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Störenfried

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21.03.2005
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Störenfried

"Geh weg", sagte sie. "Geh weg und dreh dich nicht nach mir um."

Sie stand am Fenster und schaute hinaus. Es regnete.
Sie mochte den Regen. Danach war die Welt wie frisch gewaschen. Sie mochte es auch, im Regen zu gehen. Ohne Kapuze und ohne Schirm. Das wusch ihre Gedanken sauber. So viele Tropfen. Für jeden Gedanken einen. Mindestens. Anderen Menschen gefiel es nicht, im Regen zu gehen. Ohne Kapuze und ohne Schirm. Sie scheuten die frisch gewaschenen Gedanken.

Sie hörte, wie er sich vorbeugte. Hörte das hässliche Geräusch, das das helle Leder des Sessels bei jeder Bewegung machte. Er stellte das Glas auf dem Tisch ab. Rotwein, schwer und dunkel und trocken. Wie immer. Beim Wein waren sie sich immer einig gewesen.
Er stand auf. Sie hörte, wie er sich im Raum bewegte. Einen Augenblick war es nur das Geräusch von Bewegungen. Sie konnte nicht heraushören, was er tat. Dann hörte sie Schritte, die in ihre Richtung gingen. Vor ihrem geistigen Auge konnte sie seine Bewegungen sehen. Die Anmut seines Körpers, die Eleganz seines Blickes. Gleich würde er ihr die Hand auf die Schulter legen, ihr Haar zur Seite streichen. Und sie würde seinen Körper an ihrem Rücken spüren. Seinen Atem in ihrem Nacken. Dabei spürte sie immer ein Kribbeln in der Körpermitte. Sie mochte es, wenn er so dicht hinter ihr stand. Früher.

Ein Eichelhäher hüpfte im Geäst des Obstbaumes herum, der vor ihrem Fenster stand. Er schimpfte in irgendeine Richtung, um irgendeinen Störenfried zu verjagen. In Wirklichkeit schimpfte er mit ihr. Er ermahnte sie, nicht schwach zu werden. Um ihr Rückgrat zu kämpfen. Wenn man so wollte, erhob der Eichelhäher seinen Zeigefinger. Wenn er einen gehabt hätte.
Sie verstand den Fingerzeig – auch ohne Finger. Wußte, dass weit mehr auf dem Spiel stand, als ihr Rückgrat. Wenn sie heute schwach würde, dann verlöre sie Würde und Selbstachtung – soviel stand fest.

Sie drehte sich zu ihm um. Er hatte den Raum schon zur Hälfte durchquert und sah sie an. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie hob die Hand und er verstummte. Seine dunklen Augen musterten sie. Verletzt, ängstlich, erwartungsvoll.
Sein Blick hatte immer eine besondere Wirkung auf sie gehabt. Seine Augen waren so wach, glasklar. Man sah ihnen seine Intelligenz an. Und sie hatte sich selber so oft in seinen Augen wiedergefunden. Sie liebte sein Gesicht. Diese ausdrucksstarke Schädelstruktur, die harten Konturen. Den Schwung seiner Augenbrauen und seine Stupsnase, die so gar nicht zu dem kantigen Rest seines Gesichts passen wollte. Das Grübchen im Kinn, das sie unzählige Male mit dem Finger umkreist hatte. Umzingelt hatte sie es. Über diesen Witz hatten sie immer wieder gelacht. Ein Gesicht, das man atmen wollte. Und sie hatte es oft getan. Hatte es geatmet, getrunken, geküsst, gestreichelt. Hatte sich in ihm verloren. Willig, ohne Gegenwehr.

Wie sie sich jetzt gegenüberstanden und einander schweigend ansahen, spürte sie den Drang, sein Gesicht in die Hände zu nehmen und seine Lippen zu küssen. Sich einfach in seine Arme und in seinen Mund fallenzulassen wie sie es schon so oft getan hatte. Sie drehte sich wieder zum Fenster.

"Geh weg. Geh weg von mir. Raus aus mir. Du hast hier nichts verloren. Du hast mir nichts mehr zu geben. Und ich dir auch nicht. Du hast schon alles von mir. Geh einfach und laß mich über dich hinwegkommen."
Sie sagte es ruhig, ohne Gefühl. Sie hatten dieses Gespräch schon oft geführt. Zu oft.
Sie war müde. So müde. Jedes Mal, wenn sie sich befreien wollte, klebten seine Sehnsucht und Liebe an ihr wie Honig. Und sie gab sich dieser Sehnsucht, die auch ihre eigene war, hin. Schmolz unter seinen Küssen und Händen wie Butter in der Sonne. Genoss seinen Körper, der so viel größer und breiter war als ihr eigener. Lehnte sich einfach an ihn an, wenn er wie jetzt hinter ihr stand. Ergab sich seiner beinahe rücksichtslosen Lust, seinen bedingungslosen Küssen. Ließ sich lieben und vernichten. Unzählige Male hatte sie seinem kindlichen Drängen, seiner egoistischen Liebe nicht widerstehen können.
So oft hatte sie dem Kribbeln nachgegeben, wenn er hinter ihr stand. Und jedes Mal, wenn er wieder ging, nahm er einen Teil ihres Selbst mit sich. Und jedes Mal wusste sie, dass sie diesen Teil nie wieder sehen würde.

Aber nicht heute.
Sie war entschlossen aufgewacht nach einer Nacht ohne Albträume. Es war ihr klar, dass sie es beenden musste. Es war von Anfang an klar gewesen. Sie war weiter gegangen, als sie je beabsichtigt hatte zu gehen. Jeden Tag war es ein wenig schwerer geworden, das Ende zu planen. Als sie es das erste Mal ausgesprochen hatte, war sie beinahe dankbar gewesen, als er sich hinter sie gestellt und mit seinen Lippen die Gedanken weggewischt hatte, die sie im Begriff gewesen war zu formulieren. Aber die Dankbarkeit wich der Müdigkeit. Es war wie ein immer wiederkehrendes Spiel. Sie war der Stichwortgeber und er reagierte, wie es das Drehbuch vorschrieb. Beide hingen sie am Tropf des Anderen.
Das nahm ihr Kraft. Von Mal zu Mal fiel es ihr schwerer, die Worte auszusprechen. Sie war des Spiels so müde. Ihre Versuche, die Bindung zwischen ihnen aufzulösen, wurden immer kraftloser. Von Mal zu Mal wurde der Beigeschmack nach der Lust schaler. Absurde Szenen spielten sich ab. Wenn sie im Bett lagen, nass und erschöpft von der zehrenden, körperlichen Liebe, dann trennte sie eine unsichtbare Wand. Er befand sich auf einer Seite der Wand mit dem Gedanken, dass für den Moment alles gut sei. Sie auf der anderen Seite mit dem Bewusstsein, versagt zu haben.

Aber nicht heute.

Es regnete noch immer.
"Ich liebe dich, das weißt du." Seine Stimme klang hilflos. Sie schloß die Augen. Der Satz traf sie im Innersten. Wie immer. Er war so schwach. Auch wie immer. Also musste sie stark genug für sie beide sein. Sie kämpfte das Gefühl der Verzweiflung nieder. Sie liebte ihn so sehr.
"Es ist nicht mehr wichtig, was du fühlst. Geh einfach. Bitte." Als sie ihre eigenen Worte hörte, fühlte es sich an, an hätte ihr jemand mit der Faust in die Magengrube geschlagen.

Später am Abend – die Tür war schon längst hinter ihm ins Schloss gefallen – stand sie noch immer am Fenster.
Der Eichelhäher war nicht mehr da. Er saß wahrscheinlich zufrieden auf seinem Nest, weil er den Störenfried verjagt hatte.

 

Eine sehr schöne, gefühlvolle Geschichte.
Vielleicht finde ich sie so schön, weil sie gerade meine Situation wiederspiegelt. Du hast es genau getroffen.

LG
Pebbles

 

Hey pebbles,

es freut mich, dass Du Dich wiederfinden kannst in den Worten.
Für Deine Situation wünsche ich Dir Kraft.

M.

 

Liebe Der Weg,

du hast das Hin und Her sehr schön in Worte gefaßt, den Schmerz, den Zwiespalt. Die Geschichte gibt wenig Hintergrundinfos und es stört mich aber nicht. Jeder kann sich ja selber seinen Teil dazu denken, wieso, weshalb und warum.
Hat mir sehr gut gefallen :).

Zum Text:

"Geh weg und dreh Dich nicht nach mir um."

dich - es ist keine direkte Anrede wie zb in einem Brief

Sie hörte, wie er sich vorbeugte.
Komma

Sie hörte, wie er sich im Raum bewegte.
Komma

die Eleganz seines Blickes.
kann ein Blick elegant sein?


Sie war weiter gegangen, als sie je beabsichtigt hatte zu gehen.
Komma

Sie war der Stichwortgeber und er reagierte, wie es das Drehbuch vorschrieb.
Komma

"Ich liebe Dich, das weißt Du."

du s.o.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Bernadette,

danke für die Korrekturen, habe sie gleich eingebaut.
Schön, dass Dir die Geschichte gefallen hat.

Gruß,
M.

 

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