Sternstunden
„Hier ist es! Hier haben wir uns vor drei Monaten kennen gelernt!“, dachte ich verträumt und sah mich in der großen Halle um. Vor mir baumelte ein riesiges Erdmodell aus Styropor von der Decke und hinter der Tür war der Zuschauerraum. Ich befand mich im Planetarium, dem Ort, an dem ich Léon das erste Mal gesehen hatte.
Ich hatte mich sofort in ihn verliebt, als ich ihn vor dem Planetenkonstellationsmodell, das kaputt und zerstreut auf dem Boden lag, weil er es kurz zuvor heruntergeschmissen hatte, knien sah. Mit hochrotem Kopf sammelte er ein paar Einzelteile ein und versuchte seinen angerichteten Schaden irgendwie wieder zu begleichen.
Wie von einer unsichtbaren Hand geführt, bin ich an dem Tag im August zu ihm gegangen und habe dem völlig verwirrten Jungen geholfen das Modell halbwegs wieder zusammenzusetzen.
„Hey Vanessa!“, wurde ich plötzlich aus meiner Erinnerung gerissen. Ich drehte mich um und erblickte eine Reihe großer, schneeweißer Zähne mit samt ihrem grinsenden Besitzer.
Léon kam auf mich zu und drückte mir stürmisch einen Kuss auf den Mund.
„Du kommst gerade noch pünktlich. Die Vorstellung beginnt in 5 Minuten!“, meinte ich lächelnd.
„Wir müssen uns gar nicht mit einer Menge anderer Leute in diesen Besuchersaal quetschen und uns einen Vortrag über Sternbilder anhören. Der Sternenhimmel draußen ist herrlich!“, entgegnete der Blondschopf, der jetzt meine Hand ergriff und mich durch die große Tür hinaus führte.
Der Blick gen Himmel war wirklich atemberaubend. Dass dieser Abend eine so schöne Sicht auf das Weltall darbot, hatte ich gar nicht bemerkt, als ich ziemlich in Eile die zwei Blocks zum Planetarium gejoggt bin.
„Und?“
„Muss ich da noch was sagen?“, entgegnete ich und kuschelte mich an meinen Freund.
Wir setzten uns ins Gras und genossen den traumhaften Abend. Selbst die Kälte, die eine Oktobernacht nun mal mit sich bringt, störte uns nicht. Wir hatten einander und das genügte!
Ich löste mich von Léon, der seinen Arm um mich gelegt hatte, und sprang auf.
„Eine Sternschnuppe! Ich hab eine Sternschnuppe gesehen!“, schrie ich und zeigte meinem Freund die Stelle, aber nichts war mehr zu sehen. Glücklich setzte ich mich wieder hin.
Ich war schon in einen eigenartigen Trance-Zustand verfallen, da tippte Léon mich plötzlich an.
„Hast du dir eben eigentlich was gewünscht?“, fragte er mich.
„Nein, wieso?“, antwortete ich zögernd.
„Na, heißt es nicht: Der, der einer Sternschnuppe keinen Wunsch mit auf den Weg gibt, wird das Pech verfolgen?“
„Du glaubst doch nicht etwa an so einen Unsinn, oder?“
„Na ja, man kann ja nie wissen…“
“Ach, Quatsch!“
Entschlossen lehnte ich mich an die starke Schulter neben mir. Mich fröstelte.
Auch Léon bemerkte das und stand auf.
„Komm, wir gehen noch zu mir!“, schlug er vor und streckte mir seine Hand entgegen, die ich sofort ergriff. Rückwärts lief er vor mir her und grinste.
,Ein gar nicht mal hässlicher Traummann…`, dachte ich verträumt.
„Ich bin so glücklich!“, rief der Traummann aus, den Blick immer noch auf mich gerichtet.
„Ich auch. Nichts kann uns mehr tren…“ Mitten im Satz brach ich ab und wollte noch schreien, aber meine Kehle war wie zugeschnürt.
Ich konnte nur noch abrupt stehen bleiben und mit vor Schreck aufgerissenen Augen mit ansehen, wie ein tonnenschwerer LKW auf meinen Freund, der blind vor Liebe auf die Straße gelaufen war, zuraste.
Ich hätte ihm so gerne geholfen. Doch ich konnte nicht!
Ich hörte ein schreckliches Quietschen, einen ohrenbetäubenden Knall, einen langgezogenen, gellenden Schrei, der mir alle Sinne raubte.
Am Straßenrand fiel ich in Ohnmacht.
„Er ist tot, nicht wahr?“
Wütend und verzweifelt zugleich blickte ich die Krankenschwester an, die mich auf das Bett drückte, sodass ich nicht zu meinem Freund laufen konnte. Durch den Tränenschleier vor meinen Augen konnte ich kaum etwas erkennen.
Da war nur noch das Bild des riesigen LKW in meinem Kopf.
„Tut mir leid. Wir konnten nichts mehr tun…“
„Diese Sternschnuppe… Ich hätte mir etwas wünschen sollen…“, stammelte ich. Ich war nicht in der Lage einen vollständigen Satz zu bilden, ich fühlte mich betäubt und ausgehöhlt.
„Du glaubst doch nicht etwa an so einen Unsinn, oder?“ Die Krankenschwester starrte mich an, wie einen Patient mit Fieberhalluzinationen .
Stumm zog ich mir die Decke über den Kopf.
Ich hatte das Gefühl, ich müsste unter ihrer Last ersticken.
Ich konnte nicht mehr atmen.
Mein geliebter Léon war mit der Luft zum Atmen von mir gegangen.
Letzteres störte mich weniger.