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Stein, Holz, Glas, Asche und Papier
Ich habe schon oft versucht, die Geschichte zu erzählen, aber mir fehlten Teile. Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte, oder ich habe die Sache mit dem Herz nicht mehr zusammenbekommen, den Ausflug in den Wald damals oder das mit dem Eichhörnchen. Oder mein Großvater war ganz anders als in Wirklichkeit. Er wirkte einfach anders aus Fleisch und Blut denn Schwarz auf Weiß. Irgendwas hat nie gestimmt. Aber ich denke oft daran, eigentlich ständig. Wenn man andere fragt, was ihre früheste Kindheitserinnerung so ist, dann kommt irgendwas von einem Geburtstag, von einer Rauferei im Kindergarten oder von irgendetwas, das ihnen ganz peinlich ist, weil ihre Mütter es ihnen ewig vorgehalten haben. Aber dann erinnern sie sich nicht aus erster Hand daran, sondern nur noch an die vielen Male, als ihre Mütter ihnen das erzählt haben. Manche nehmen bestimmt auch Sachen, die sie mal in einem Film gesehen haben, und fügen sich dann selbst ins Bild hinein. Ich kann mich an keine Geburtstage erinnern, auch an keine Raufereien, eigentlich an gar nichts mehr vor diesem Abend, aber ab dann ist alles da. Und danach aber auch wieder viel weg. Ich versteh das auch nicht.
Wir haben in der Stube gesessen, also meine Eltern auf der Couch, so ein braunes Cord-Ding, und ich bin vor dem Fernseher auf dem Bauch gelegen, dann hat es an der Tür geklingelt und mein Vater ist aufgestanden. Ich habe über meine Schulter gesehen und meine Mutter hat mich angeschaut und mit dem Kopf in Richtung Flur gedeutet, sie hat wohl gewollt, dass ich ins Bett gehe. Dann habe ich die Stimme meines Vaters gehört, einen grummeligen Bass, und eine noch tiefere Stimme, die darauf geantwortet hat. Und meine Mutter hat ganz energisch mit dem Kopf genickt in Richtung des Flures, ist aufgesprungen und hat mit den Händen gewedelt, als wolle sie Hühner in den Stall scheuchen. Dann bin ich ins Bett gegangen. Ich hab noch den Rücken meines Vaters gesehen und gehört, dass er mit jemandem gesprochen hat, aber ich hab nicht verstanden, um was es ging.
Kaum war ich im Bett gelegen und hatte mir die Decke bis unters Kinn gezogen, hat sich die Tür einen Spalt geöffnet und die Hand meiner Mutter ist ins Zimmer gehuscht, hat das Nachtlicht eingedreht und ist schon wieder verschwunden. Kein Gute-Nacht-Kuss, kein liebes Wort, nichts. Sie hat nicht einmal kontrolliert, ob ich auch wirklich zugedeckt war. Ich habe die halbe Nacht nach Stimmen gelauscht, nach Wortfetzen.
Obwohl ich noch klein war, hab ich schon gewusst, dass irgendwas nicht stimmen konnte, aber ich hab nichts gehört, die Wände waren zu dick. Und dann muss ich wohl eingeschlafen sein, aber – ich weiß jetzt nicht mehr, ob das wirklich stimmt, ich hab meinen Großvater nie danach gefragt -, aber ich glaube, ich habe ihn gesehen, nur sein Gesicht mit dem weißen, stoppeligen Bart, er hat durch den Türspalt gelinst, das warme Nachtlicht hat ihn von unten angestrahlt, und er hat gesagt: „Das ist er also.“
Aber das hab ich vielleicht nur geträumt.
Am nächsten Morgen bin ich ganz früh aufgestanden, hab mir noch im Schlafanzug die Zähne geputzt und bin ins Esszimmer gelaufen, aber da war noch keiner, noch gar keiner. Der Morgen hat trübe durchs Fenster gekiebitzt, so als wär’s ihm auch noch zu früh und ich bin an meinen Platz gekrabbelt, auf der Eckbank, und hab darauf gewartet, dass irgendwas passiert. Ich hab auch geschnüffelt, ob ich irgendwas riech, ob irgendwas anders ist als sonst, aber gar nix. Auf einmal hab ich die Haustür aufgehen gehört und schwere Schritte im Flur, dann ist ein fremder Mann zum Esstisch gekommen, hat sich, ohne ein Wort zu sagen, neben mich gesetzt und die Zeitung aufgeschlagen. Ich hab die Hände gesehen, die die Zeitung gehalten haben. Es sind ganz knorrige Hände gewesen, so als wären Würmer da drunter. Adern, aber das hab ich damals noch nicht gewusst. Ich hab auf die Vorderseite der Zeitung gestarrt und auf die Hände, ich muss wirklich gestarrt haben, weil ich noch weiß, dass ich mich total erschrocken hab, als der fremde Mann mit einem Ruck die Zeitung runtergeklappt und „Buuh!“ gemacht hat. Das hat er wirklich gemacht: „Buuh!“ Ich hab geschrieen, richtig geschrieen, bis meine Mutter gekommen ist, mich in den Arm genommen und getröstet hat. Und mein Großvater hat derweil weiter die Zeitung gelesen. Aber ich weiß noch: Als mich meine Mutter im Arm gehalten hat, hab ich über ihre Schulter den fremden Mann mit der Zeitung gesehen. Er hat einen weißen, stoppeligen Bart gehabt und kohleschwarze Augen und in der Stirn war ein Muster eingestickt wie in einer Tischdecke. Den Mund hat man kaum gesehen unter dem Bart, aber die beiden Augen. Und mit dem einen Auge, mit dem einen kohleschwarzen Auge, hat er mir zugezwinkert, während ich mich an der Schulter meiner Mutter ausgeheult habe.
Als mein Vater dann ins Esszimmer kam, war er schon ganz im schwarzen Anzug, er hat meine Mutter und mich gesehen und mit seiner tiefen Stimme gesagt: „Kommt, wir sind spät dran. Wir wollen den Herrgott doch nicht warten lassen.“ Der fremde Mann hat mit dem Zeitungspapier geraschelt und meine Mutter hat mir auf den Rücken geklopft, so als müsste ich ein Bäuerchen machen, dann sind mir die Haare gekämmt worden und ich hab mich anziehen müssen, so eine schwarze Stoffhose, die immer gezwickt hat. Wir sind dann in die Kirche gegangen, aber ohne den fremden Mann, ich hab meine Mutter auf dem Weg dahin so ein bisschen an der Bluse gezogen, sie hat eine weiße Bluse angehabt, die hinten ein wenig rausgeschaut hat. Und sie hat gesagt: „Nach der Kirche.“ Und als ich noch einmal gezogen hab, hat mein Vater gesagt: „Still jetzt, nach der Kirche.“
Im Gottesdienst sind wir immer auf harten Bänken gesessen und es hat so kühl gerochen, nicht gesund, fand ich. So muffig, ich bin zwischen meinem Vater und meiner Mutter gesessen und wir haben auf das Holzkreuz gestarrt über dem Altar und auf die Glasfenster, die das Jesuskind gezeigt haben.
Der Herr Pfarrer ist dann durch die Reihen geschritten und ich hab von hinten gesehen, dass auf seinem Kopf eine kahle Stelle war und er hat auch ganz hoch gesprochen, nicht so wie jeder andere Mann, den ich damals gekannt habe, sondern mehr so wie ein Mädchen. Aber ich weiß gar nicht mehr, was er gesagt hat, weil ich nur wissen wollte, wer der fremde Mann gewesen ist, der die Zeitung gelesen und mich erschreckt hat.
Mir ist es so vorgekommen, als hätte die Kirche noch viel länger gedauert als sonst und meine schwarze Stoffhose hat mich gezwickt, vor allem an den Beinen. Auf dem Weg nach Hause, wir sind kaum aus der Kirchentür raus gewesen, bin ich dann einfach stehen geblieben und hab gesagt, dass ich jetzt aber keinen Schritt weiter geh, wenn mir nicht einer sagt, wer der Mann ist mit der Zeitung. Ich hab mit dem Fuß aufgestampft und bin richtig trotzig geworden. Und weil ich noch so vor der Kirchentür gestanden bin, hat sich eine Schlange hinter uns gebildet, und mein Vater ist ganz ungeduldig geworden und hat mich hochgehoben, aber ich hab ihm gegen die Brust geklopft mit beiden Fäustchen und hab geschrieen, dass er es ja versprochen hätte. Nach der Kirche. Und die Leute, das hab ich über die Schulter von meinem Vater gesehen, haben in unsere Richtung geguckt und getuschelt. Und mein Vater hat dann mit ganz grummeliger Stimme gesagt: „Das ist der Papa von der Mama.“ Und das Tuscheln ist ganz laut geworden. Meine Mutter hat Vater dann an der Hand gepackt und ihn fortgezerrt, und ich hab mich an meinem Vater festkrallen müssen, denn die beiden sind richtig gerannt, so als wären sie auf der Flucht. Und ich hab meinen Vater noch nie in dem schwarzen Anzug rennen sehen und sonst eigentlich auch nie.
Mein Vater hat sich bücken müssen, als wir durch unsere Haustür durch sind, weil er mich ja immer noch auf dem Arm hatte. Er hat mich dann abgesetzt und meine Mutter angeschaut, die richtig gekeucht hat, von der vielen Lauferei. Mein Vater hat die Hände in die Seite gestemmt und den Mund aufgemacht, aber dann nix gesagt. Das war mir aber auch egal, denn ich hab mich schon davongestohlen ins Esszimmer, wo mein Großvater immer noch an seinem Platz gesessen ist. Ich hab das damals ganz spannend gefunden, weil ich ja zum ersten Mal einen Großvater gehabt habe. Er hat mich angeschaut und gesagt: „Deine Hosen zwicken.“ Und ich bin vor ihm gestanden und hab mit dem Kopf genickt.
„Das liegt an den Chemikalien“, hat mein Großvater gesagt. „Die sind nicht gut.“
Ich hab misstrauisch ein Auge zugemacht und ihn angeschaut und gefragt, woher er denn wisse, dass meine Hosen zwicken.
Aber er hat gefragt: „Und in der Kirche hat’s dir auch nicht gefallen, oder?“
Ich hab aber nix gesagt, nur gelauscht, wie irgendwo im Haus eine Tür ins Schloss gefallen ist.
„Weißt du“, hat mein Großvater gesagt, „mir gefällt’s da auch nie. Das ist nicht recht, da ist alles aus Stein und Papier, die haben nur mit einer Sache Recht. Früher ist alles besser gewesen.“
Ich bin derweil auf meinen Platz gekrabbelt, hab meinen Kopf mit beiden Armen abgestützt und ihn mir noch mal genau angeschaut, weil ich wissen wollte, wie Großväter aussehen.
„Du kennst doch bestimmt die Geschichte mit Adam und Eva und dem Paradies“, hat mein Großvater dann mit brummiger Stimme gesagt, „das stimmt tatsächlich.“
„Ach“, hab ich gesagt und so abgewinkt, wie ich es mir von meinem Vater abgeschaut hatte. „Das sind doch nur Märchen.“
Mein Großvater hat die Zeitung gestreichelt und gelächelt und mit dem Kopf genickt. „Du bist schon sehr schlau“, hat er gesagt, „viele wissen das bis heute nicht und die sind schon viel älter als du. Aber, Bub, was ich dir sagen will: Der Kern davon stimmt.“
Ich bin ganz stolz gewesen von dem Lob und hab mir vorgenommen, jetzt genau zuzuhören.
„Weil bei Märchen geht’s ja um den Kern“, hat mein Großvater gesagt, „wie bei einem … also, hm, lass mich mal überlegen.“ Dann hat er aus der Tasche ein Stück Holz gezogen und ein Messer – ich weiß, das klingt jetzt so, als würde ich mir das ausdenken und gerade an der Stelle denke ich auch oft, dass ich mich da falsch erinnere, aber ich erinnere mich eben so daran, ob es so gewesen ist, weiß ich nicht.
Mein Großvater hat angefangen zu schnitzen, auf der Zeitung, die noch vor ihm gelegen ist, hat er geschnitzt und gesagt: „Das ist wie bei dem Stück Holz hier, wenn man alles, was so drum herum ist, abschnitzt, dann kommt das Wahre drin heraus, der Kern. Und so ist es auch bei Adam und Eva. Früher haben die Menschen im Paradies gelebt und seit dem wird’s von Tag zu Tag schlechter. Weil die Welt wie sie war, so war sie recht und jedes Mal, wenn man was dran macht, wenn dein Papa oder deine Mama was dran machen, dann wird sie schlechter.“
Ich hab ganz begeistert auf das Stück Holz geschaut, an dem er rumgeschnitzt hat, und als er die Hände aufgemacht hat, hat er es mir hingehalten und gesagt: „Iss ruhig, ist lecker“ und er hat mir das Stück Holz gegeben, an dem er rumgeschnitzt hat und das jetzt immer noch wie ein Stück Holz ausgesehen hat.
„Das ist doch Holz“, hab ich ihm gesagt.
„Iss es“, hat mein Großvater gesagt, „das ist zum Essen.“
Ich hab erst misstrauisch an einer Ecke herumgenagt und es war aber ganz lecker und hat süß geschmeckt und nach Schokolade und dann hab ich es doch ganz gegessen.
Mein Großvater ist aufgestanden und hat zum Fenster hinaus gesehen, durch das vor der Kirche der Morgen noch so trüb hereingeblinzelt hat, und er hat gesagt: „Komm ruhig her.“ Ich bin von meiner Ecke gekrabbelt, aber konnte nicht durch das Fenster sehen, weil ich noch zu klein war. Ich hab drauf gewartet, dass er mich hochhebt, aber mein Großvater hat gar nix gemacht, er ist nur dagestanden und hat aus dem Fenster geguckt, also hab ich mir einen Stuhl gegriffen, ihn neben meinen Großvater gestellt und hab dann mit ihm zusammen aus dem Fenster geschaut.
„Siehst du da das Herz?“, hat mein Großvater gesagt und auf ein Stück Wald gezeigt, ganz weit weg. Da war ein Stück Wald, das wie ein Herz ausgesehen hat.
“Ja“, hab ich gesagt. „Aber ich weiß, was das ist. Das hat mir der Papa erzählt. Da hat ein Baron hellere Bäume pflanzen lassen, weil er seiner Frau was Schönes hat machen wollen.“
„So, so“, hat mein Großvater gesagt. „Das hat dir dein Papa also erzählt. Nein, Bub, das ist das Herz des Waldes.“
Auf einmal haben wir ein Räuspern gehört und mein Großvater und ich haben uns umgedreht. Ich bin fast vom Stuhl gefallen, weil da so wenig Platz war, um sich umzudrehen, und mein Großvater hat mich mit einer Hand noch am Kragen gepackt. Da hat mein Vater gestanden, noch mit seinem schwarzen Anzug, und hat gesagt: „Du bist mein Schwiegervater und du kannst so lange in meinem Haus wohnen, wie du möchtest.“
Mein Großvater hat gesagt: „Danke.“
Und mein Vater hat gesagt: „Und du möchtest höchstens drei Tage hier wohnen.“
Mein Großvater hat gesagt: „Ja, das reicht mir schon.“
„Gut“, hat mein Vater gesagt, ist zu mir gekommen, hat mich in den Arm genommen und mich ins Schlafzimmer getragen, zu meiner Mama, die mich fest gedrückt hat. So als wolle sie mich gar nicht mehr loslassen, und dann hat sie sich an meiner Schulter ausgeheult.
Meine Mutter hat mich in den nächsten Tagen richtig abgeschottet vor ihm. Sie hat ganz viel Zeit mit mir verbracht und der Großvater war zwar manchmal in unserer Nähe, aber er hat gar nicht mit mir sprechen können. Wenn wir am Esstisch gesessen sind, hat meine Mutter mich angeschaut, und mein Vater hat meine Mutter angeschaut und mein Großvater hat auf seinen Teller geschaut, aber nicht so viel gegessen. Wenn meine Mutter ihn gefragt hat, ob’s ihm denn schmeckt, hat er gesagt: „Du kochst wie deine Mutter.“ Aber dann hat meine Mutter geseufzt und mein Vater hat die Stirn gerunzelt. Aber wenn meine Mutter grade mal nicht aufgepasst hat, dann hat mein Großvater mir zugezwinkert, mit einem seiner kohleschwarzen Augen, und er hat mit dem Kopf zum Fenster hinausgedeutet, wo ja das Herz des Waldes war, wie wir beide gewusst haben.
Am Abend vom ersten Tag haben sich meine Eltern auf die Couch gesetzt und wollten fern schauen, aber als sie mich dann gerufen haben und ich aus meinem Zimmer gelaufen kam, habe ich mich lieber zu meinem Großvater an den Esstisch gesetzt, weil ich dachte, ich könnte mich wieder mit ihm unterhalten oder dass er noch was für mich schnitzt, aber mein Großvater hat schon gleich, als er mich gesehen hat, traurig den Kopf geschüttelt, und es hat nicht lange gedauert, bis mein Vater mich gerufen hat und sogar auf den Teppich gedeutet hat, obwohl er das eigentlich gar nicht gemocht hat, wenn ich so fern geschaut hab und nicht auf dem Sessel gesessen bin. Ich hab dann von meinem Platz aus gehört, wie mein Vater leise mit meiner Mutter gesprochen hat, und sie hat aber gar nicht zurückgesprochen zu ihm, sondern nur so gezischt. Aber irgendwann hat mein Vater dann mit brummiger Stimme gerufen: „Schwiegervater, setz dich doch zu uns.“
Und ich hab gehört, wie sich mein Großvater erhoben hat von seinem Stuhl und mit schweren Schritten hereingekommen ist, in die Stube, doch grad als er sich auf den Sessel hat fallen lassen, auf den, wo ich eigentlich hätte sitzen müssen, ist der Fernseher schwarz geworden und hat den Geist aufgegeben. Mein Großvater hat gesagt: „Die mögen mich nicht und ich mag sie nicht“, und ist wieder zurück ins Esszimmer gegangen. Und der Fernseher hat wieder funktioniert und ein Bild gezeigt, kaum, dass er aus dem Zimmer war.
Zwar habe ich an den Tagen wenig von meinem Großvater gehabt, aber die Nächte haben uns ganz allein gehört. Schon in der ersten Nacht, hat mir meine Mutter kaum den Gute-Nacht-Kuss gegeben und liebe Sachen zu mir gesagt und das Nachtlicht eingedreht, da war auch schon der Großvater an meinem Bett, hat erst einmal das Nachtlicht ausgedreht und gesagt: „Wenn es dunkel ist, ist es dunkel, und wenn es hell ist, ist es hell. Das ist schon ganz recht so.“
„Komm“, hat er dann gesagt, „wir gehen in den Wald.“ Und er hat mir dabei geholfen, mich anzuziehen. „Gutes Schuhwerk“, hat er gesagt, „das ist wichtig heutzutage, früher sind wir alle barfuß gelaufen und es war nicht schlechter.“
Wir sind durch das Haus geschlichen wie Diebe in der Nacht, er hat mir einen Ledergürtel in die Hand gedrückt und gemeint: „Halt dich daran fest, wenn du ihn loslässt, dann findest du vielleicht nicht zurück zu deinem warmen Bettchen und deiner trüben Funzel.“ Ich hab’s natürlich mit der Angst bekommen und den Gürtel ganz fest gehalten, denn den Gürtel hat er bei sich an seinen Gürtel gesteckt und ich war wie an der Leine. „Wickel ihn dir richtig um die Hand“, hat mein Großvater gesagt, als wir auf der Höhe der Kirche waren.
Wir sind die Straßen entlang gelaufen, bis zum Dorf hinaus, und die Straßenlampen haben immer geflackert, als ich und mein Großvater an ihnen vorbeigelaufen sind. Als wir aus dem Dorf draußen waren, und meine Beine schon ganz weh getan haben vom vielen Laufen, hab ich ihn gefragt, ob er mich vielleicht tragen könne, weil meine Beine ja viel kürzer waren als seine. Aber er hat gesagt: „Und meine sind viel, viel älter und tragen mich doch.“ Und dann ist er weitergegangen und weil ich den Ledergürtel um meine Hand gewickelt habe, bin ich ihm auch hinterhergekommen.
Als wir dann über Feldwege gelaufen sind, hab ich ihn gefragt, wie er denn überhaupt was sehen kann, weil ich hab gar nix mehr gesehen, so dunkel war es, und mein Großvater hat gesagt: „Wenn es recht ist, dass du was siehst, dann siehst du auch was.“ Und ist weitergelaufen, bis wir in den Wald gekommen sind.
Später bin ich den Weg noch oft abgegangen, bei Vollmond und in tiefster Nacht. Mal hatte ich eine Fackel dabei und mal eine Maglite, so eine schwere Stabtaschenlampe wie sie Rausschmeißer vor Discotheken tragen. Den Weg aus dem Dorf hab ich immer gefunden, den Weg zum Wald auch, aber im Wald … vielleicht ist sie mit ihm gestorben.
Mein Großvater ist mitten im Wald stehen geblieben, ich hab ja nur noch auf meine Füße geschaut und mich am Gürtel in meiner Hand festgekrallt, so kaputt war ich. „Hier“, hat mein Großvater gesagt und sich auf den Waldboden gesetzt, „iss erstmal was, damit du wieder zu Kräften kommst.“ Dann hat er mit seiner knorrigen Hand in den Waldboden gefasst und sich eine Hand Erde in den Mund geschaufelt. Die Erdkrumen sind ihm im Bart hängen geblieben und haben ihn ganz braun gefärbt.
„Bäh“, hab ich gemacht und mein Großvater hat gelacht.
„Du wirst schon noch lernen, was recht ist“, hat er gesagt und sich eine zweite Hand Erde gegönnt, dann hat er sich flach hingelegt auf dem kalten Waldboden und sich ausgestreckt.
„Das war alles schon hier, bevor wir da waren“, hat er gesagt, „und es wird noch lange da sein, wenn der Stein verwittert ist und das Glas gesprungen. Und wenn das, was auf dem Papier steht, nichts mehr wert ist, so wie die Zeitung, die ich heute gelesen habe. Wen interessiert das morgen noch? Aber der Wald ist da, du musst ihm nur zuhören.“
Ich hab mich neben ihn gesetzt und gelauscht, aber nichts gehört, nur seinen Atem und seine Finger, die Erde aus dem Bart gepult haben.
„Ist dir kalt?“, hat er mich gefragt.
„Nein“, hab ich geantwortet, obwohl ich ja auf dem kalten Waldboden gesessen bin.
„Siehst du“, hat er gesagt, „so ist es recht.“
Ich muss dann eingeschlafen sein, denn das Nächste, an das ich mich erinnere, ist ein Eichhörnchen, das auf meiner Brust sitzt, mich mit Knopfaugen anlugt und ein Nüsschen dreht. Ich hab das Eichhörnchen angeschaut und das Eichhörnchen hat mich angeschaut, mir die Nuss hingehalten, hat sie dann fallen lassen und ist über meine Brust und meine Beine davon gehuscht.
Mein Großvater hat gelacht mit seinem brummigen Braunbärenlachen und gesagt: „Sie werden sie wecken. Morgen wird sie auf uns warten. Komm, Bub. Der Rückweg ist kürzer. Er ist immer kürzer.“
Auf dem Heimweg hab ich ihn noch gefragt, wen er meint und was er so gemacht hat, bevor er „Buh!“ zu mir gesagt hat, aber er hat keine Antwort gegeben und ich war schon ganz kaputt und hab mich auf mein warmes Bett gefreut, und als er dann aus meinem Zimmer gegangen ist, hat er sogar das Nachtlicht eingedreht und gesagt: „Die trübe Funzel.“
Am nächsten Morgen habe ich Muskelkater gehabt, meine Beine waren wie gelähmt, jeder Schritt tat mir weh und hat gezwickt, aber ich hab mir nix anmerken lassen, hab meine Zähne aufeinander gebissen, als ich sie geputzt habe und mich eingekuschelt, wenn mich meine Mutter wieder ganz fest hielt, als würde sie mich nie mehr loslassen wollen.
Von meinem Großvater hab ich kaum was gesehen. Er hat auf der Zeitung von gestern geschnitzt, den ganzen Tag. Was er geschnitzt hat, hab ich nicht sehen können.
Und ich weiß auch nur, dass er was geschnitzt hat, weil er es versteckt hat, als wir alle ins Esszimmer gekommen sind, um mit ihm zu essen.
Aber noch bevor der Topf auf dem Tisch gestanden ist, hat sich mein Großvater vom Tisch erhoben, mit dem Fingerknöchelchen gegen die Fensterscheibe geklopft und gesagt: „Denkt ihr nicht, es ist unrecht? Die Menschen wollen keine Luft in ihren Häusern und kein Licht, aber sie wollen denken, sie haben es. Sie verstopfen die Öffnungen mit Glas. Es ist unrecht.“
Mein Vater hat gesagt: „Unsinn.“ Aber kein Wort weiter. Mein Großvater hat sich wieder an den Tisch gesetzt und es war ganz still, aber aus der Küche hat man ein Scheppern und Klatschen gehört und als ich aufgesprungen bin, um nachzugucken, hab ich gesehen, dass meine Mutter den Topf hat fallen lassen und der ganze Küchenboden überschwemmt war von Nudeln, Gemüse und Suppe. Sogar drei Bockwürstchen hab ich dort schwimmen sehen.
In dieser Nacht sind wir wieder in den Wald gegangen.
Als mein Großvater mich abholen gekommen ist, hatte ich schon das feste Schuhwerk an und die anderen Sachen von gestern Nacht. Er hat mir nur die Schuhe nachbinden müssen, weil ich das damals noch nicht so gut gekonnt habe. Auf dem Weg in den Wald hab ich nicht eine Frage gestellt, ich hab ihn nicht darum gebeten, dass er mich trägt und nicht gejammert oder gemeckert. Weil ich ein bisschen Angst gehabt habe, dass er mich dann nicht mehr mitnimmt.
Der Wald ist laut gewesen, als wir endlich angekommen sind. Eine Eule hat Schuhuuu gemacht und uns aus den Brillen-Augen angesehen. Eichhörnchen sind zu unseren Füßen um die Wette gerannt, über ihre flinken Füßchen gepurzelt und umhergetollt. Ein Fuchs hat uns mit einem Kopfnicken begrüßt und ein Hirsch sein Geweih gesenkt. „Iss“, hat mein Großvater gesagt und mir eine Hand voll Erde gereicht und diesmal, das hatte ich mir fest vorgenommen, hab ich nicht „Bäh“ gesagt, sondern nur den Kopf geschüttelt.
„Ist sie da?“, hat mein Großvater gefragt und den Mund noch voller Erde gehabt.
„Wer?“, hab ich gefragt.
„Still“, hat er geantwortet, „ich rede nicht mit dir, Bub.“
Und dann haben der Großvater und ich eine Stimme gehört, die zwischen den Bäumen hergekommen sein muss. Und die Stimme hat gesagt: „Es ist lange her.“
„Zu lange“, hat mein Großvater zur Antwort gegeben.
„Deine Tochter kommt nicht mehr.“
„Nein. Wir haben versagt.“
„Und wer ist der junge Mann hier?“
„Mein Enkel“, hat der Großvater gesagt.
„Wird er zu mir kommen, wenn du nicht mehr da bist?“, hat die Stimme gefragt und da hab ich erkannt, dass es eine Frauenstimme ist und ich hab auch gesehen, dass die ganzen Tiere einen Kreis um uns gebildet haben, um mich und den Großvater und um die Stimme hinter dem Baum.
„Seine Mutter möchte das nicht“, hat mein Großvater gesagt, „und er ist auch zu jung.“
„Dann ist es bald vorbei“, hat die Stimme gesagt.
Und mein Großvater hat mir zugeflüstert: „Schlaf jetzt.“
Aber ich war noch gar nicht müde und er hat mich am Kopf gepackt und umgedreht, so dass ich auf den Erdboden habe schauen müssen.
„Willst du ihm nicht zeigen, was ihn erwartet, wenn er mir huldigt?“
„Nein, es endet mit mir“, hat der Großvater gesagt, aber ich hab doch etwas gesehen. Aus den Augenwinkeln und weil ich mich so halb umgedreht habe, um zu kiebitzen, da habe ich eine grüne Frau gesehen, ganz nackt. Und ich habe noch oft an sie gedacht und an die Geräusche, die ich gehört habe, während ich auf den Waldboden gestarrt habe und auf die Tiere, die einander gejagt haben und aufeinander gesprungen sind und geschrieen haben.
„Du weißt, was ich von dir erwarte?“, hat die grüne Frau gefragt, als die Tiere still waren und mein Großvater auch.
„Wer ist es?“, hat mein Großvater gefragt.
„Der Pfaffe“, hat die Frau gesagt. „Es ist immer der Pfaffe.“
„Ich habe dich vermisst“, hat mein Großvater gesagt.
„Ich weiß“, hat die grüne Frau gesagt.
Auf dem Nachhauseweg hab ich viele Fragen gehabt, aber nicht eine gestellt. Denn mein Großvater hat mich gefragt, was ich mal machen möchte, und ob meine Mutter gut zu mir ist und ob mein Vater ein rechter Mann ist und wie es mir in der Kirche gefällt, wie es da riecht und wie der Herr Pfarrer so ist. Und ich hab gesagt, dass meine Mutter die liebste Frau auf der ganzen Welt ist und mein Vater ein rechter Mann und dass ich die Kirche nicht mag, weil das Holz zu hart ist, und dass der Herr Pfarrer mit einer hohen Stimme spricht und dass ich noch nicht weiß, was ich mal werden will, weil ich es albern finde, Zugführer zu werden. Und wir haben so viel miteinander geredet, dass der Heimweg ganz schnell an uns vorbeigezogen ist.
An den nächsten Tag erinnere ich mich kaum. Mein Großvater war, glaube ich, nicht mal beim Essen da. Vielleicht hat er noch mit meiner Mutter gesprochen, weil ich noch weiß, dass sie mich mal losgelassen hat und raus gegangen ist, aus ihrem Schlafzimmer, aber da bin ich mir nicht so sicher. Ich hab den ganzen Tag damals an die grüne Frau denken müssen und an die Geräusche, die mein Großvater gemacht hat. Und ich hab Angst gehabt, dass meine Mutter vielleicht meine dreckigen Schuhe findet oder die Jacke, an der bestimmt noch Walderde geklebt hat und dass sie mir verbietet, mit dem Großvater wieder in den Wald zu gehen.
Und als es dann endlich Nacht war, hatte ich meine Schuhe an und auch meine Jacke und alles, was ich gestern auch anhatte, ich hab mich gar nicht mehr kaputt gefühlt und mir fest vorgenommen, heute wirklich mal Erde zu essen, aber mein Großvater ist und ist nicht gekommen, so dass ich schon nervös vor meinem Bett umhergetigert bin und das Nachtlicht ausgedreht und zu ihm gesagt habe: „Du trübe Funzel, du bist unrecht.“
Irgendwann ist dann doch die Tür zu meinem Zimmer aufgegangen und mein Großvater ist hereingekommen, er hat schlecht gerochen, nach Alkohol, aber ich hab damals nicht gewusst, dass es Alkohol ist und mich nur gewundert, dass er mit so schwerer Zunge spricht.
„Bub“, hat er gesagt, „es hört bald auf. Hier, nimm das Kästchen, das hab ich für dich geschnitzt. Jeder Mann, das ist recht so, sollte so ein Kästchen haben. Eine Schatulle. Etwas nur für dich.“ Dann hat er mir ein Holzkästchen aufs Bett geworfen und gesagt: „Bin spät dran, guck, dass was Rechtes aus dir wird.“ Er ist mir über den Kopf gefahren, so als wäre ich ein kleiner Junge, und hat die Tür geöffnet. Und im Türspalt hab ich dann gesehen, dass er sich seinen weißen Bart abrasiert hat und dass die Haut unter dem Bart ganz knorrig gewesen ist und mit kleinen Strichen darin, wie Narben.
Ich hab vier oder fünf Atemzüge gewartet und bin ihm gefolgt. Er hat Krach gemacht, ist im Haus überall angestoßen, hat die Haustür nur schwer aufbekommen und als ich hinausgehuscht bin, hab ich noch meinen Vater gehört, dem das Gepolter wohl auch aufgefallen ist. Mein Großvater ist durchs Dorf getorkelt und jede Straßenlaterne, unter der er hindurch gelaufen ist, hat geflackert und ist ausgegangen. Ich hab mich hinter ihm gehalten, aber er hat mich eh nicht sehen können, und ich hab ja gewusst, wo er hingewollt ist. In die Kirche.
Ich hab ihn verschwinden sehen, im schweren Kirchenportal und hab draußen auf ihn gewartet. Mir war kalt und ich hab mich gefürchtet, an der Tür hab ich gelauscht, aber die war so dick, dass ich gar nix hören konnte.
Und irgendwann, da hab ich all meinen Mut zusammengenommen und bin doch hinein. Mein Großvater ist dagestanden vor dem Altar und hat darauf gepullert. „Asche“, hat mein Großvater geschrieen und sich die Hose hochgezogen. „Die Holzbänke schmecken nach Asche.“ Er hat einen Messbecher genommen und ihn gegen das Glasfenster geschmissen, wo das Jesuskind abgebildet war, und mein Großvater hat sich wild umgedreht und mit den Armen herumgefuchtelt.
Ich hab mich hinter eine der Holzbänke versteckt und da hab ich ihn kommen gehört. Den Herrn Pfarrer.
„Was in Gottes Namen tun Sie da?“, hat er geschrieen mit seiner Mädchenstimme. „Ist Ihnen denn nichts heilig?“
„Doch!“, hat mein Großvater zurück geschrieen. „Aber hier ist nur Asche und Glas und Stein.“
„Ist das so?“, hat der Herr Pfarrer gesagt und sich einen schweren Kerzenständer vom Steinaltar geschnappt.
„Ja, so ist es“, hat der Großvater gesagt und das Schnitzmesser aus seiner Jacke gezogen.
Der Herr Pfarrer hat den Kopf nach links und rechts gewiegt und es hat richtig geknackt und er hat den schweren Kerzenständer von einer Hand in die andere gewechselt und die kahle Stelle auf seinem Hinterkopf ist ganz durchsichtig geworden, so als wäre er aus Glas oder aus Papier.
Und mein Großvater hat gesagt: „Das ist recht so.“ Und hat sich auf den Herrn Pfarrer gestürzt mit dem Messer weit über seinem Kopf.
Der Herr Pfarrer ist nach hinten ausgewichen und gestolpert und er muss wohl mit seinem ganzen Gewicht gegen eine der Holzbänke geflogen sein, denn ich weiß noch, dass ein Rucken durch all die Holzbänke gegangen ist, und dass mich die Holzbank, hinter der ich mich versteckt hatte, am Kopf getroffen hat. Und ich weiß noch, dass sie nach Asche geschmeckt hat.
Als ich wieder zu mir gekommen bin, hat die Kirche schon in Flammen gestanden. Die Bänke rechts und links von mir haben gebrannt wie Zunder. Ich bin auf allen Vieren vorwärts gekrochen, Blut ist durch meine Augenbrauen hindurch gelaufen, und hat den Boden rot gefärbt. Und da hab ich meinen Großvater liegen sehen, mit dem Rücken an den Altar gelehnt. Ich bin schneller auf ihn zugekrabbelt, hab ihm in sein knorriges Gesicht geschaut, mit all den Äderchen und den kohleschwarzen Augen.
„Bub“, hat er gesagt.
„Großvater“, hab ich gesagt.
Und er hat geblinzelt und gesagt: „So hat mich ja noch nie einer genannt.“ Und er hat sein brummiges Braunbärenlachen gelacht, aber dabei ist ihm Blut aus dem Mund geflossen.
„Hier“, hat er gesagt, „nimm das und tu’s in die Schatulle, die ich dir gegeben hab. So ist es dann recht und jetzt lauf, mein Bub, lauf.“
Mir sind die Tränen in die Augen geschossen und ich hab was in meinen Händen gespürt, etwas ganz Kaltes. Das hab ich mir dann sofort unter meine Jacke gesteckt. Es hat gezischt und geprasselt neben mir und Steine sind von der Decke nach unten gebröckelt.
Ich bin weggekrabbelt vom Großvater, hab mich aufgerichtet und bin gleich wieder hingefallen, der Rauch hat in meine Lungen gebissen und meine Augen haben so getränt, dass ich nichts mehr sehen konnte. Unter meiner Jacke hat das Ding kalt gegen meinen Bauch gepocht und überall sind Steine runter gefallen. Als ich dann irgendwann bei der schweren Holztüre gewesen bin, hab ich mich noch mal umgedreht, und am Kreuz hing der Herr Pfarrer und ihm hat die linke Hand gefehlt.
So ist die Geschichte, so erinnere ich mich an sie und an nichts anderes.
Die Zeitungen sprachen von Vandalismus, von einem Akt der Gewalt und der Gotteslästerei, von Blasphemie.
Meine Mutter hat nie wieder ein Wort gesprochen, mein Vater hat seine Sachen gepackt, seine stumme Frau und mich und wir sind weggezogen.
Und wenn ich heute in den Wald gehe und die grüne Frau nicht finde, dann denke ich auch, dass ich durcheinander gekommen sein muss. Dass alles nicht passt. Dass mein Großvater ein armer Irrer gewesen sein muss, das Hirn zersetzt von Alkohol und der Syphilis, so wie es später hieß. Dass er in den Jahren, die er weg war, richtig weg war. Eingeschlossen in einer Psychiatrie, weggeschlossen von der Welt. Dass er ein Irrer war, ein gefährlicher Irrer und nur Leid und Verderben über alle brachte, die ihm was bedeuteten. Und dass der arme Herr Pfarrer ein guter Mensch war, ein gottesfürchtiger, rechter Mensch, der für seinen Glauben lebte und starb. Selig gesprochen ist er schon, ein Märtyrer vor dem Herren.
Und doch, wenn die anderen Recht haben, warum, warum, warum nur? Warum schaue ich jedes Mal, wenn ich die Schatulle meines Großvaters öffne, auf eine Hand aus Glas?