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Steine
Die Nacht war wie aus Blei gegossen. Der Tag öffnete sich wie eine dunkle Schleuse.
Vor jungen Leuten eine Rede gehalten, Abiturienten und Erstsemestler. Eine Rede ohne Tragfläche. Andauernd mußte ich mich vor Abstürzen retten. Uninteressierte Aufmerksamkeit schlug mir entgegen. Offene Gesichter mit verschlossenem Geist. Ich wand mich vor dem Mikrophon, mein Brüllen geriet zu einem schrillen Hecheln. Ich verstrickte mich in erkennbare Widersprüche. Keine Hand rührte sich, keine Faust ballte sich.
Offene Gesichter, aber ohne Ausdruck in den Blicken, ohne Zeichen der Anteilnahme.
Ich wollte meine Rede abbrechen, aber ich konnte nicht.
Ich wollte das Podium verlassen, und blieb dennoch an ihm kleben.
Während dieser Rede erkannte ich wie noch nie bei einer Rede zuvor den Unsinn, der mir so leicht über die Lippen kam. Diese Erkenntnis traf mich, und ich wartete auf den Einschlag. Nichts.
Ich forcierte das Tempo, ich log noch mehr, ich machte mich eklig vor ihnen. Irgendwie kam ich zum Ende. Artiger Applaus wehte mir sanft entgegen. Jemand erhob sich und dankte mir. Ein anderer schüttelte mir die Hand.
Sie logen mir ins Gesicht und bekundeten Erleuchtung, die sie erfasst hätte während meines Vortrages. Ich erklärte meinerseits meine Dankbarkeit für die Einladung.
Ich benutzte wieder das Wort Zukunft und alle glaubten ich meine die jungen Menschen.
Ich meinte aber eigentlich damit, daß sie keine hätten.
Ich meinte meine Zukunft, die mir viel näher am Herzen lag, als die irgendeines anderen Menschen.
Selbst die Zukunft meiner Kinder ist mir egal, die werden sowieso alles anders machen. Alle Kinder machen immer alles anders als ihre Eltern.
Ich mußte nun noch eine weitere Stunde das Radebrechen anderer Redner über mich ergehen lassen. Es kam mir vor, als furzten sie aus ihren Mündern. Roch denn niemand den Gestank, der sich um uns herum ausbreitete?
Ich saß vorne in der ersten Reihe. Gern hätte ich mich umgewandt und in die Gesichter des Publikums gesehen. Es kostete viel Kraft, das nicht zu tun.
Mein Nacken wurde ganz steif. Mein Sitz hatte keine Armlehnen, an denen ich mich hätte festhalten können. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Das Licht über dem Podium blendete mich. Die riesengroße Aufschrift an der Rückwand in grellroten Lettern blendete mich. Die zwei Kameras, links und rechts auf der Bühne, wurden ständig in meine Richtung geschwenkt. Ich glaubte, Signale von ihnen zu empfangen, die in meinen Körper eindrangen. Oder war ich es, der Signale aussendete? Jedes Zucken in meinem Gesicht würde den Berichterstattern ein Kommentar Wert sein.
Der zugesagten Podiumsdiskussion entzog ich mich dann mit der Ausrede nicht zu ändernder wichtiger Termine und verabschiedete mich freundlich, dabei half mir meine Maske wie schon so oft.
Draußen lümmelten Journalisten herum und pöbelten mich mit dummen Fragen an, ob ich die Meldung von meinem bevorstehenden Rücktritt kommentieren würde. Alles Unsinn, log ich dreist und attackierte die Opposition. Die sei unfähig, die anstehenden Probleme des Landes auch nur ansatzweise lösen zu können.
Dann stieg ich in meinen Dienstwagen und mein Chauffeur fuhr mich ins Büro. Unterwegs erreichte mich der Anruf eines Radiosenders, ob das Interview am folgenden Morgen um eine halbe Stunde vorgezogen werden könnte. Ich sagte zu, ich kannte die Moderatorin, sie war jung und hartnäckig und hatte sich den Ruf einer fairen Journalistin erworben, ich wußte auch, daß sie unserer Partei zumindest nicht ablehnend gegenüber stand.
Am Nachmittag hatte ich eine Ausschußsitzung und mußte eine Niederlage einstecken, denn meine Änderungsvorschläge fanden keine Mehrheit, im Gegenteil, F. hatte Mängel an der Finanzierung aufgedeckt und warf mir schlampige Zuarbeit vor. Es kam zu einem heftigen Disput zwischen ihm und mir und ich verließ die Sitzung daraufhin. Ich hatte keine Kraft mehr. Nein: Ich hatte keine Argumente mehr.
Zorn, Ärger, Verzweiflung.
Schnell den üblichen Anruf an Irene erledigt. Ich würgte ihre Jammerei mit einem wichtigen Termin ab. Wieder wollten die Kinder nicht mit mir sprechen.
Abends war meine Teilnahme an einer Wahlkampfveranstaltung vorgesehen, in drei Wochen standen Kommunalwahlen an und die schlechten Umfrageergebnisse für uns machten zusätzliche Anstrengungen nötig. Am späten Nachmittag traf ich mich mit G. und Frau H. und gemeinsam gingen wir essen. Ohne Appetit schlang ich den Thunfischsalat hinunter und auch das Weizenbier schmeckte mir nicht. Ich rauchte viel und hörte dem Gespräch wie aus weiter Ferne zu.
Als G. kurz zur Toilette ging, fragte die H., ob wir uns nicht mal wieder treffen könnten, sie habe ja jetzt, nach ihrer Scheidung, mehr Freizeit als früher. Lächelnd gab ich meine Zustimmung. Wenigstens vor ihr wollte ich nicht als Versager dastehen. Sie hatte gewisse Neigungen. Sie mochte es, wenn man sie fesselte und manchmal auch knebelte und ihr echtes oder gespieltes nymphomanisches Verhalten machte das Zusammensein mit ihr zu einem begehrenswerten Augenblick
Ich sagte ihr, ich würde mich bei ihr melden, vielleicht könnte es am Wochenende was werden. Schon war G. wieder zurück und das belanglose Geplauder ging noch eine Weile weiter; ich verabschiedete mich mit einer Ausrede.
Ekelattacke, dann Müdigkeit. Erkenntnisüberfall mit nachfolgender Übelkeit. Kotzgefühle.
Ich spürte wie meine Maske immer schneller verrutschte.
Ich war erschöpft, hatte aber keine Gelegenheit mich einige Minuten aufs Ohr zu legen.
Ich ging etwas spazieren, wurde dabei von zwei Anrufen gestört. Ich leugnete alles.
Nein, es würde keinen Untersuchungsausschuss geben. Nein, ich wußte nichts von Geldern, die unrechtmäßig auf mein Konto geflossen seien. Ich dementierte mit scharfen Worten und verbat mir Unterstellungen.
Ich spürte den heißen Atem der Hyänen in meinem Nacken.
Ich wußte, daß man über meinen Abgang hinter vorgehaltener Hand schon lange redete und ich wußte auch, daß eifrige Rivalen und Rivalinnen bereit waren, mein Amt einzunehmen. Die Stellungnahmen zu meinen Gunsten waren in den letzten Tagen verwaschener und mehrdeutig interpretierbar geworden. Die Parteifreunde rückten von mir ab, Stück für Stück und jeden Tag ein bißchen mehr und jeden Tag ein bißchen deutlicher.
Ich war zum Abschuß freigegeben.
Der letzte Akt hatte begonnen. Ich konnte selbst den Vorhang herunterziehen.
Eine Weile stand ich am Ufer des breiten Stromes.
Von der Brücke ein Stück flußaufwärts drangen die Geräusche der Straßenbahn zu mir. Ein paar Steine müßte ich in meine Taschen packen, die Hände festbinden, vorher vielleicht Tabletten nehmen, Alkohol, Drogen. Ein paar Sekunden nur würde es dauern. Ein letzter Schmerz. Ein Abgang in Ehre.
An dieser Stelle hatte der Fluß eine Tiefe von zehn, zwölf Metern.
Ich mußte einen Anfang machen. Einen ersten Schritt.
Ich nahm mein Handy aus der Tasche und nachdem ich mich vergewissert hatte, nicht beobachtet zu werden, warf ich es in hohem Bogen ins Wasser. Mein Herz klopfte heftig. So könnte es gehen, dachte ich.
Ich sah mich um und trat dann aus mir heraus.
Allmählich, wie ein bummelnder Spaziergänger, entfernte ich mich von mir.
Der Abstand wurde größer. Meine zurückgelassene Hülle blieb gelangweilt am Ufer stehen und rauchte eine Zigarette. Ich hätte übers Wasser gehen können, ich hätte im Himmel verschwinden können. Ich war wie langsam schmelzendes Blei, das sich mit den Fluten des Flußes vermischte, an eine Rückkehr war nicht mehr zu denken.
Die Steine in meiner Tasche waren leicht wie Luft.