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Steine

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15.05.2007
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Steine

Die Nacht war wie aus Blei gegossen. Der Tag öffnete sich wie eine dunkle Schleuse.

Vor jungen Leuten eine Rede gehalten, Abiturienten und Erstsemestler. Eine Rede ohne Tragfläche. Andauernd mußte ich mich vor Abstürzen retten. Uninteressierte Aufmerksamkeit schlug mir entgegen. Offene Gesichter mit verschlossenem Geist. Ich wand mich vor dem Mikrophon, mein Brüllen geriet zu einem schrillen Hecheln. Ich verstrickte mich in erkennbare Widersprüche. Keine Hand rührte sich, keine Faust ballte sich.

Offene Gesichter, aber ohne Ausdruck in den Blicken, ohne Zeichen der Anteilnahme.
Ich wollte meine Rede abbrechen, aber ich konnte nicht.
Ich wollte das Podium verlassen, und blieb dennoch an ihm kleben.
Während dieser Rede erkannte ich wie noch nie bei einer Rede zuvor den Unsinn, der mir so leicht über die Lippen kam. Diese Erkenntnis traf mich, und ich wartete auf den Einschlag. Nichts.
Ich forcierte das Tempo, ich log noch mehr, ich machte mich eklig vor ihnen. Irgendwie kam ich zum Ende. Artiger Applaus wehte mir sanft entgegen. Jemand erhob sich und dankte mir. Ein anderer schüttelte mir die Hand.
Sie logen mir ins Gesicht und bekundeten Erleuchtung, die sie erfasst hätte während meines Vortrages. Ich erklärte meinerseits meine Dankbarkeit für die Einladung.

Ich benutzte wieder das Wort Zukunft und alle glaubten ich meine die jungen Menschen.
Ich meinte aber eigentlich damit, daß sie keine hätten.
Ich meinte meine Zukunft, die mir viel näher am Herzen lag, als die irgendeines anderen Menschen.
Selbst die Zukunft meiner Kinder ist mir egal, die werden sowieso alles anders machen. Alle Kinder machen immer alles anders als ihre Eltern.

Ich mußte nun noch eine weitere Stunde das Radebrechen anderer Redner über mich ergehen lassen. Es kam mir vor, als furzten sie aus ihren Mündern. Roch denn niemand den Gestank, der sich um uns herum ausbreitete?
Ich saß vorne in der ersten Reihe. Gern hätte ich mich umgewandt und in die Gesichter des Publikums gesehen. Es kostete viel Kraft, das nicht zu tun.

Mein Nacken wurde ganz steif. Mein Sitz hatte keine Armlehnen, an denen ich mich hätte festhalten können. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Das Licht über dem Podium blendete mich. Die riesengroße Aufschrift an der Rückwand in grellroten Lettern blendete mich. Die zwei Kameras, links und rechts auf der Bühne, wurden ständig in meine Richtung geschwenkt. Ich glaubte, Signale von ihnen zu empfangen, die in meinen Körper eindrangen. Oder war ich es, der Signale aussendete? Jedes Zucken in meinem Gesicht würde den Berichterstattern ein Kommentar Wert sein.

Der zugesagten Podiumsdiskussion entzog ich mich dann mit der Ausrede nicht zu ändernder wichtiger Termine und verabschiedete mich freundlich, dabei half mir meine Maske wie schon so oft.
Draußen lümmelten Journalisten herum und pöbelten mich mit dummen Fragen an, ob ich die Meldung von meinem bevorstehenden Rücktritt kommentieren würde. Alles Unsinn, log ich dreist und attackierte die Opposition. Die sei unfähig, die anstehenden Probleme des Landes auch nur ansatzweise lösen zu können.

Dann stieg ich in meinen Dienstwagen und mein Chauffeur fuhr mich ins Büro. Unterwegs erreichte mich der Anruf eines Radiosenders, ob das Interview am folgenden Morgen um eine halbe Stunde vorgezogen werden könnte. Ich sagte zu, ich kannte die Moderatorin, sie war jung und hartnäckig und hatte sich den Ruf einer fairen Journalistin erworben, ich wußte auch, daß sie unserer Partei zumindest nicht ablehnend gegenüber stand.
Am Nachmittag hatte ich eine Ausschußsitzung und mußte eine Niederlage einstecken, denn meine Änderungsvorschläge fanden keine Mehrheit, im Gegenteil, F. hatte Mängel an der Finanzierung aufgedeckt und warf mir schlampige Zuarbeit vor. Es kam zu einem heftigen Disput zwischen ihm und mir und ich verließ die Sitzung daraufhin. Ich hatte keine Kraft mehr. Nein: Ich hatte keine Argumente mehr.
Zorn, Ärger, Verzweiflung.

Schnell den üblichen Anruf an Irene erledigt. Ich würgte ihre Jammerei mit einem wichtigen Termin ab. Wieder wollten die Kinder nicht mit mir sprechen.
Abends war meine Teilnahme an einer Wahlkampfveranstaltung vorgesehen, in drei Wochen standen Kommunalwahlen an und die schlechten Umfrageergebnisse für uns machten zusätzliche Anstrengungen nötig. Am späten Nachmittag traf ich mich mit G. und Frau H. und gemeinsam gingen wir essen. Ohne Appetit schlang ich den Thunfischsalat hinunter und auch das Weizenbier schmeckte mir nicht. Ich rauchte viel und hörte dem Gespräch wie aus weiter Ferne zu.
Als G. kurz zur Toilette ging, fragte die H., ob wir uns nicht mal wieder treffen könnten, sie habe ja jetzt, nach ihrer Scheidung, mehr Freizeit als früher. Lächelnd gab ich meine Zustimmung. Wenigstens vor ihr wollte ich nicht als Versager dastehen. Sie hatte gewisse Neigungen. Sie mochte es, wenn man sie fesselte und manchmal auch knebelte und ihr echtes oder gespieltes nymphomanisches Verhalten machte das Zusammensein mit ihr zu einem begehrenswerten Augenblick
Ich sagte ihr, ich würde mich bei ihr melden, vielleicht könnte es am Wochenende was werden. Schon war G. wieder zurück und das belanglose Geplauder ging noch eine Weile weiter; ich verabschiedete mich mit einer Ausrede.
Ekelattacke, dann Müdigkeit. Erkenntnisüberfall mit nachfolgender Übelkeit. Kotzgefühle.

Ich spürte wie meine Maske immer schneller verrutschte.
Ich war erschöpft, hatte aber keine Gelegenheit mich einige Minuten aufs Ohr zu legen.
Ich ging etwas spazieren, wurde dabei von zwei Anrufen gestört. Ich leugnete alles.
Nein, es würde keinen Untersuchungsausschuss geben. Nein, ich wußte nichts von Geldern, die unrechtmäßig auf mein Konto geflossen seien. Ich dementierte mit scharfen Worten und verbat mir Unterstellungen.

Ich spürte den heißen Atem der Hyänen in meinem Nacken.
Ich wußte, daß man über meinen Abgang hinter vorgehaltener Hand schon lange redete und ich wußte auch, daß eifrige Rivalen und Rivalinnen bereit waren, mein Amt einzunehmen. Die Stellungnahmen zu meinen Gunsten waren in den letzten Tagen verwaschener und mehrdeutig interpretierbar geworden. Die Parteifreunde rückten von mir ab, Stück für Stück und jeden Tag ein bißchen mehr und jeden Tag ein bißchen deutlicher.
Ich war zum Abschuß freigegeben.
Der letzte Akt hatte begonnen. Ich konnte selbst den Vorhang herunterziehen.

Eine Weile stand ich am Ufer des breiten Stromes.
Von der Brücke ein Stück flußaufwärts drangen die Geräusche der Straßenbahn zu mir. Ein paar Steine müßte ich in meine Taschen packen, die Hände festbinden, vorher vielleicht Tabletten nehmen, Alkohol, Drogen. Ein paar Sekunden nur würde es dauern. Ein letzter Schmerz. Ein Abgang in Ehre.
An dieser Stelle hatte der Fluß eine Tiefe von zehn, zwölf Metern.
Ich mußte einen Anfang machen. Einen ersten Schritt.
Ich nahm mein Handy aus der Tasche und nachdem ich mich vergewissert hatte, nicht beobachtet zu werden, warf ich es in hohem Bogen ins Wasser. Mein Herz klopfte heftig. So könnte es gehen, dachte ich.

Ich sah mich um und trat dann aus mir heraus.
Allmählich, wie ein bummelnder Spaziergänger, entfernte ich mich von mir.
Der Abstand wurde größer. Meine zurückgelassene Hülle blieb gelangweilt am Ufer stehen und rauchte eine Zigarette. Ich hätte übers Wasser gehen können, ich hätte im Himmel verschwinden können. Ich war wie langsam schmelzendes Blei, das sich mit den Fluten des Flußes vermischte, an eine Rückkehr war nicht mehr zu denken.
Die Steine in meiner Tasche waren leicht wie Luft.

 
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Hallo Hawowi!

Mir gefällt Deine Geschichte sehr gut, obwohl ich mir beim Schluß nicht ganz sicher bin.
Karriere ist ein gutes Mittel, um (sich selbst) zu verdrängen bzw. das brave Kind weiterzuspielen, das alles macht, auch wenn es nicht dem eigenen Denken entspricht, um gelobt zu werden, weil es Lob für Liebe hält. Gelernt ist gelernt, und so geht es Deinem Protagonisten scheinbar gut, solange ihm die Karriere Anerkennung einbringt.

Draußen lümmelten Journalisten herum und pöbelten mich mit dummen Fragen an, ob ich die Meldung von meinem bevorstehenden Rücktritt kommentieren würde.
Jetzt, wo es bergab geht, die "Maske verrutscht", kommt er auch sich selbst näher. Er erkennt Widersprüche und daß die anderen ebenfalls nur ein Spiel spielen, erkennt die Lügen, und vor allem beginnt er wieder, zu fühlen und zeigt heftige körperliche Reaktionen.
Roch denn niemand den Gestank, der sich um uns herum ausbreitete?
Schön. Besonders gefällt mir, daß Du zeigst, daß er kein Einzelfall ist - auch schon zu Beginn:
Ich forcierte das Tempo, ich log noch mehr, ich machte mich eklig vor ihnen. Irgendwie kam ich zum Ende. Artiger Applaus wehte mir sanft entgegen. Jemand erhob sich und dankte mir. Ein anderer schüttelte mir die Hand.
Sie logen mir ins Gesicht und bekundeten Erleuchtung, die sie erfaßt hätte während meines Vortrages.
:thumbsup:

Beim Schluß bin ich mir wie gesagt nicht sicher. Ich habe das Gefühl, er bringt sich gar nicht um, sondern nur seine alte Identität bzw. seine Maske.
Er tritt aus sich heraus, schreibst Du, und daß er sich entfernt, wie ein Spaziergänger, und daß die Hülle am Ufer stehen bleibt ... Und davor hatte er eine Idee:

So könnte es gehen, dachte ich.
Also meiner Meinung nach ist er untergetaucht, und das nicht im Wasser.
Da er sich auch gerade wieder zu spüren und zu finden begonnen hat, wäre es auch psychounlogisch, wenn er sich gerade da umbringt. Bestimmt ist er schon irgendwo auf einer warmen Insel ...

Ich saß vorne in der ersten Reihe. Gern hätte ich mich umgewandt und dem Publikum ins Gesicht gesehen. Ich mußte alle Kraft aufwenden, um mich nicht umzudrehen.
Das Publikum hat nur ein Gesicht? Vorschlag: Gern hätte ich nach hinten in die Gesichter des Publikums gesehen.

drangen die Geräusche der Straßenbahn zu mir. Ich müßte mir Steine in die Taschen packen, die Hände festbinden
Wenn Du "Ich müßte Steine in meine Taschen packen" oder "Steine müßte ich in meine Taschen packen" schreibst, wiederholt sich das "mir" nicht.

Ich war wie langsam zerschmelzendes Blei,
schmelzendes ohne zer-


Liebe Grüße,
Susi :)

PS.: Da hab ich noch einen Punkt vergessen: Als die Steine am Schluß leicht werden, das interpretiere ich so, daß ihn nun der Ballast nicht mehr spürt, der ihn sonst beschwert hat.

 

Hallo liebe Leser und Kommentierer,

vielen Dank für die Bemerkungen und daß ihr Zeit und Mühe aufgewendet habt.

Bluefin
Deiner Antwort ist ja deutlich zu entnehmen, daß du Politikern gegenüber generell nicht besonders positiv eingestellt bist. Daß du gleich alle über einen Haufen wirfst, stört mich zwar, kann ich aber akzeptieren. Deinen Vorschlag, mich einem Pfarrer zu widmen, kann ich momentan nicht realisieren und entschlacken werde ich nichts (höchstens mich selber, da sind 'n paar Pfund , die runter müssen).
Was mir grad auf- und einfällt ist, daß Politiker in literarischen Texten der Gegenwart kaum anzutreffen sind - wie's hier bei KG.de aussieht weiß ich nicht, bin noch zu frisch hier. Vielleicht ist man überfüttert von ihnen? Jeden Tag sind sie zu sehen, zu hören - und dann auch noch über sie lesen? Aber es kommt ja immer darauf an, wie man schreibt...
Übriegens ist mir nicht aufgefallen, daß der von mir dargestellte Typ lyrisch ist. Interessante Bemerkung.

Danke für deinen Beitrag


Hallo Herr Bernhard
Auch dir vielen Dank für's Lesen und vor allen Dingen für's Vorschläge machen. Ist das Gedicht übrigens von dir?

Ob die häufige Verwendung des Personalpronomens ICH die Leser ermüdet müßte man austesten. Bei dir hat es anscheinend so gewirkt, daß du von Eintönigkeit sprichst. Während des Schreibens ist mir das ehrlich gesagt gar nicht aufgefallen, jetzt, wo du's erwähnst hab ich den Text daraufhin durchgelesen und fand das in einigen, aber wenigen, Punkten bestätigt. Dieses ICH ist ja für den Erzähler wichtig. Deshalb laße ich es größtenteils stehen.
Wenn ich die von dir genannte Stelle mit der Maske deinem Vorschlag gemäß ändere (Welch ein Gefühl, zu spüren, wie meine Maske immer schneller verrutschte), entsteht allerdings eine neue Situation: Der Typ gesteht sich Gefühle zu, die ich ihm aber nicht zubilligen will!

Also wird der Text im großen und ganzen so bleiben - aber dein Einwand beschäftigt mich noch, nur weiß ich z. Zt. nicht, ob ich nochmal tiefer in die Geschichte einsteigen will.

Ich danke nochmal für den stilistischen Hinweis.

Hallo Häferl und Susi

Danke für die positive Aufnahme. Deine Veränderungsvorschläge habe ich aufgegriffen und dementsprechend in den Text eingefügt.
In der Tat ist es so, daß der Erzähler am Ende nicht wirklich ins Wasser geht, er stellt es sich lediglich vor, er streift sozusagen sein ihn selbst anekelndes ICH ab, glaubt zumindest das zu tun. Die Steine stehen für die Last, die nun scheinbar von ihm genommen ist. Aber damit hat er sich schon wieder eine neue Lüge vorgemacht.

Ich danke dir für deine freundlichen Worte.

Grüße an alle
Hawowi

 

Hallo Hawowi

einen wirklich beeindruckenden Text hast du hier abgeliefert. Ein sehr straker Einstieg. Von deiner Wortgewalt ist das erste Drittel der Geshcichte am stärksten, aber schwächeln tut sie an keiner Stelle.
Darüber zu philosophieren, ob denn nun ein Mensch, wie den, den du darstellst tatsächlich so empfinden würde, halte ich für müßig. Entscheidend ist doch, was du mit der Kg im Leser auslöst. Da geht es nicht um Einhaltung der Wahrscheinlichkeit. Gerade unwahrscheinliche Aspekte lösen doch die stärksten Regungen hervor und öffnen mitunter sogar neue Perspektivwinkel.

Mich hast du auf jeden Fall mit deinem Gedanken erreicht.
Das Ende der Geshcichte finde ich sehr gekonnt. Du determinierst nicht, was denn nun wirklich aus deinem Prot wird. Eine Lesart wäre, dass du ihn am Ende schier der Wirklichkeit enthebst...

Den Titel finde ich übrigens gut gewählt. Ich habe die Steine gleich als die Bürden interpretiert, die wir uns auf unserem steinigen Weg selbst aufladen, schwer daran schleppend, doch aus Angst vor einer Entscheidungs sie nicht loslassen könnend. Am Ende fällt dein Prot eine Entscheidung - und siehe da...

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo Hawowi,

mir erschließt sich die Geschichte so, dass dein Prot. vor sich selbst die Maske nicht mehr aufrechterhalten konnte, dass die Scheinbarkeit sich auflöst und er sich nackt vor kommt, keine Maske kann die Wirklichkeit verhüllen, jedenfalls nicht auf Ewig. Der letzte Schritt, um vor sich selbst zu bestehen, kann ich Anfang oder ein Ende sein ... das zu entscheiden bleibt offen.

Hat mir sehr gefallen deine Geschichte.
liebe Grüße Weltflucht

 

Grüß dich Bluefin

Ich sage: Gerade weil der Typ Angst vor der Verantwortung (dein Zitat) hat und all die daraus entstehenden Konsequenzen fürchtet, beginnt er auch Ekel vor sich selbst zu empfinden. Ist doch denkbar, oder? Und wenn es nur für einen Moment ist. Und wenn es auch geheuchelt ist. Diese Situation habe ich geschildert.
Ich gehe nicht davon aus, daß die Politiker aus einer Klon-Fabrik ausgespuckt werden und alle gleich funktionieren. Ich kenne auch nicht alle Politker, um so was behaupten zu können. Wie ist es mit dir?
Außerdem: Für mich ist literarisch nichts spannender als die Schieflage eines Charakters. Das erst macht eine Figur in meinen Augen interessant.

Und dann: Es war nicht Uwe B, an den ich gedacht habe. Ich schwöre ;).

Bis dann
Hawowi

 

Hallo Weltenläufer
Hallo Weltflucht

Danke für Eure positive Anteilnahme an meinem Text. Solche freundlichen und konstruktiven Kommentare entschädigen für die Augenblicke beim Schreiben, wo man denkt, ist das nicht eigentlich alles Murks, was du da treibst?
Möglicherweise kennt ihr das...?

Herzliche Grüße an Euch wünscht
Hawowi

 

Hi Hawowi!

Eine interessante Charakterstudie, die du da geschrieben hast. Der Ausgangspunkt deiner Geschichte ist wahrscheinlich die Frage: Was passiert, wenn einen Menschen, der sich durch die Institutionen der Macht nach oben geboxt/intrigiert und sich korrumpieren lassen hat, bis er über seine Verfehlungen stolpert, plötzlich die Selbsterkenntnis überkommt und ihm die Sinnlosigkeit all seines bisherigen Strebens und Tuns bewusst wird? Und für eine solche Studie bietet sich der Typus Politiker am ehesten an, weil er viel anfälliger ist für den Höhenrausch der Wichtigkeit als zum Beispiel ein Manager. Denn in seinem Beruf dreht sich so gut wie alles um öffentliche Bedeutung und Aufmerksamkeit, fast nichts um wirkliches Engagement für das Wohl der Allgemeinheit.
Ob diese Selbsterkenntnis einen Politiker im realen Leben übermannen könnte oder ob in der Politik nur durch und durch böse Menschen den Weg nach oben finden, die nicht dazu fähig sind, ist hier nebensächlich und auch nicht diskutierbar. Es geht dir schließlich nur um die psychologischen Vorgänge, und die hast du, was mich betrifft, glaubwürdig rübergebracht. Die Erkenntnis des Prots, dass alles bisherige Tun sinnlos war, drängt sich in seiner Situation geradezu auf; schließlich stürzt sein Lebenswerk, das nur aus Lügen und Illusionen besteht, gerade wie ein Kartenhaus zusammen. Und ob und wie er sich ändern wird, wissen wir auch nicht. Am Ende steht eigentlich nur der Traum einer Weltflucht, von der wir nicht erfahren, ob und wie er sie in sein wirkliches Leben übersetzen wird.

Was den Stil betrifft und die kraftvolle Metaphorik, kann sich manch einer von den alteingesessenen Mitgliedern eine Scheibe von dir abschneiden. Wirklich stark. :thumbsup: Besonders die Eingangsszene ist dir wunderbar gelungen. Man fühlt richtig, wie der Prot unter der Gefangenschaft in seiner politischen Charaktermaske leidet. Je mehr er sich innerlich sträubt, desto schlimmer wird es für ihn, weil er seiner Rolle nicht entfliehen kann. Er hat nur die Wahl zwischen endgültiger Blamage und weiteren Lügen, die seinen Selbstekel vertiefen. Ein Problem, das seine Gesamtsituation kennzeichnet.

Ich würde allerdings empfehlen, eine solche icherzählerische Innenbetrachtung in der Gegenwartsform zu schreiben. Man fühlt sich dem Prot einfach viel näher.

Ein paar Einzelheiten:

Vor jungen Leuten eine Rede gehalten, Abiturienten und Erstsemestler.

Der abgehackte Stil taucht sonst nirgendwo im Text auf und ist daher ein etwas störender Stilbruch.

Ich wollte meine Rede abbrechen, aber ich konnte nicht.

Diese Erkenntnis traf mich, und ich wartete auf den Einschlag.

Sie logen mir ins Gesicht und bekundeten Erleuchtung, die sie erfasst hätte während meines Vortrages.

Die ss-Regelung hast du wohl noch nicht so ganz drauf. Denk immer dran, bei kurz gesprochenen Vokalen das Doppel-S anzubringen. :teach:

Ich benutzte wieder das Wort Zukunft und alle glaubten, ich meinte die jungen Menschen.

Ich meine. Konjunktiv.

Mein Sitz hatte keine Armlehnen, an denen ich mich hätte festhalten können.

Ein gutes Bild für seine Unsicherheit übrigens.

Von den zwei Kameras, links und rechts auf der Bühne, spürte ich Signale ausgehen, die in meinen Körper eindrangen.

Hier ist mir nicht ganz klar, was damit gemeint ist.

Alles Unsinn, log ich dreist und attackierte die Opposition, denn die sei unfähig, die anstehenden Probleme des Landes auch nur ansatzweise lösen zu können.

Das ist ein grammatisch ziemlich unsinniger Satz. ;)
Von Imperfekt zu Konjunktiv im selben Sinnzusammenhang eines Satzes zu wechseln ist inkorrekt. Es müsste heißen: "... attackierte die Opposition. Die sei unfähig ..."
Und Unfähigkeit zum Können sollte man der Opposition lieber nicht unterstellen, denn das hieße, sie habe kein Potential zum Können. Das meint dein Prot aber nicht. Er meint "unfähig zu lösen".

So, muss weg. Auf Wunsch kann ich auch den Rest noch mal durchgehen.

Ciao, Megabjörnie

 

Hallo Megabjörnie,
herzlichen Dank für deinen engagierten und sehr positiven Kommentar. Ich habe deine Vorschläge gerne übernommen und etwas variiert, die Stelle mit den Signalen erweitert und ergänzt. Den abgehackten Satz möchte ich allerdings so stehen lassen, ich habe nicht den Eindruck, dass hier ein Stilbruch vorliegt. Es ist so, wie der Eintrag in einem Tagebuch, oder wie eine kurze Bemerkung während des Telefonierens. Auch in den nachfolgenden Teilen benutze ich immer wieder kurze Sätze, die auch eine Art Hektik wiedergeben sollen. An diesem Tag brechen seine unterdrückten Gefühle heraus, er befindet sich in einem desolaten Zustand. Solch ein Gefühl versuchte ich darzustellen.
Schön, dass dir diese Art Prosa gefallen hat.
Ich danke dir nochmals für die Tipps und das große Lob.

Viele Grüße
Hawowi

 

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