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Stück für Stück
Es war das Gesicht eines ihr Unbekannten. Dieses Gesicht, der Kopf, der ganze Mann lag neben ihr, warm und nackt und sah sie an.
Dieser Blick voll träger Sanftheit gefiel Julia, schon als sie Bryan gestern traf. Im Pub, wo sie mit einem Bekannten war, den sie hier in London besuchte.
Für sie war Bryan ein Fremder, aber er war so leise, so behutsam, voller Vorsicht, das gefiel ihr. Als er beim Gehen nach ihrer Handynummer fragte, gab sie sie ihm, ganz selbstverständlich, als ob es unausgesprochen schon vorher vereinbart war.
Bryan legte einen Arm um sie, küsste sie auf die Nase, genau auf den kleinen Höcker in der Mitte, der sie auch als junge Frau noch so gestört hat, dann auf die Lippen. Leicht und lange. Ihre Lippen waren magnetisch. Je näher sie einander kamen, desto stärker zogen sie sich an.
Er griff ihr in den Nacken, strich mit der anderen Hand die Ponyfransen aus ihrem Gesicht. Sie fand ihre Haare strohig, von undefinierbarer Farbe und ihre Frisur sah nie so aus, wie bei den Frauen in den Hochglanzmagazinen. Er hingegen sah ihr Haar an, als wäre es aus purem Gold. Als hätte er nie etwas Schöneres gesehen. Zumindest las sie das in seinen Augen, die immer noch auf ihrem Gesicht ruhten, so, als wolle er ihre Gesichtszüge auswendig lernen.
„Ich habe Herzklopfen“, Julia schaute ihm tief in die Augen, „ich weiß nicht, woher das kommt, ich kenne das so nicht.“ Sie betrachtete ihn weiter und wünschte sich fast, es wäre die Wahrheit. Es war ja nicht direkt eine Lüge. Ihr Herz schlug schneller als gewöhnlich, aber bis vor drei Minuten hatten sie schließlich auch noch Sex.
Dieser Mann, nach dem sie sich auf der Straße sicherlich nicht umgedreht, ja, den sie wahrscheinlich nicht einmal wahrgenommen hätte, der es liebte Fußball, Formel 1 und Tennis anzusehen, ein goldenes Kreuz um den Hals trug, als kaufmännischer Angestellter arbeitete und dessen Augenfarbe sie morgen wieder vergessen haben würde. Er war ruhig und zärtlich, und als er den Porno versteckte, der auf seinem Schreibtisch lag, tat sie so, als hätte sie es nicht bemerkt.
Als sie sich küssten, wurde er zu jemand anderem. Zu jemandem, der nur auf sie gewartet hatte, in dessen Liebesleben sie das absolute Glanzlicht war, der noch seinen Enkelkindern von der schönen Fremden erzählen würde, die er für eine Nacht und den Rest seines Lebens geliebt hatte.
Der Film, den sie als Alibi angemacht hatten, verschwand aus ihrer Wahrnehmung. Ihr Gehirn - nur ein grauer Klumpen Masse ohne Nutzen. Sie küssten sich Stunden und jetzt lagen sie nebeneinander im Bett und spielten “Was-wäre-wenn“.
„Ich möchte übermorgen nicht wieder nach Deutschland fahren“, flüsterte sie.
„Ich will auch nicht, dass du fährst“, erwiderte Bryan. „Du bist so wundervoll!“
„Ich? Nein, du! Du bist unglaublich.“
In diesem Moment schienen sie die einsamen Seelen zu sein, die sich endlich gefunden hatten. Sie gaben vor, sich verliebt anzusehen. Sie hatten kein schlechtes Gewissen, weil sie wussten, dass sie nur diese eine Nacht hatten. Die Illusion würde einer weiteren Nacht nicht standhalten.
Julia schloss die Augen und dachte an den Mann, der sie so zerbrochen zurück ließ, dass sie lange nicht mehr in der Lage war, sich wieder auf einen anderen Menschen einzulassen.
Sie konnte seinen Atem spüren, der ihr kitzelnd ins Ohr kroch, seine Fingerspitzen, die ihren Rücken hinuntertänzelten, seine Lippen, die ihre Schulter streiften. Immer, wenn sie so wie jetzt den Atem anhielt und blinzelte, hatte sie das Gefühl ihn für ein paar Sekunden fast sehen zu können. Wie ein Hologramm waberte seine Beinaheanwesenheit vor ihren Augen, bis sich die Luft zusammenzog und alles seine alte Konsistenz annahm. Die physikalischen Gesetze, scheinbar kurz außer Kraft gesetzt, zuckten zusammen, als fühlten sie sich ertappt und fügten sich sofort wieder anstandslos in ihr starres Korsett.
Neben ihr lag immer noch nur Bryan.
Alle Poren ihres Körpers verschlossen sich damals vor Trauer über Toms Tod, so dass sie wie in einem zu engen Kokon zu ersticken drohte und keine einzige Träne weinte. Sie hasste alles an sich, weil er alles besessen hatte.
Ihre Haare hätten ebenso gut ausfallen können, als seine Finger nicht mehr hindurch glitten. Alle ihre Körpersäfte versiegen, sollten sie doch nie mehr für ihn fließen. Ihr gesamter Körper schien nur durch seine Gegenwart ein zusammengehöriges Ganzes ergeben zu haben. Als Tom starb, hätte diese unbrauchbar gewordene Maschine, die nur noch automatisch atmete, verdaute und ab und zu in einen erschöpften, rastlosen Schlaf fiel, auch in seine unbrauchbar gewordenen Einzelteile zerfallen können. Hier ein Ohr, sie brauchte es nicht mehr, wo es seine Stimme nie mehr hören würde. Die Nase, die ihn nie wieder riechen, die Zunge, die seine nicht mehr umschlingen, ihr Geschlecht, welches seines nicht mehr in sich aufnehmen würde.
Ihre Gebärmutter schmerzte damals monatelang, als wolle sie Julia an die Kinder erinnern, die sie niemals von Tom empfangen würde. Wie von einem Phantomschmerz wurde sie durch diese Amputation der Möglichkeiten gequält.
Jetzt streifte sie zärtlich mit dem Handrücken über Bryans Gesicht, er küsste ihre Hand, als sie damit seinen Mund streifte. Drei Jahre hatte es gedauert, aber jetzt baute sie sich wieder Stück für Stück zusammen. Jeder Mann gab ihr etwas zurück. Einen Teil ihres Körpers, der trotzdem nie wieder der alte sein würde.
„Wirst du mich besuchen kommen?“, murmelte Bryan an ihrem Hals.
Sie schaute über seine Schulter auf den Druck von Miro, der auch bei ihrem Zahnarzt in der Praxis hing und lächelte.