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Standortbestimmung

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18.04.2002
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Standortbestimmung

„Ich hasse Würmer! Mann, gibt es denn in diesem Saftladen keinen Schutz vor Computerschädlingen?“
„Was ist denn los, Alex? Musst du ständig rummaulen?“
„Du hast gut reden, schau dir mal diesen Scheiß an, ausgerechnet jetzt, wenn ich die Empfänger programmieren will!“
Lars gab ein gutwillig klingendes Grunzen von sich, dann schlurfte er langsam durch das mit Monitoren voll gestellte Labor. Es war schon spät, abgesehen von den beiden war niemand mehr im Rechenzentrum.
„Hast'n Problem?“ Lars drehte seine Baseballkappe nach hinten und zupfte gelangweilt an seinem Bart.
„Hier, schau: Mein ganzer Bildschirm, kann nix dagegen machen. Pure Frechheit ist das doch!“
Tatsächlich, auf sattblauem Hintergrund konnte man einen einzigen, großformatigen, immer wiederkehrenden Satz lesen:

Eine der größten menschlichen Errungenschaften ist Ignoranz.

Alex fasste sich mit seiner prankenartigen Hand an die große Nase, sog tief Luft ein, sein T-Shirt spannte sich, die verwaschene Aufschrift ‚It's higher to be a Bayer’ war schemenhaft zu erkennen. Sein Kollege wurde sachlich: „Hast du schon unsere externe Schutzsoftware aktiviert?“
„Klar, Boss. Das ist ohne Vorwarnung passiert - keine meiner Abwehrmaßnahmen zeigt auch nur den geringsten Erfolg.“
„Also häng' diesen blöden Computer vom Netz ab, sollen die Sicherheitsleute morgen danach schauen, du kannst an meinem Platz arbeiten.“

„Gut, noch ein Versuch, ich mach den hundertsten Neustart.“
Lars begann seelenruhig seine Brillengläser zu putzen. „Au, bist du verrückt, meine Brille?!“ Alex war urplötzlich, mit voller Wucht aufgesprungen. Beinahe hätte er den Kollegen umgeworfen.
Mann, oh Mann! Verarscht mich jemand oder vertrage ich keine Limo mehr - vergiss deine Brille, was für 'ne Message!“

„Guten Tag, so sagt ihr doch?
Endlich ist es uns gelungen, euch nicht nur zu beobachten, sondern Kontakt mit euch verehrten Ignoranten, aufzunehmen. Hoffentlich ist unsere Botschaft lesbar übersetzt, um unser Problem angemessen zu schildern. Leider können wir ausschließlich eingleisig mit euch kommunizieren, aber wenn ihr eure Antwort abspeichert, werden wir sie finden.

Die beiden Computerfachleute starrten gebannt auf den Bildschirm.
„Ich ruf das Sicherheitsteam, das Sicherheitsteam“, murmelte Lars, sein Bart musste jetzt einiges aushalten.
„Nein, warte, wenn's nur 'ne Verarschung ist? Da, lies!“

Bei allen Völkern - das nahmen wir an - basieren Handlungsfähigkeit und Existenz auf folgenden Tatsachen:
1. Verhalten wird von eindeutigen, überlieferten, logischen Schlüssen bestimmt. Ist zum Beispiel “mar“ größer als “mela“ und “mela“ größer als “de“ dann muss “mar“ größer als “de“ sein.
2. Erkenntnisse sind generalisierbar, sie gelten universell.
3. Alle Solugene (so heißen wir einzelnen Individuen, ebenso das Volk) sind ein Solugene.
Vielleicht ist die genannte Aussage schwer zu verstehen, aber sie ähnelt der Tatsache, dass das sich Vorstellen vieler Vorstellungen wiederum eine Vorstellung ist. Diesen Sachverhalt empfanden wir als ganz natürlich - wie sollte es auch anders sein?
Wie erstaunt waren wir, als solugene Wissenschaftler im Verlauf ihrer interstellaren Forschungsreisen die Texturer entdeckten: Seltsamerweise stellt die Gruppe der Texturer insgesamt nicht einen Texturer dar! Wie viel ist unser Dogma, das Erkenntnisse generalisierbar sind, jetzt noch wert?
Das genannte Volk ist keine Ausnahme, in den umliegenden Galaxien kennt man mittlerweile viele Lebewesen, die als Gruppe die Eigenschaften ihrer Gruppenmitglieder nicht repräsentieren. Unsere fähigsten Theoretiker fassten alle diese Spezies unter dem taxonomischen Oberbegriff “Verweigerer“ zusammen, da sich bei diesen Völkern Individuen gewissermaßen weigern, mit ihrer Gruppe identisch zu sein. Hätte man damals geahnt, welche Konsequenzen die beschriebenen Erkenntnisse ergeben würden! Wäre die inzwischen herrschende Krise abgewendet worden?
Irgendwann im Verlauf weiterer Forschungen musste geklärt werden, ob “Verweigerer“ im Ganzen gesehen ihre Spezies als Gruppenmitglied enthalten. Ist die Gruppe aller “Verweigerer“-Spezies selbst eine “Verweigerer“-Spezies? Falls dies stimmt, ist ein Widerspruch unvermeidbar. Bewährte Taxonomen hatten schließlich in wochenlanger Diskussion, in vielen Ausschüssen eindeutig erkannt, “Verweigerer“ besitzen nicht gleichfalls die Eigenschaften der “Verweigerer“-Gruppe. Daraus folgt also: “Verweigerer“ können keine „Verweigerer“ als Gruppenmitglied enthalten.
Wären unsere Forscher doch nie durch Täler fremder Planeten gestreift, hätten sie doch nie fremde Monde erforscht, nur um andersartige Lebewesen zu entdecken!
Jedenfalls wurde schnell klar: Wenn die “Verweigerer“ sich nicht selbst als Gruppenmitglied enthalten können, erfüllen sie die Beobachtung ( sie sind gerade nicht Mitglieder von ihrer eigenen Gruppe) und müssten demnach als Mitglieder der gesamten “Verweigerer“-Gruppe aufgefasst werden. Ganz gleich welche Annahme wir machten, um die neu entdeckten Spezies zu klassifizieren - wir endeten in einem logischen Widerspruch. Für uns ist dies katastrophal, oder wie wir so etwas ausdrücken, eine Weisheitsblessur. Was wäre, wenn wir feststellen würden, dass auch unsere Existenz logische Ungereimtheiten beinhaltet? Die uns bekannten Gesetze der Logik hatten jedenfalls keinen Hinweis auf die Möglichkeit paradoxer Eigenarten bei fremden Wesen gegeben.
Wie gesagt: Unsere Kultur verbietet Widersprüche wie wir sie nun entdeckt haben. Ja, es ist sogar mit einer gesellschaftlichen Revolte zu rechnen, denn viele Vertreter der neuen Erkenntnis stellen nun den Staat der Solugene in Frage.
Aus Angst vor einem Krieg wenden wir uns an euch: Ihr seid die kompetentesten Experten im Universum, da nur ihr die Kunst beherrscht, die unser Problem lösen kann:

Die Kunst, Tatsachen zu ignorieren.“

„Verstehst du ein einziges Wort, Dicker?“
„Nee, weißt du was?“ Alex wischte Schweiß von der Stirn. „Ich mach jetzt dieses durchgedrehte Gerät aus, melde einen Festplattencrash – morgen lade ich die Sicherheitskopien von meiner Arbeit, Bingo!“
„Ja, am Besten, wir geh'n ein Bier trinken und ignorieren das Ganze - einfach alles vergessen …“

Alte Fassung

Eine der größten menschlichen Errungenschaften ist die Ignoranz.

„Wie bei allen Völkern - so dachten wir - basiert unsere Existenz und Handlungsfähigkeit auf zwei Tatsachen:
1. Unser Verhalten richtet sich nach überlieferten, logischen Gesetzen. Wenn z.B. “mar“ größer als “mela“ ist und “mela“ größer als “de“ dann muß auch “mar“ größer als “de“ sein.
2. Die Gruppe aller Solugene (so heißen wir als Individuen und als Volk) ist auch ein Solugene. Dies mag für euch schwer zu verstehen sein. Es ist genauso wie die Tatsache, daß das sich Vorstellen vieler Vorstellungen wieder eine Vorstellung ist.
Diesen Sachverhalt empfanden wir als ganz natürlich - wie sollte es auch anders sein?
Wie erstaunt waren wir, als unsere Wissenschaftler im Verlauf ihrer interstellaren Forschungsreisen die Texturer entdeckten: Seltsamerweise stellt die Gruppe der Texturer insgesamt nicht wieder einen Texturer dar!
Dieses Volk ist auch keine Ausnahme, in unserer Galaxis gibt es viele Lebewesen, die als Gruppe die Eigenschaften ihrer Gruppenmitglieder nicht repräsentieren. Unsere Wissenschaftler faßten alle diese Spezies unter dem taxonomischen Oberbegriff “Verweigerer“ zusammen, da sie sich gewissermaßen als Individuen weigern mit ihrer Gruppe identisch zu sein. Hätte man damals geahnt, welche Konsequenzen diese so spannenden, überraschenden Erkenntnisse mit sich bringen würden! Hätten wir die nun herrschende Krise abwenden können?
Irgendwann im Verlauf der Forschungen mußte geklärt werden, ob die “Verweigerer“ als Ganzes gesehen sich selbst als Gruppenmitglied enthalten. Ist die Gruppe aller “Verweigerer“- Spezies selbst eine “Verweigerer“-Spezies? Wenn das so ist, dann ergibt sich ein Widerspruch: Unsere Taxonomen hatten schließlich in wochenlanger Diskussion, in vielen Ausschüssen eindeutig festgestellt, daß “Verweigerer“ eben nicht auch die Eigenschaften der “Verweigerer“- Gruppe besitzen. Daraus folgt also: “Verweigerer“ können sich nicht selbst als Gruppenmitglied enthalten.
Wären unsere Forscher doch nie durch die Täler fremder Planeten gestreift, hätten sie doch nie fremde Monde erforscht, nur um so andersartige Lebewesen zu entdecken!
Jedenfalls wurde schnell klar: Wenn die “Verweigerer“ sich nicht selbst als Gruppenmitglied enthalten können, erfüllen sie unsere Beobachtung (das sie gerade nicht Mitglieder von ihrer eigenen Gruppe sind) und müßten also doch wieder als Mitglieder der gesamten “Verweigerer“-Gruppe aufgefaßt werden. Ganz gleich welche Annahme wir machten, um die neu entdeckten Spezies zu klassifizieren- wir endeten in einem logischen Widerspruch. Für uns ist dies eine Katastrophe, oder wie wir es ausdrücken, eine Blessur-Philosophie. Was wäre, wenn wir feststellen würden, daß auch unsere Existenz logische Ungereimtheiten beinhaltet? Die uns bekannten Gesetze der Logik hatten ja auch keinen Hinweis auf die Existenz dieser fremden Wesen gegeben.
Wie gesagt: Unsere Kultur verbietet Ungereimtheiten bei logischen Überlegungen. Ja, es ist sogar mit einer gesellschaftlichen Revolte zu rechnen, denn viele Protagonisten der neuen Erkenntnis stellen nun unseren Staat in Frage.
Aus Angst vor einem Krieg sind wir deshalb zu euch gekommen. Ihr seid die kompetentesten Experten im Universum, da nur ihr die Kunst gut beherrscht, die unser Problem lösen kann:

Die Kunst, Tatsachen zu ignorieren.“


[ 26.07.2002, 21:29: Beitrag editiert von: Woltochinon ]

 

Hallo noch einmal,
ich würde gleich nach dem ersten Dialogteil klar machen, dass es zwei Hacker in einem Labor sind. Aber - na ja.
Wenn die KG aus Lars' Sicht geschildert ist, kapiere ich jetzt, dass der Aufschrei für ihn plötzlich kam. Das ist jetzt verständlich.
lG
tamara

 

Hi Woltochinon!

Wollte schon vor einiger zeit zum Text was schreiben, dann war da dein Vermerk Baustelle, hab ich halt gewartet.
Hätte nicht gedacht, als ich Logik und Mengenlehre fürs Vordiplom lernen musste, so was in einer so eleganten Verpackung wieder zu finden. Schon mal an Pädagogen geschickt, können was lernen. Faszinierend, wie das die Aliens austrickst, was sie bei den Menschen suchen und das Problem der Selbsterkenntnis, erinnert an Gödel.
Tolle Idee, das coolste mathezeug, das ich je las.

aquata

 

Hallo tamara,

"Aber - na ja."

Ich seh das mal als Erlaubnis das so zu lassen :)
Bei meinem Änderungsversuch begann gleich die Schwierigkeiten mit doppelten Wörtern, es ist furchtbar…

Vielen Dank für dein anhaltendes Interesse,

L G,

tschüß… Woltochinon

Hallo aquata,

scheine ja mit dem recht komplizierten Text deinen Geschmack getroffen zu haben, freut mich sehr, dann hat sich auch die Überarbeitung gelohnt. Ich glaube, Gödel habe ich auch schon mal in den Antworten erwähnt. Wäre den Aliens der Unvollständigkeitssatz bekannt gewesen, wären sie von neuen Wahrheiten nicht überrascht und hätten sich nicht so sehr auf ihre Regeln konzentriert. Nun, jetzt müssen sie halt ein neues System entwickeln…

L G,

tschüß… Woltochinon

 

Hallo Woltochinon!

Deine Geschichte verbindet gekonnt SF-Elemente mit Mengenlehre und heraus kommt eine amüsante (!) philosophische Geschichte über Erkenntnis und Logik – und beides ist nicht schnöde Theorie, sondern hat ernste Konsequenzen. Musste das schon alles gut durchdenken, hat aber Spaß gemacht.

Solche Typen, wie die Zwei sitzen überall, stimmt´s?

- Pol

 

Hallo Polaris,

„Solche Typen, wie die Zwei sitzen überall, stimmt´s?“

Das denke ich auch - auf das Äußere bezogen, wie auch auf die Einstellung. Natürlich ist es ein Klischee (obwohl ich solche Leute im SV kennen gelernt habe), dass die Computerfachleute bärtig sind und verrückte T-Shirts tragen (und in der Mittagspause fahren sie roller-blades).

Die Geschichte hat mich sehr viel Arbeit gekostet, weil ich sie mathematisch um- und dann wieder zurück geschrieben habe, deshalb dafür besonderen Dank:

„eine amüsante (!) philosophische Geschichte über Erkenntnis und Logik“.

L G,

tschüß Woltochinon

 

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