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Steve's Day
Ein kurzes Aufziehen der Nase war zu hören. Ein kleiner Wink mit dem großen Zeh war zu sehen, der unter der Bettdecke hervorragte – nur nicht die Augen aufmachen!
Steven lag an diesem kalten Frühlingsmorgen einfach nur da und entschloss sich, auf seiner ausziehbaren Couch auch genau mit diesem Gedanken liegen zu bleiben. Ausziehbar war nicht die einzige Eigenschaft, die die Couch besaß. Unter anderem könnte sie auch ‚verbraucht’ durchaus gut beschreiben, was ebenfalls zu Stevens momentaner Gefühlslage passte. In seinem Kopf hämmerte noch immer der Alkohol der letzten Nacht seinen schweren Takt dahin. Er versuchte sich zu erinnern warum ... und vor allem, warum in diesen Mengen. Es fiel ihm plötzlich wieder ein: sein Leben! Es verlief nicht gerade so, wie er es sich wünschte. Eigentlich könnte man behaupten, es verlief genau invers zu seiner aktuellen Lebensvorstellung, denn er lebte in einer Wohnung mit seiner Ex-Freundin, die borniert darauf bedacht war, ihn für jegliches Übel und Unrecht auf dieser Welt die Schuld zuzuschreiben; und mit den Worten „Fuck you! Damit bist du raus!“ beendete sein Chef einen hitzigen Diskurs zum Thema Arbeitsmoral und Pünktlichkeit das Arbeitsverhältnis im Jeans-Laden eher unschön – das bisschen Geld, das er noch auf seinem Konto hatte, neigte sich dem Ende zu. Es war an der Zeit seine Ersparnisse der letzten Jahre nun sinnvoll zu investieren.
Sein einziger Halt bestand nur noch aus seinen Freunden, obgleich ein „Raff’-dich-Auf“ wohl eher nicht zu den aufbauenden und produktiven Sätzen gehörte, die er stattdessen lieber hören wollte – „rafft es doch selber einmal“, murmelte er in sich hinein. Er versuchte diese negativen Gedanken so schnell als möglich wieder zu verwerfen und sich anstelle dessen vorzustellen, wie so ein Morgen in Neuseeland für ihn ablaufen würde.
Nach diesem durchaus positiven Gedanken zwang er seine Augen schließlich doch auf, um die Uhrzeit auf seinem Handy zu checken. Er stammelte etwas unverständliches – sogar er wusste nicht was er sagen wollte – und merkte, dass die Sonne, auch ohne spürbare Wärme abzugeben, es schaffte, ihn zu blenden. Seine Finger mussten wohl oder übel auch ohne visuelle Wahrnehmung das kleine Ding finden. Nach dem kraftlosen Umhertasten auf der Armlehne, fand er es. „Goddamn!“ war das Einzige, was er hervorbrachte, als er bemerkte, dass es bereits 12:23 war. Nach dieser ernüchternden Tatsache war das nächste, was ihm durch den Kopf schoss, ein Schwall aus warmen, aber grässlichen Kopfschmerzen, die aus dem Alkoholexzess resultierten. Er blickte nochmals auf das Display, um sicher zu gehen, dass er die Zeit richtig las und merkte dabei das Symbol eines kleinen Briefes darauf. „Verdammt! Wer will denn jetzt schon wieder was?“, fragte er sich und öffnete die SMS mit der stillen Hoffnung, es möge doch eine von Gott sein, in der stehe: „Danke Steve! Hiermit habe ich dir für dein Durchhaltevermögen eine Millionen Dollar auf dein Konto überwiesen. Bussi, dein Gott!“ Jedoch war es nicht Gott, der ihm schrieb – das Gegenteil: seine verhasste Ex, die ihm mitteilte, dass sie bereits gegen 13:00 zuhause sein würde und von ihm erwarte, dass die Wohnung auf Vordermann gebracht sei. „Vordermann? Das ist relativ “, fiel ihm darauf ein. Relativ scheiße war auch sein Leben, relativ schmerzhaft auch sein Kater und relativ der Hunger, den er verspürte.
Letzteres war auch das, was ihn aus dem Bett trieb. Mit der Grazie eines Faultieres begann er seinen von Schmerz erfüllten Körper in Richtung Küche zu schleifen. Jedem Schritt folgte eine kurze, doch sehr realitätsverzährende Welle an Kopfschmerzen, die versuchte, sein Gehirn aus dem Schädel zu spülen. Wie in Trance machte er nebenbei jedes Fenster auf, das er unterwegs fand, um dem Gestank in der Wohnung Herr zu werden. Er merkte das erste Mal wie viele es waren, die es zu öffnen gab.
Die Küche glich einem Schlachtfeld. Tiefkühl-Pizzareste, leere Schnapsflaschen und halbleere Plastikflaschen die ihm momentan unzählig vorkamen, weckten in ihm den Verdacht, dass diese in einer seltsamen Ordnung dalagen. Er warf einen Blick zurück ins Wohnzimmer und erschrak regelrecht als er diese Ordnung auch dort sah, jedoch mit Wäschestücken, CDs, DVDs und Konsolenspielen. Es lief ihm kalt den Rücken herunter und sein Hunger verflüchtigte sich ohne das er einen weiteren Gedanken an dieses merkwürdige Bild verlor – Entweder war es gerade Stevens hellster Moment da er auf die Chaos-Theorie kam oder einfach eine Folgeerscheinung seines Suffs vom Vortag –
Es gab nun nur mehr einen Ort, der ihn in seiner Lage glücklich machen konnte: die Toilette. Der Weg dorthin war genauso grausam, wie zuvor der, der ihn in das moderne Kunstwerk namens Küche führte. „Wer mir jemals mit dem Spruch kommt ’Der Weg ist das Ziel’, dem verpass’ ich eine“, gab er keuchend von sich und vollführte eine kreisende Bewegung mit der Hand, die er zu einer Faust geballt hatte. Er lies seine andere Hand auf die Türklinke fallen und schlug mit der Faust gegen den Lichtschalter. Das warme und immer heller werdende Licht der Energiesparlampe flackerte fröhlich vor sich hin. Seine Gedanken begannen wieder zu kreisen. Regelrecht klaustrophobische Zustände befielen ihn, wobei es nicht nur die eineinhalb Quadratmeter der Toilette waren, die ihn zu schaffen machten, vielmehr drückte ihn die Ausweglosigkeit seiner Situation wieder auf den Brustkorb. Was war nur los mit ihm? Nicht einmal sein heiliger Stuhl konnte seine schmerzenden Gehirnwindungen von dieser Plage befreien. Ihm gelang es bisweilen sehr gut, sich der Verantwortung zu entziehen, sich seiner Probleme zu stellen. „Goddamn!“, erklang es mit gepresster Stimme. Der Hall, der daraus entstand, bohrte sich wie ein Gewindebohrer durch seinen Gehörgang und erzeugte eine erneute Welle des Schmerzes in seinem Kopf. Es half alles nichts. Er war am „Point of no Return“ angelangt. Er stellte sich zum ersten und auch, was er nicht wusste, zum letzten Mal die Frage, was die Lösung für sein Problem sei. In diesem Moment vernahm er das leise Geräusch, welches der Schlüsselbart machte, wenn er in das Schlüsselloch einfuhr. Erst als die Verschlussvorrichtung mit der Drehung begann, um den Bolzen zu entriegeln, begann er zu begreifen, was dieses Treiben zu bedeuten hatte. Es war das, was zu vernehmen war, wenn Kathy, seine Ex-Freundin, nach Hause kam, und es war auch das, was nichts Gutes verhieß.
Das Verhältnis zwischen ihnen war nicht gerade das Beste – wie auch? Vor einem Jahr bereits getrennt, hatte Steven noch keinen Gefallen an einer eigenen Wohnung, geschweige denn einer räumlichen Trennung, gefunden. Eine Wohnung, die nichts kostet, ist immerhin schwer zu finden.
Vor seinem Inneren Auge spielte sich ein sehr seltsame Szenen ab: Eine Schlange kam durch den Wohnungseingang hereingeschlichen und hinterließ dabei eine Schleimspur.
Er wischte sich den Hintern aus, zog die Shorts hoch und sperrte die Tür auf. Falls es ein Einbrecher sein sollte, der gerade gekommen ist, würde er ihn eher willkommen heißen als Kathy
„Was zur Hölle ist bloß los mit dir, du Versager?! Ich geb’ dir Bescheid, wann ich nach Hause komme und du bist nicht fähig, die Wohnung in dieser Zeit zu reinigen?!“ „Ich bin kurz zuvor aufgewacht und habe deine SMS erst ge...“ „Was?! Hast du dich gestern wieder mal weggedröhnt?“, fiel sie ihm ins Wort. „Verdammte Scheiße! Deine Sauferei geht mir so was von am Wecker.“ „Ich, äh...“, stammelte es aus ihm, und er blickte, so gut er konnte, wehmütig zu Boden. Er erinnerte sich, dass er zum letzten Mal diesen Blick aufgesetzt hatte, als ihm seine Mutter wegen seiner nicht gemachten Hausarbeit zurechtwies. Kathy war perplex, da sie ihn so nicht kannte. Sie erwartete vielmehr eine Antwort, die darauf hinauslief, sich mit ihm unbändig zu streiten, bis beide zu Bett gehen. „Pfa, du Arschloch! Ich gehe arbeiten und du liegst hier faul herum und schläfst deinen Rausch aus.“ Obwohl sie zischte wie eine Schlange, kam der Ofen nicht zum Glühen. Sein Blick fiel noch immer zu Boden. Eine völlig neue Situation für sie. Ein Gefühl gleich einem Druckkochtopf, der auf der Herdplatte vergessen wurde und kurz vor der Explosion stand. Die Geräusche, die ihre knirschenden Zähne und das Blut, welches hinter ihren Trommelfellen hindurch raste, machten, ließen sie fast seine Worte überhören. „O. k., leg’ dich hin, entspann’ dich. Ich geh’ rüber zur Tankstelle, hol’ Putzmittel und kauf’ uns was Leckeres zu essen!“
Peinliche Stille.
Steven nützte den günstigen Moment, zog seine Klamotten an und verschwand wortlos aus der Wohnung.
Kathy stand noch immer gleich da. Gefühlte zehn Minuten vergingen, bevor sie ihr Gesicht zu dem fragendsten Blick ihres Lebens verzogen hatte.
Steven nahm seine Zigaretten aus der Tasche und merkte, dass sich darin nur ein halb verkrümmter Stummel befand, den er sich trotzdem anzündete. Erstaunlich, zum ersten Mal in seinem Leben begann er, selbstbewusst einen Weg entlang zu gehen. Nie zuvor hatte er derart bewusst einen Fuß vor den anderen gesetzt. So bewusst, dass ein nächster Schritt eindeutig war: nicht zur Tankstelle, sondern zur Bank.
„Haben Sie einen Ausweis bei sich? Sie müssen wissen, bei solchen Be...“. Steven legte ihr den Reisepass auf den Tisch, wodurch das Standard-Sätzchen der Bankangestellten im Nu verstummte. „Oh! Mr. Steven Davis. Ein schöner Name. Meine Mutter pflegte immer zu sagen: Im Namen eines Menschen spiegelt sich seine Seele wider“, sagte die attraktive Bankangestellte, nachdem sie den Ausweis gemustert hatte. Ihr Name stand auf ihrem Namensschild, welches Steven sofort ins Auge sprang. „Ich glaube, ihre Mutter hatte recht“, sagte er in Gedanken versunken, als sie ihm das Geld vorzählte. „Steven Davis ist ein verdammter Niemands-Name!“ Er blickte ihr direkt in die Augen, nahm das Geld und überließ sie ihrer verdutzten Miene, die danach zu fragen scheinte, ob der Typ einen schlechten Scherz gemacht habe oder keinen Funken Selbstbewusstsein in sich trüge.
Indessen war es Kathy gelungen, sich aus ihrer Starre zu befreien. Sie überlegte, was nun zu tun war. Zuerst kam ihr der Gedanke, das hinterlassene Chaos aufzuräumen, jedoch wäre das das in solchen Situationen Übliche und ihr kam langsam, dass mit solchen Taten heute nichts zu erreichen war. Stattdessen beschloss sie, sich auf das Sofa im Wohnzimmer zu legen und Stevens Vorschlag zu befolgen. Sie musste sich erstmals einen Platz schaffen, da das Sofa mit einer Schicht aus Müll und dreckiger Wäsche bedeckt war. In ihr begannen wieder die verächtlichen Gefühle hochzufahren. „Bringt heut nichts!“, sagte sie zu sich selbst, nahm eines ihrer Shirts aus dem zusammen geschobenen Wäscheberg heraus und bedeckte damit ihre Augen. Es dauerte nicht lange, bis sie nach diesem für sie anstrengenden Tag einschlief.
Steven kam von seiner kleinen Tour zurück und sah, dass Kathy auf der Sofa lag. „Kathy? Kathy, bist du wach?“ Sie gab keinen Mucks von sich und er bemerkte, dass sie ihren Mund geöffnet hatte, wie sie es beim Schlafen tat. „Ich bring’ dich um und räum’ die Wohnung ein letztes Mal auf!“ Wieder keine Reaktion. Sein Plan funktionierte besser als gedacht; er begann mit der Arbeit. Zuerst legte er seine „Putzmittel“ ,die er nach dem kleinen Besuch bei der Tankstelle kaufte, auf, um einen Überblick zu bekommen, wie er vorgehen sollte. Es musste doch alles Ziel und Maß haben. Vor ihm standen zwei Kanister mit jeweils zehn Liter Benzin und eine Streichholzschachtel mit extra langen Streichhölzern, bei dessen Kauf ein Teil der Kinderkrebshilfe zugutekam, die mit den armen kleinen Kerlen auf der Verpackung. Und genau aus diesem Grund hatte er sie überhaupt gekauft – eine gute Tat für einen feierlichen Anlass. So war es auch nicht bloß ein billiger 95-Oktan-Benzin, den er kaufte, sondern er hatte diesen Tag zu einen „Super-Plus-Benzin-Tag“ ernannt. Der Verschluss schnappte auf, und das Benzin wurde im Raum mit Sorgfalt verteilt. Der beißende Geruch durchzog sofort seine Nase. Den größten Schmerz bereitete ihm das Übergießen seiner Spielkonsole samt Fernseher. „Du hast mir gute Dienste erwiesen, aber ich kann dich nicht mehr brauchen, dort, wo ich hingehe.“ Am meisten Benzin goss er vor die Couch. Da die ersten zehn Liter verbraucht waren, beschloss er, in der übrigen Wohnung sorgsamer damit umzugehen. So verteilte er etwas in der Küche und im Schlafzimmer, um sich dann eine Benzinbahn durch den Flur bis zur Tür zu legen. Einen kurzen Moment hielt er inne, bevor noch der letzte Schwall des zweiten Kanisters in die Toilette geschüttet wurde. Er nahm noch eine Nase voll Benzingeruch – die Dämpfe glichen Balsam für seine Kopfschmerzen.
Er zückte die Streichhölzer, seine für einen Wucherpreis bei der Tankstelle gekauften Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine davon an. Ein tiefer Zug. Er hielt das brennende Streichholz in der Hand. Er fühlte sich, als ob ihm alle seine Erinnerungen auf einmal durch den Kopf schossen. Es bereitete ihm starkes Unbehagen und eine noch stärkere Welle aus Kopfschmerzen. Aus dieser Betäubung heraus ließ er das fast zur Gänze verbrannte Streichholz aus seinen Fingern gleiten – wie in Zeitlupe schien es auf den mit Benzin getränkten Boden zu fallen.
Die Flammen begannen sich sofort einen Weg entlang der Benzinspur zu bahnen. Er knallte vor lauter Schreck die Haustür zu und sperrte zweimal über. Eine starke Bewegung nach links und der Schlüssel riss ab. Dabei lehnte er sich gegen die Haustür, um mehr Kraft aufzuwenden und merkte, wie heiß die Tür bereits geworden war. Noch ein starker Zug an seiner Zigarette und weg war er.
Der Fernseher in der Wartehalle des Flughafens zeigte einen Nachrichtensender.
Steven stand in der Schlange zu den vielen Schaltern, die sich nur langsam zu verringern schien. Steven versuchte aufmerksam den Nachrichten zu folgen und bemerkte dabei zwei Polizisten aus dem Augenwinkel. Seine Gedanken beruhigten sich, nachdem die Nachrichten ihren täglichen Kram heruntenspulten und zum Wetter übergingen. Nun standen nur mehr Zwei vor ihm in der Schlange, als er wahr nahm, wie die Polizisten in seine Richtung sahen. Ein heißes Gefühl stieg in ihm hoch, das schlimmer wurde, als die beiden sich gegenseitig zuflüsterten. Er wurde nervös und sah zu Boden – langsam hoch, wieder runter–, und als er seinen Kopf erneut hochzog, eilten sie bereits in seine Richtung. Seine Gedanken überschlugen sich in diesem Moment. Flucht? Ausreden? Als zum Moment der Entscheidung kam, stießen sie ihn zur Seite und eilten zu einem Typen, der ziemlich heruntergekommen erschien. „Verdammt! Haben wir dir nicht gesagt, du sollst hier nicht mehr auftauchen!?“, fuhr der Polizist den Penner an. Steven fing sich wieder, bemerkte, dass er der Nächste in der Reihe war. „Diese Penner von heute – sogar hier trifft man sie an“, sagte ein Kerl hinter Steven. „Aber weißt du, auch wenn sie es auf dich abgesehen hätten, wärst du viel zu langsam gewesen.“ Steven drehte sich um und sah den Kerl an. Er trug einen sandfarbenen Trenchcoat, der bis zum Hals zugeknöpft war. Darunter trug er eine schwarze Hose, und auf dem Kopf einen Hut, aus dem der Typ hervorlächelte. „Woher wissen Sie ...“, kam es unglaubwürdig aus Steven heraus, und der Fremde zeigte ohne Weiteres zu sagen in Richtung Terminal. Er folgte dem Arm.„Mr. Davis, ihre Papiere bitte“, sagte eine freundliche weibliche Stimme. Der Kerl war verschwunden. „Mr. Steven“, diesmal mit mehr Nachdruck, „Ihr Ticket und Reisepass!“ „Äh, danke!“, stammelte er und bemerkte eine gewisse Ähnlichkeit mit der Bankangestellten. „Ich wünsche Ihnen einen guten Flug und einen angenehmen Aufenthalt in Neuseeland.“ Ohne Jegliches zu erwidern, machte er sich auf den Weg zum Gate.