Stadtleben
Als er dem Zug entsteigt, da ist es laut. Menschen drängeln, er selbst versucht, sich geschmeidig, denn schlank ist er immer gewesen, durch die wenigen Lücken zu schlängeln, die sich innerhalb dieser Masse an Mitreisenden ergeben. Zigarettenrauch weht von der Seite heran - und auch wenn er die Luft anhält für eine Weile, so bleibt der stinkende Duft doch in seiner Nase. Als er die Treppe erreicht und vor sich Beine und sich bewegende Hinterteile sieht, da blickt er nach unten, wieder hoch, zur Seite - um nicht den Eindruck zu erwecken, er würde Körperteile Wildfremder anstarren.
Oben angekommen sucht er den direkten Weg zum nächsten Gleis. Belegte Brötchen oder Kaffee - nichts für ihn. Er sieht die Bahn, läuft zum Gleis und steigt ein. Mit ihr geht es noch tiefer hinein in die Stadt. Inmitten des Getümmels bemerkt er, dass er nicht mehr denkt, nur seine Wege abläuft, wie ein Zug eben, der, von einem Subjekt gesteuert, das tut, was er tun muss und was er beinah täglich tut. Er selbst wacht immer kurz auf aus diesem Modus eines Automaten, versucht sich zu besinnen, doch er kann keinen klaren, keinen einfachen Gedanken fassen. Von allen Seiten erreichen ihn neue Reize und wirbeln jeden noch so interessanten Gedanken durcheinander. Er schaut mit leeren Blicken aus den Fenstern, gelegentlich die Mitfahrer an, die durch ihn hindurchzusehen scheinen. Dann steht er auf, steigt aus - die Reise ist noch nicht zu Ende. Noch ein kurzer Gang über steinige Platten, akkurat aneinandergereiht. Dann erreicht er sein Büro, zunächst die große Glastür am Eingang, dann die Treppe, die mit Teppich verlegt ist, schließlich sein Kämmerlein, wie er es in Gesprächen mit Freunden stets nennt. Er verrichtet seinen Dienst, führt oberflächliche Gespräche über Neuigkeiten, die man aus Zeitungen und anderen Nachrichten erfahren hat. Stumpfes Aneinanderreihen von Informationen, ziellos, Hauptsache informiert wirken.
Die Mittagspause ist kurz, wieder geht er seinen Weg, in die Kantine, allein. Er braucht Ruhe, auch wenn er fast immer ohne Gesellschaft ist in der Zeit, die er in der Stadt verbringt. Er sucht Zeit für sich, um wieder frei denken zu können. Dazu sucht er den Weg durch den Stadtpark, der ihn an seinen Wald zu Hause erinnert, durch den er allabendlich spaziert und sich wohl fühlt wie nirgendwo anders. Hier kann er fallen lassen, was ihn anspannt, hier kann er sich spüren und die Stimme der Natur hören, die ihn sanft begleitet. Hier in der Stadt fehlt diese Stimme, die Bäume geben Geräusche von sich, doch sind diese nicht beruhigend, die Bäume sagen etwas, das nicht seine Gefühlswelt beeinflusst, er bleibt innerlich stumm und unberührt. Die Bäume und die Blumen verzaubern ihn einfach nicht, sie tun ihm Leid. Er würde ihnen ja gern empfehlen, mitzukommen, er könnte ihnen einen Platz zeigen, an dem sie Baum sein dürften und auch ihn verzaubern würden. Doch das Schicksal dieser Bäume ist kein schönes, als würden sie in einer beengten Wohnung leben, im höchsten Stockwerk, von stinkender Luft umgeben, heraufsteigend von unten, dort, wo diese Masse an Autos fährt und rast und ausscheidet.
Er erreicht die Tür zur Kantine, zieht sie auf und sucht den Weg zur Hunger leidenden Menschenschlange. Ein Gruß vom Kollegen, der mit einer unbekannten Schönheit bereits hinunterschlingt, was auf dem Teller liegt. Dann erreicht er die Schlange, entscheidet sich für ein günstiges Essen, das verkocht schmeckt und lediglich satt macht. Heute nimmt er panierten Fisch, der weich ist und kaum Geschmack in sich trägt. Dazu gibt es Kartoffeln, die außen weich, innen hart sind. Das Gemüse lag wohl tagelang in siedendem Wasser. Gestern hatte er ein Steak auf dem Teller, das ihn geschmacklich an eine Handtasche erinnerte.
Noch vier Stunden, dann ist auch dieser Tag vorbei, er führt noch zwei Gespräche mit geleckten Geschäftspartnern. Die Konversationen sind wie gewohnt oberflächlich, sinnlos, langweilig. Immerhin geht die Zeit rum, die eigentlich so kostbar ist. Ihn ekelt diese Situation an, weil er doch weiß, dass es anders gehen sollte in seinem Alltag, da er doch längst bemerkte, das ihn dieses Leben bedrückte. Die Geschäftspartner, so malte er sich aus, während diese wieder abartig selbstbewusst parlierten und vor lauter Selbstliebe immer lauter zu ihm sprachen, würden sich ganz sicher nach Feierabend mit Freunden treffen, die Zeit vergessen, Alkohol trinkend umherschauen nach weiblichen Rundungen, die eigene Familie warten lassen, die dies längst gewohnt ist. Die eigene Frau längst nur ein Statussymbol, genauso wie die Kinder. Teure Urlaube würden sie führen, in denen sich längst gezeigt hat, dass der gute Geist dieser Familie bereits verflogen war.
Nachdem er seine letzten Nachrichten des Tages in elektronischer Form verfasst und schließlich verschickt hat, da starrt er noch einmal aus dem Fenster, minutenlang, ohne auch nur an eine Sache zu denken. So etwas gelingt ihm in vertrauter Umgebung nie. Woran das liegt - er weiß es nicht. Vielleicht ja daran, dass er sich daheim frei fühlt und nicht so beengt wie hier. Dann packt er seine Sachen, grüßt einen Kollegen zum Abschied, der träumend am Kopierer steht und ihn nicht mehr wahrnimmt. Welch Scheinwelt! Jeder nur bei sich. Den Zug erreicht er heute, ohne hetzen zu müssen. Das fühlt sich gut an - nur schafft er dies viel zu selten. Die meiste Zeit über muss er sich beeilen, laufen, schwitzen. Wofür das Ganze? Für ein schnelleres Ergrauen, aber eben auch für den früheren Zug. Der nächste würde eine halbe Stunde später kommen. Wer aber hat überhaupt noch Zeit in dieser Welt?
Die Fahrt über verbringt er lesend, neben ihm schnarcht ein überarbeiteter Mitt-Fünfziger, dessen Mund immer wieder auffällt und die Lautstärke seines Geschnarches potenziert. Dann läuft der Zug endlich ein. Er steht ganz vorne an der Tür und drückt den Knopf, als dieser grün aufleuchtet. Ab aufs Fahrrad und nach Hause. Bereits auf dem Heimweg atmet er wieder tiefer, die Gedanken sind wohliger, die Seele entspannt. Wie kann ich dieses gute Gefühl nur den ganzen Tag über festhalten? Den Job wechseln? Rausgehen aus der Stadt? Oder einfach die Einstellung ändern? Erst einmal entscheidet er sich für den Job, denn durch ihn hat er das nötige Geld, um alltäglich in eben diese Feierabende hineinzudüsen, die ihm doch so gut tun.