Hey A. Wilde,
ich will Dir gern zwei Dinge dazu sagen, zum einen stimme ich Bishop zu, wenn er sagt, Kritiken sind subjektiv gefärbt, je nach den Vorlieben und dem Verständnis ihrer Kritiker. Da muss man als Autor aussortieren, was davon glaube ich, tut mir, meinem Text, meinem Stil gut. Man sollte die Hinweise im Kopf durchspielen, auf den Text (gedanklich) anwenden, sich das Ergebnis anschauen und erst dann entscheiden. Das ist ein sehr wichtiger Prozess für das Schreiben, wenn man mit den Möglichkeiten die sich durch die Kritiken auftun, spielt und manchmal ist man tatsächlich überrascht, auch positiv, weil es sich als Kritik furchtbar anhört, im Sinne von: Das bin ja nicht ich, und nach der Probe denkt man: Wow, von allein wäre ich da nie drauf gekommen. Wenn sich ein solcher wow-Effekt nicht einstellt, dann muss man die Hinweise durch die Kritiker natürlich verwerfen und das ist durchaus legitim und ebenfalls wichtig. Und durch das ewige Abwägen und Ausprobieren, durch dieses Spielen wächst ja erst so etwas wie ein eigener Stil. Der ist ja nicht in den Genen festgelegt.
Zum Thema lange Sätze vs. kurze Sätze: Es gibt erfolgreiche Autoren die die einen und Autoren die die anderen schreiben. Insofern sind erst mal beide "gesellschaftsfähig".
Aber! Die Langsatzautoren, die beherrschen da so einiges, was man als Anfänger eben noch nicht beherrscht. Die können die Grammatik im Schlaf singen, die haben ein unglaubliches Gefühl für Sprachmelodie, damit das auch klingt, die schreiben nicht eben Worte und trennen sie durch Kommata ab. Die suchen nach Worten, deren Hebungen und Senkungen in der Betonung einen Rhythmus erzeugen - das sind Sprachkomponisten, wenn man so will. Und die haben auch das Handwerk erst erlernt, die wissen alles darüber. Die sind richtig, richtig groß.
Für Dich als Anfänger hieße das übersetzt: Ich habe jetzt drei Stunden in der Musikschule hinter mir und beginne eine Oper zu komponieren (im übertriebenen Sinn). Da würde ja auch jeder die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sagen, schreib besser ein Liedchen.
Ich habe in den Kritiken folgenden Satz von Perdita gefunden:
Es sind öfter solche Sätze drin, die ich als sehr umständlich empfinde, die, aufgrund der vielen Kommas, sich sehr mühsam lesen, und irgendwie abgehackt.
Das ist dein Todesurteil. Der Leser steigt aus, er hat keinen Bock mehr, er klickt auf den nächsten Text, wovon es hier reichlich gibt und das ganze kostet dem Leser nur eine halbe Sekunde. Kein Leser hat die Verpflichtung einen Text zu lesen. Es ist an dir als Autor, sie für deinen Text zu begeistern. Und jetzt musst Du Dich fragen, will ich meinen Stil verfeinern, oder will ich, dass meine Texte gelesen werden? Will ich den Leser erreichen oder sind die mir schnuppe, aber meine Sätze sind so wie die Oskar Wilde. Was sie ja nicht sind. Weil Oskar Wilde mehr konnte, wusste, ausprobiert hat - als Du jetzt. Was verlierst Du, wenn Du Dich auf das Experiment einlässt und es ausprobierst? Nichts. Dann hast Du einen Text geschrieben, der mal was Neues von dir abverlangt, der dich fordert, dich aus der Ecke abholt, in die du dich verkrochen hast. Das ist doch das wichtige am Anfang - ausprobieren. Und erst durch ganz viel ausprobieren, wirst du deinen eigenen Stil finden. Probieren, verwerfen, es als gut oder nicht gut empfinden, weiter probieren. Das ist kein Prozess der nach drei Geschichten oder zwei Jahren abgeschlossen ist. Das dauert und da ist jeder Autor durch, auch Wilde und Goethe und Bernhardt und alle die Du liebst und verehrst.
Will sagen, ausprobieren, kopieren all das sind wichtige Dinge - aber vielfältig. Für Oskar Wilde fehlt Dir einfach noch das Handwerk, aber sich an ihm zu probieren und seinen Stil zu studieren, da ziehst Du Nutzen draus, auch jetzt schon. Und sagen wir, Du bringst es über die Zeit auch so weit, stilistisch an ihn heranzuwachsen. Was bist Du dann? Eine kleine Wilde-Kopie. Die Leute werden trotzdem O. Wilde lesen und dir immer vorwerfen, da versucht einer wie Wilde zu sein.
Fazit: Kopieren, nachahmen, sich mit dem Stil großer Autoren beschäftigen, ihn analysieren (Wie sind sie Sätze aufgebaut? Wie stehen die Nebensätze zueinander in Beziehung? Melodie ablauschen etc), im Detail mit der Lupe drauf schauen, ist eine feine Sache. Aber nicht ausschließlich den Stil nachempfinden (ah - lange Sätze, viele Kommata). Aus all den Erkenntnissen dann einen eigenen finden. Und "finden" heißt Irrwege gehen, Fehlschläge eintstecken, neu überdenken, wieder neue Wege gehen.
Beste Grüße, Fliege