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Stück für Stück

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23.10.2006
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Stück für Stück

Es war das Gesicht eines ihr Unbekannten. Dieses Gesicht, der Kopf, der ganze Mann lag neben ihr, warm und nackt und sah sie an.

Dieser Blick voll träger Sanftheit gefiel Julia, schon als sie Bryan gestern traf. Im Pub, wo sie mit einem Bekannten war, den sie hier in London besuchte.
Für sie war Bryan ein Fremder, aber er war so leise, so behutsam, voller Vorsicht, das gefiel ihr. Als er beim Gehen nach ihrer Handynummer fragte, gab sie sie ihm, ganz selbstverständlich, als ob es unausgesprochen schon vorher vereinbart war.

Bryan legte einen Arm um sie, küsste sie auf die Nase, genau auf den kleinen Höcker in der Mitte, der sie auch als junge Frau noch so gestört hat, dann auf die Lippen. Leicht und lange. Ihre Lippen waren magnetisch. Je näher sie einander kamen, desto stärker zogen sie sich an.
Er griff ihr in den Nacken, strich mit der anderen Hand die Ponyfransen aus ihrem Gesicht. Sie fand ihre Haare strohig, von undefinierbarer Farbe und ihre Frisur sah nie so aus, wie bei den Frauen in den Hochglanzmagazinen. Er hingegen sah ihr Haar an, als wäre es aus purem Gold. Als hätte er nie etwas Schöneres gesehen. Zumindest las sie das in seinen Augen, die immer noch auf ihrem Gesicht ruhten, so, als wolle er ihre Gesichtszüge auswendig lernen.

„Ich habe Herzklopfen“, Julia schaute ihm tief in die Augen, „ich weiß nicht, woher das kommt, ich kenne das so nicht.“ Sie betrachtete ihn weiter und wünschte sich fast, es wäre die Wahrheit. Es war ja nicht direkt eine Lüge. Ihr Herz schlug schneller als gewöhnlich, aber bis vor drei Minuten hatten sie schließlich auch noch Sex.
Dieser Mann, nach dem sie sich auf der Straße sicherlich nicht umgedreht, ja, den sie wahrscheinlich nicht einmal wahrgenommen hätte, der es liebte Fußball, Formel 1 und Tennis anzusehen, ein goldenes Kreuz um den Hals trug, als kaufmännischer Angestellter arbeitete und dessen Augenfarbe sie morgen wieder vergessen haben würde. Er war ruhig und zärtlich, und als er den Porno versteckte, der auf seinem Schreibtisch lag, tat sie so, als hätte sie es nicht bemerkt.
Als sie sich küssten, wurde er zu jemand anderem. Zu jemandem, der nur auf sie gewartet hatte, in dessen Liebesleben sie das absolute Glanzlicht war, der noch seinen Enkelkindern von der schönen Fremden erzählen würde, die er für eine Nacht und den Rest seines Lebens geliebt hatte.

Der Film, den sie als Alibi angemacht hatten, verschwand aus ihrer Wahrnehmung. Ihr Gehirn - nur ein grauer Klumpen Masse ohne Nutzen. Sie küssten sich Stunden und jetzt lagen sie nebeneinander im Bett und spielten “Was-wäre-wenn“.
„Ich möchte übermorgen nicht wieder nach Deutschland fahren“, flüsterte sie.
„Ich will auch nicht, dass du fährst“, erwiderte Bryan. „Du bist so wundervoll!“
„Ich? Nein, du! Du bist unglaublich.“

In diesem Moment schienen sie die einsamen Seelen zu sein, die sich endlich gefunden hatten. Sie gaben vor, sich verliebt anzusehen. Sie hatten kein schlechtes Gewissen, weil sie wussten, dass sie nur diese eine Nacht hatten. Die Illusion würde einer weiteren Nacht nicht standhalten.

Julia schloss die Augen und dachte an den Mann, der sie so zerbrochen zurück ließ, dass sie lange nicht mehr in der Lage war, sich wieder auf einen anderen Menschen einzulassen.
Sie konnte seinen Atem spüren, der ihr kitzelnd ins Ohr kroch, seine Fingerspitzen, die ihren Rücken hinuntertänzelten, seine Lippen, die ihre Schulter streiften. Immer, wenn sie so wie jetzt den Atem anhielt und blinzelte, hatte sie das Gefühl ihn für ein paar Sekunden fast sehen zu können. Wie ein Hologramm waberte seine Beinaheanwesenheit vor ihren Augen, bis sich die Luft zusammenzog und alles seine alte Konsistenz annahm. Die physikalischen Gesetze, scheinbar kurz außer Kraft gesetzt, zuckten zusammen, als fühlten sie sich ertappt und fügten sich sofort wieder anstandslos in ihr starres Korsett.
Neben ihr lag immer noch nur Bryan.

Alle Poren ihres Körpers verschlossen sich damals vor Trauer über Toms Tod, so dass sie wie in einem zu engen Kokon zu ersticken drohte und keine einzige Träne weinte. Sie hasste alles an sich, weil er alles besessen hatte.
Ihre Haare hätten ebenso gut ausfallen können, als seine Finger nicht mehr hindurch glitten. Alle ihre Körpersäfte versiegen, sollten sie doch nie mehr für ihn fließen. Ihr gesamter Körper schien nur durch seine Gegenwart ein zusammengehöriges Ganzes ergeben zu haben. Als Tom starb, hätte diese unbrauchbar gewordene Maschine, die nur noch automatisch atmete, verdaute und ab und zu in einen erschöpften, rastlosen Schlaf fiel, auch in seine unbrauchbar gewordenen Einzelteile zerfallen können. Hier ein Ohr, sie brauchte es nicht mehr, wo es seine Stimme nie mehr hören würde. Die Nase, die ihn nie wieder riechen, die Zunge, die seine nicht mehr umschlingen, ihr Geschlecht, welches seines nicht mehr in sich aufnehmen würde.
Ihre Gebärmutter schmerzte damals monatelang, als wolle sie Julia an die Kinder erinnern, die sie niemals von Tom empfangen würde. Wie von einem Phantomschmerz wurde sie durch diese Amputation der Möglichkeiten gequält.

Jetzt streifte sie zärtlich mit dem Handrücken über Bryans Gesicht, er küsste ihre Hand, als sie damit seinen Mund streifte. Drei Jahre hatte es gedauert, aber jetzt baute sie sich wieder Stück für Stück zusammen. Jeder Mann gab ihr etwas zurück. Einen Teil ihres Körpers, der trotzdem nie wieder der alte sein würde.

„Wirst du mich besuchen kommen?“, murmelte Bryan an ihrem Hals.
Sie schaute über seine Schulter auf den Druck von Miro, der auch bei ihrem Zahnarzt in der Praxis hing und lächelte.

 
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Dieser Blick voll träger Sanftheit hat Julia gefallen, schon als sie Bryan gestern traf. Im Pub, wo sie mit einem Bekannten war, den sie hier in London besuchte.
Für sie war Bryan ein Fremder, aber er war so leise, so behutsam, voller Vorsicht, das gefiel ihr. Als er beim Gehen nach ihrer Handynummer fragte, gab sie sie ihm, ganz selbstverständlich, als ob es unausgesprochen schon vorher vereinbart gewesen war.
Es ist sehr kleinlich gepfiffen, aber wenn das Erzähltempus Präsens ist, dann gehört die Vergangenheit ins Perfekt, nicht ins Präteritum.
Es liest sich irgendwie schräg mit diesen Wechseln, eben weil das Grund-Erzähltempus bei den meisten Texten aus der dritten Person Präteritum ist. Und man sich an diese Schriftbilder, an diesen Rhythmus, gewöhnt hat - damit zu brechen ist immer schwierig.
Das ist aber nur mein persönlicher Geschmack, für mich geht Präsens nur in Ich-Erzählungen, sonst stört es mich immer ein wenig.

Sie tun so, als würden sie sich verliebt ansehen. Sie tun es ohne schlechtes Gewissen,
Auch wenn es wahrscheinlich gewollt ist, diese „tun so, als ob“-Formulierung ist jetzt nicht gerade ein Glanzlicht der deutschen Sprache und die Wortwiederholung legt ein zusätzliches Augenmerk darauf.

Julia schließt die Augen und denkt an den Mann, der sie so zerbrochen zurück gelassen hatte, dass sie lange nicht mehr in der Lage war, sich wieder auf einen anderen Menschen einzulassen.
Ich kann mich mit den Zeiten nicht anfreunden, ich kann auch nur wild spekulieren, wie es richtig heißen müsste , aber so geht es nicht: denn "zurück gelassen hatte" ist PPQ und "in der Lage war" ist Präteritum. Das muss zumindest angeglichen werden.

Wenn sie jetzt den Atem anhält und blinzelt, hat sie das Gefühl ihn für ein paar Sekunden fast sehen zu können.
Sie tut es doch aber, es wird ja in die Tat umgesetzt, dann passt der „Wenn“-Satz nicht. Oder ist damit gemeint: IMMER wenn sie blinzelt und den Atem anhält, sieht sie ihn.

Wie ein Hologramm wabert seine Beinaheanwesenheit vor ihren Augen, bis sich die Luft zusammenzieht und alles seine alte Konsistenz annimmt.
Das ist ein wunderschöner Satz.

Ihr Herz stehen bleiben, als es seines nicht mehr spürte.
Hier verlierst du mich. Den Satz find ich furchtbar kitschig. Und er fällt auch stark ab zu dem orginelleren Satz mit den ausfallenden Haaren.

Sie schaut über seine Schulter auf den Miro-Druck, der auch bei ihrem Zahnarzt in der Praxis hängt und lächelt.
Das ist toll. Diesen banalen Bruch mit dem Welt/Herzschmerz – das ist wirklich toll. Nur eins: Miro-Druck liest sich irgendwie schräg, weil man den Namen nicht so präsent hat (ich zumindest nicht). Wie wäre es mit „der Druck von Miro“?

Jau, der Text wird von einem zentralen Gedanken getragen und das reicht eigentlich auch vollkommen. Der Gedanke hat etwas, da hängt auch viel Stoff noch dran, Abhängigkeit, Emanzipation, Liebe, Trauer, Selbstaufgabe. Da reicht es nur die Gedanken anzudeuten, um so eine Kette in Gang zu bringen.
Diese ganze Rahmenhandlung hingegen, das Gerüst dieses Gedanken, finde ich nicht ganz gelungen. Also man merkt, dass dir –als Autorin- Bryan nicht wichtig ist, London nicht, der Urlaub nicht, ja nicht mal Tom, das ist alles nur Staffage, das gewinnt keine Kontur. Das sind nur Requisiten für diesen einen Gedanken, die Bewältigung des Leids.
Der Stil gefällt mir zu weiten Teilen, allein dieses Zeitenkuddelmuddel … bei einem so kurzen Text, da kann ich mich nicht mit anfreunden. Warum kompliziert, wenn es auch einfach geht? Präteritum – und dieses gemauschelte, literarische Vorvergangenheitsding, das immer schon ein halbes Perfekt ist. Die Geschichte ist so schlicht, da braucht es eigentlich keine komplexen Spielerein mit Zeitebenen.
Fazit: Faszinierender Gedanke, angenehmer, weicher Stil, aber Abzüge in der B-Note für die Ausführung.


Gruß
Quinn

P.S.:

Der Film, den sie als Alibi angemacht hatten, verschwand aus ihrer Wahrnehmung.
Der kleine Satz legt die Vermutung nahe, dass das ganze autobiographische Elemente trägt. Wenn dem nicht so ist, dann Kompliment. Wenn dem so ist, dann, ehm, keine Ahnung, wird schon wieder, oder so. :) Frohe Weihnachten.

 
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Hallo Quinn,

danke, für deine ausführliche Kritik, die letzendlich für mich doch sehr positiv ist. Ich werde den Text nochmal überarbeiten, ich bin mit den Zeiten selber ins Stolpern geraten, habe wohl gemerkt, dass das so nicht optimal ist, aber ich bin da noch nicht so firm. (Deutschunterricht ist schon so lange her!) Ich werde versuchen das auszubügeln, und bin dankbar für Verbesserungsvorschläge. Einige deiner Anmerkungen werde ich sofort ändern, das mit dem Zeitenkuddelmuddel dauert evtl etwas länger...

Hellste Grüße,
lightdark

(und Dank für die Weihnachtsgrüße! Zu den autobiographischen Angaben mache ich immer ungern Aussagen, aber das ein Film unwichtig wird, das kennen sicher einige Menschen, oder? Jedenfalls gibt es nichts zu trösten! :D)

EDIT: Hab mich doch direkt an die Zeiten gewagt, ich denke, so ist es auf jeden Fall schon besser, bin aber für weitere Verbesserungen offen!

 

Hallo lightdark,

ich mochte Deinen Text sehr - die von Quinn angemerkten kleinen Schwülstigkeiten scheinst Du ja eliminiert zu haben - es kitscht also trotz des schweren Themas nicht.

Man denkt nach über diese Situation, die ja auch so oder so ähnlich nach einer Trennung stattgefunden haben könnte. Spielt sie fühlen? Fühlt sie sich wieder spielerisch ein in Mann-Frau-Beziehungen? Könnte ich das? Könnte ich einfach wieder so gehen nach der Nacht? Kann ein Statthalter für ein paar Momente zum Regenten werden? ... Fragen über Fragen. ;)

Liebe Grüße
melisane

 

Hallo Melisane,

vielen Dank. Ich freue mich, dass du meine Geschichte nicht kitschig findest, denn ich weiß, dass es an einigen Stellen möglicherweise grenzwertig ist.
Die Fragen die du stellst, sind wichtig, obwohl sie sich weniger Fragen stellt, als das sie schon Entscheidungen getroffen hat. Sie weiß, was sie hatte, und was sie haben wird, denn sie hat sich so entschieden. Ob sie einfach so gehen kann, nach einer Nacht, diese Frage stellt sich für sie gar nicht, denn sie sieht gar keine wirkliche Alternative.
Diese Illusion, die sie aufbaut, würde gar keiner zweiten, dritten, vierten Nacht standhalten...

Liebe Grüße,
lightdark

 

Hallo lightdark,

ich hatte nicht die Fragen aufgezählt, die Deine Heldin sich möglicherweise stellt, sondern eine kleine Auswahl fiktiver Fragen Deiner Leserschaft ;)

Liebe Grüße
melisane

 

Ja, hab ich verstanden. Ich habe quasi vorweggegriffen und die Fragen beantwortet. Nämlich, dass sie sich nicht so viele Fragen stellt, weil sie klare Entscheidungen getroffen hat... :)

Grüße
lightdark

 

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