht so, wie es zu Hause ist, nein, wer kann solche Perfektion, solche Harmonie wie dort schon von einer unterentwickelten Zivilisation - ist das überhaupt eine Zivilisation? - erwarten, aber... Sind die paar Figuren da repräsentativ für die Menschheit? Dann ist wirklich nichts mehr zu retten.
Hallo Ulli, wie geht es dir?, fragt Xzhresh und erwartet nicht wirklich eine Antwort.
Der Ulli-Mensch blickt zu dem Arcraner. „Na, mein Kleiner, warum bissu denn so blau?“ Er lacht. „Is’ aber ne dumme Frage… bin auch blau. Oh, deine Oh… Ohren, die sinja hübsch. Bissu Mister Spock?“
Xzhresh will jetzt wissen, wer Mister Spock ist. Sein Kortikalimplantat schickt eine Suchanfrage an den Bordcomputer seiner Transporteinheit, nur wenige Blimbs später ist die Antwort da. Mister Spock ist ein so genannter Vulkanier, ein Protagonist einer altertümlichen Wissenschafts-Erfindungs-Serie, die im „Fernsehen“ – eine primitive Vorstufe des mehypotanischen Herequadrons, was auch immer das ist – gezeigt wurde. Er schickt ein Memo an den Computer, damit der ihn daran erinnert, das Ganze nochmal zu recherchieren.
Mister Spock lebt unter dem Decknamen "Leonard Nimoy" auf der Erde, ist am 26. März 1936 in Massachusetts, Amerika, geboren, Status "verheiratet" und lebend, ein Junges. Verheiratet bedeutet, sich im heiligen Stand der Ehe zu befinden. Informationen über seine Größe, sein Gewicht und seinen Gesundheitszustand findet Xzhresh keine, das bedauert er, denn die Biodaten eines Vulkaniers haben sie zu Hause noch nicht. Vulkanier können Gedanken lesen und empathische Impulse empfangen. Der Arcraner kodiert eine Botschaft und schickt sie gezielt nach Massachusetts, Amerika, denn wenn hier ein Vulkanier lebt, hat er dem Empathischen Rat vielleicht doch noch etwas Positives zu berichten.
Das Einzige, was Xzhresh mit Mister Spock gemeinsam hat, sind die spitzen Ohren – und als aus Amerika, Massachusetts, keine Rückmeldung kommt, beschließt er, den Menschen noch eine letzte Chance zu geben. Spock ist wohl schon tot, wahrscheinlich haben die dauernden Gehirnwellen der primitiven Lebensformen hier sein Gehirn aufgelöst. Xzhresh fühlt leichte Kopfschmerzen.
„Ich bin euer Gewissen“, sagt er leise. Der Universalübersetzer tut seine Aufgabe, und die vier Mitreisenden sehen ihn groß an. Ulli fällt die Einkaufstüte aus der Hand.
„Du bist doch gar kein Gewissen“, lallt Alis einer Begleiter – er heißt Benny, seine biologischen Daten interessieren Xzhresh nicht, sie werden ja doch ähnlich katastrophal ausfallen wie bei den anderen. „Du bist nur ein blaues Kind!“
“Hast du schon einmal ein blaues Kind gesehen?“, fragt der Arcraner. „Ich bin euer Gewissen, und ich bin hier, weil ich euch eine Frage stellen möchte.“ Er will die Vernunft der Terraner testen, denn wenn die wenigstens rudimentär vorhanden ist, kann man diesen Planeten noch ein oder zwei Jahrtausende beobachten und hoffen, dass sie Intelligenz entwickeln. Vom Planeten runter kommen sie so oder so nicht.
"Meint ihr nicht, ihr solltet gesünder leben?"
Der Ali-Mensch hebt die Einkaufstüte wieder auf und zieht daran. Ein kleines Feuerwerk aus Elektroimpulsen geht durch sein vegetatives Nervensystem und scheitert am THC, das seine Neurorezeptoren verstopft. „Ich leb’ gesund genug“, faselt er.
Xzhresh steigt aus. Wasser fällt in seinem kristallinen Aggregatzustand vom Himmel und schwebt in sanften Flocken dem Boden entgegen, wo es von der verbleibenden Erdwärme in Tropfen verwandelt wird. Es sind nur wenige Schritte bis zum Naturschutzgebiet, wo er seine Transportkapsel versteckt hat.
Terra ist ein wunderschöner Planet. Natürlich wild und ungezähmt, nicht so wie zu Hause, aber - hier ließe es sich aushalten. Allein diese Artenvielfalt... Er macht einen raschen Scan und findet einige versteckte Eier der Spezies Zecke. Sie überträgt Frühsommermeningoenzephalitis - eine Krankheit, die die Hirnhaut anschwellen lässt, und... so etwas wäre zu Hause längst ausgerottet. Nichts wie weg hier!
So richtig zufrieden ist der Arcraner nicht. Der Empathische Rat hat ihn hergeschickt, um die Gerüchte zu überprüfen, dass es im Sonnensystem intelligentes Leben geben soll. Nach der Definition des Empathischen Rates natürlich: Intelligentes Leben ist rücksichtsvoll zu Schwächeren, wie zum Beispiel Kindern, tolerant gegenüber Andersartigen, wie zum Beispiel Mitgliedern der eigenen Spezies, die biologischer Mutation unterworfen sind. Außerdem ist es in der Lage, die Gedankenimpulse aufzufangen, die von anderen hochentwickelten Lebensformen gesendet werden. Und das kann niemand, nicht einmal Leonard Nimoy. Er hat nichts gefunden.
Xzhresh drückt den Schalter, der den Holoprojektor deaktiviert. Anstelle des blauen Kindes steht jetzt ein violetter Riesenseestern neben der Transportkapsel und steigt elegant hinein.
Die Erde ist ein wunderschöner Planet. Schade nur, dass es hier niemanden gibt, der das zu schätzen weiß. Außer der Spezies Kalb vielleicht, die schläft sogar unter freiem Himmel...
"Du wolltest noch den Begriff "mehypotanisches Herequadron" und die Vergangenheit der Spezies Kalb recherchieren", erinnert der Computer ihn, aber er hat keine Lust und löscht die Ansage.
"Kein intelligentes Leben auf dem dritten Planeten", sendet er nach Hause und fliegt weiter, um einen Blick auf den Mars zu werfen. Ja, der sieht schon viel besser aus...