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Für die Maskenballlesung am 11.5.24
Sternenhimmel
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Schon gegen Mittag war Wolfgang Wuttke weitestgehend fertig damit, die Messdaten, die er vom Hauptrechner des CERN-Teilchenbeschleunigers erhalten hatte, für den Algorithmus der Gammaberechnung zu transkribieren. Da vernahm er von weit her die Klingelmelodie seines mobilen Telefons. Einerseits störte ihn das, andererseits war damit das Rätsel gelöst, wo sich das Mobiltelefon befand. Die Töne kamen aus der Küche und als er diese betrat, gelang es ihm zu spezifizieren, dass sich das Gerät im Kühlschrank aufhielt. Als er diesen öffnete, hörte das Klingeln auf.
Wenigstens bemerkte er bei dieser Gelegenheit die Tatsache, hungrig zu sein. Was zeitgleich (sofern man das Wort ‹Zeit› in unwissenschaftlicher Weise benutzte) eine neue Aufgabe mit sich brachte. Der Kühlschrank war leer – wenn man vom Telefon absah. Wolfgang kratzte sich am Kopf. Natürlich enthielt der Kühlschrank abgestandene Luft und die bestand korrekterweise aus Atomen.
Außerdem war es ungünstig, dass Maria ihn endgültig verlassen hatte, denn sie war zuständig für das Importieren der Lebensmittel. Dieses Mal war sie weg, weil sie aus philosophischen Gründen nicht akzeptieren wollte, dass es für jeden Gegenstand in seinem Büro genau einen Ort gab, an dem er sein sollte; woraus folgte, dass derselbige Gegenstand an allen anderen Orten nicht sein sollte. Wenigstens einen kleinen Beitrag könnte sie leisten, dem Prozess der Entropie im Universum etwas entgegenzusetzen.
Sie war in das Hotel gezogen, in das sie jedes Mal zog, wenn sie ihn für immer verließ. Und jetzt, wo er sein Telefon wieder hatte, war es möglich, sie anzurufen. Er wählte ihre Nummer.
«Ja?»
Die Verbindung schien hergestellt.
«Hallo Maria», sagte er.
«Lass mich raten», sagte sie. «Du hast Hunger, der Kühlschrank ist leer und du beabsichtigst, mich zu fragen, ob wir zusammen essen gehen. Wäre es richtig von mir, das zu vermuten? Meine Antwort ist: gern. Unter einer Bedingung: Du gibst zu, dass die Sonne nachts nicht scheint.»
Er seufzte. «Ich bin unter bestimmten Voraussetzungen bereit, einzuräumen, dass es nicht von allen Standorten der Erde aus gesehen möglich ist, sich davon zu überzeugen, dass die Sonne ununterbrochen scheint …»
«Nur nachts eben nicht!»
«Ich rede von allen Standorten aus gleichzeitig betrachtet. Sodass mancherzeit, abhängig von der geografischen Position, der Eindruck entstehen kann, als ob sie nicht schiene.»
«Okay. Aber die Diskussion ist damit noch nicht zu Ende.»
*
Der Kellner ihres Stammlokals zögerte, nachdem er nach einem freien Tisch gefragt worden war.
Wolfgang fand einen gangbaren Weg, alles abzukürzen, indem er evidente Wahrnehmungen zur Prämisse des kommunikativen Geschehens machte.
«Sie brauchen nicht zu antworten, ich sehe ja, dass das Lokal fast leer ist und faktische 92 Prozent der Tische frei sind. Also, wohin dürfen wir uns setzen?»
Der Kellner geleitete sie zu einem weit hinten an der Wand stehenden Tisch und brachte zwei Karten.
«Hier sitzen wir jedes Mal.» Maria blickte dem davoneilenden Kellner nach. «Und eigentlich hätte er dir auch keine Karte bringen müssen, oder liege ich falsch mit der Vermutung, dass du diesen ekelerregenden Leichenfraß Nr. 11, Tafelspitz, den Nahrung zu nennen einen Euphemismus darstellt, zu bestellen beabsichtigst?»
«Ich sehe mich veranlasst, deine Vermutung zu verifizieren. Warum sollte ich etwas anderes bestellen, wenn ich das mir am besten schmeckende Gericht bereits identifiziert habe? Hieße das nicht, die Entscheidung für das höchstens Zweitbeste zu treffen? Solange das Beste zur Verfügung steht, auf welcher Grundlage wäre dies vertretbar?»
Sie knüllte ruhig ihre Serviette zusammen. «Es gibt neben den Dingen, die mit dem Wesen des Essens, also dem Essen an sich zu tun haben, weitere Parameter, die du betrachten könntest. Nur beispielhaft nenne ich: ‹Qualität durch Abwechslung›. Leben aus verschiedenen Blickwinkeln. Weniger Hierarchie, dafür ein breites Erlebnisspektrum.» Ihre Finger trommelten auf dem Tisch. «Alternativ zur kategorischen Bewertung nenne ich die Möglichkeit einer Amplitude, welche ...»
Der Kellner erschien. Wolfgang bestellte den Tafelspitz und ein Glas Wasser, sie bestellte vegetarisch und ein Glas Weißwein. Dann beschäftigten sich beide damit, die Wände des Raums zu betrachten, bis Maria (als Frau die sozial kompetentere Person) es war, die die Kommunikation reinitialisierte:
«Hast du den Müll rausgebracht, während ich weg war? Oder steht der jetzt wieder stapelweise in der Küche herum und bringt sogar die Kakerlaken dazu, zu kotzen?»
«In Relation zu den Entfernungen, die zwischen den Sonnensystemen herrschen», antwortete er, «das heißt zwischen all den Sonnen, ist es weitgehend ohne Bedeutung und deutlich innerhalb von Irrelevanz, ob der Müll sich unten im Container befindet oder – nur wenige Meter davon entfernt – in unserer Küche.»
«Du wolltest sagen: zwischen all den Sternen. Es sind Sterne, die am Himmel stehen.» Sie zeigte mit ihrer Besteckgabel auf ihn, dann Richtung Deckenlampe, doch senkte die Hand wieder, als der Kellner die Getränke servierte.
Wolfgang feilte einige Sekunden an seiner Replik. «Nur in der zwangsweise inkorrekten Sprechweise der Poeten. Gerade eine Philosophin sollte daran denken, dass Exaktheit in Bezeichnung und Definition jedweder Sache unerlässlich ist. Sterne sind Sonnen, egal, wie sie genannt werden, und Sonnen sind im Unterschied zu den Sternen, die du meinst und die – beiläufig erwähnt – keineswegs am Himmel stehen, aus Materie. Auch Müll ist im Übrigen nur Materie; in galaktischen Dimensionen gedacht, ist es doch nun wirklich bedeutungslos, ob der Müll sich in unserer Wohnung oder sonst wo auf diesem Planeten befindet.»
Der Kellner stellte das Essen vorsichtig bei beiden ab, wischte sich danach mit einer Serviette den Schweiß von der Stirn und entfernte sich dabei eilig.
«Dann ist es ja nur folgerichtig gedacht», sagte sie, «dass es gleichermaßen bedeutungslos ist, ob ich mich in unserer Wohnung befinde oder sonst wo auf diesem Planeten? Schließlich bin ja auch ich nur Materie.»
Sie hatte ihr erstes Glas Riesling bereits geleert und winkte dem Kellner, der es allerdings im selben Moment geschafft hatte, die Tür zur Restaurantküche zu erreichen und zu verschwinden.
«Du bist belebte Materie», sagte Walter und griff seinerseits nach dem Besteck.
«Ich bin … belebte Materie?«, rief sie. «Müsste ich dafür nicht eine Urkunde bekommen? Das kann ja gewiss nicht jede Frau von sich behaupten, dass sie belebte Materie ist!» Sie warf ihm die zerknüllte Serviette an den Kopf.
Weil Wolfgang ausweichen wollte, schlug er mit einer Bewegung des Arms ruckartig seinen Teller vom Tisch, der an der Wand zerschellte. Der Tafelspitz hing wie eine Portion Kuhfladen an der Tapete und kroch (in mittlerer Geschwindigkeit) nach unten (was an der Schwerkraft lag, hätte Wolfgang gesagt, wenn er die Zeit dazu gehabt hätte).
Maria hatte sich erhoben und stand jetzt vor ihm, mit den Fäusten auf den Hüften, und sie schaute ihn herausfordernd an.
Wolfgang bemerkte den Kellner, der mit Schaufel und Besen am Eingang der Küche wartete, und er sagte: «Natürlich kann das jede Frau von sich behaupten, jede Frau gleicht in dieser Hinsicht allen anderen Frauen.»
«Dann ist es ja egal, mit welcher von ihnen du zusammenlebst, würdest du mir da zustimmen?»
Er sah, wie der Kellner mit verzweifelten Grimassen versuchte, ihn abzulenken, aber er sagte trotzdem: «Das kann man so pauschal nicht sagen.»
«Ha!», brüllte sie, schüttete ihm das Wasser ins Gesicht, warf das Glas gegen die Wand, ergriff ihren Teller und schleuderte ihn auf den Boden, dass die Scherben über das Parkett schlitterten (und auch die Nudeln, die aus Kohlenwasserstoffen bestanden, hätte Wolfgang gesagt, wenn er die Zeit dazu gehabt hätte). «Das», schrie sie, «ist übrigens der Urknall! Und das und das und das! Lauter kleine, vollkommen neue Galaxien, mit allem drin, was dein Herz begehrt!»
Sie ergriff sukzessive jegliche Materie jeglicher Größe und Form vom Tisch und schmetterte sie Stück für Stück gegen die Wand, wobei die zerbrechlichen Gegenstände bis in die Molekülketten zersplitterten. Als nur noch der Kerzenleuchter übrig war, zog Maria mit einem Ruck die Tischdecke weg. Wolfgang sprang auf, torkelte rückwärts und fing den fliegenden Leuchter auf, verlor jedoch sein Gleichgewicht und stolperte seitlich gegen die Wand; er wollte sich festhalten, riss dabei das große Ölbild herunter (worauf der Erzherzog Johann abgebildet war), stürzte gegen den Nachbartisch, welcher (ebenfalls mit Materie darauf, hätte Wolfgang gesagt, wenn er noch gekonnt hätte) krachend umkippte, und ging zu Boden wie ein Boxer nach dem finalen Haken. Gleichzeitig zertrampelte die Philosophin, was sie mit ihren Schuhen erreichen konnte, wobei sie rief: «Ha, und das! … Ha, und das! … Ha, und das! …»
Der Kellner setzte sich in Bewegung. Gleich würde es zu Ende sein.
*
Am späten Nachmittag hatte Wolfgang Wuttke die Kette der Beweisführung fertig. Er erhob sich zufrieden und rieb sich die Augen. Hinsichtlich seiner akustischen und optischen Beschaffenheit war das Nichts mit sich selbst unzweifelhaft identisch. Das Nichts bestand aus nichts, war nicht zu sehen, war nicht zu hören und vermutlich schmeckte es auch nicht (was er aber noch nicht bewiesen hatte).
Das Telefon klingelte und machte ihn darauf aufmerksam, dass er hungrig war. Schon seit Tagen hatte er keinen Tafelspitz mehr gegessen.