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Stille Momente
Die Stille hockt auf den noch warmen Pflastersteinen der Straße, die aus dem Stadtzentrum herausführt. Sie beobachtet Lars und Marve, die ihre Räder schieben, den kleinen Anstieg hinauf, wo die Stille sitzt.
Marves Schuhe klemmen im Gepäckträger. Ihre Fersen sind wund gescheuert, ebenso die kleinen Zehen. Dabei war sie so stolz gewesen, als der Verkäufer die Schuhe heute Nachmittag für sie in weiches Papier einschlug und sie ihm ihr erstes, selbstverdientes Geld reichte. Stolz, als sie zu Hause vor dem Spiegel die Füße drehte und als die Absätze über den Marmor des Stadttheaters klackerten.
Lars lässt sich ein Stück zurückfallen, um Marves Rock zu betrachten, der sich weich über die Konturen ihres Pos schmiegt und an den Knien endet. Er schaut auf ihre Waden, die sich anspannen und auf ihr Haar, um das sie ein rotes Band gebunden hat. Lars stellt sich vor, wie seine Hände ihre Schultern berühren, wie sie sacht über ihren Rücken gleiten, wie er sie an sich zieht und ihren Mund küsst. Wie seine Lippen zart mit ihrer Unterlippe spielen und seine Zähne sanft zubeißen. Wie der Duft ihres Haares ihm in die Nase steigt. Er hatte es gerochen, als sie beim Einlass zum Konzert durch die Menge ganz dicht aneinander gedrückt wurden.
Als die Beiden an der Stille vorübergehen, springt sie auf, setzt sich auf Lars' Lenkerstange, baumelt mit den Beinen und beschließt, sie ein Stück des Weges zu begleiten.
Marve schmunzelt, sie denkt an ihren ersten Kuss. Unten am Weiher, als sie mit einer Freundin die Lippen aufeinander pressten und bis zehn zählten und sich danach vor Lachen kugelten. Das ist jetzt ein paar Jahre her.
„Was ist?“, fragt Lars.
„Ach nichts. Nur so“, gibt Marve ihm zur Antwort und legt einen Schritt zu, damit er ihr Gesicht nicht sehen kann, in das die Hitze kriecht, die Scham oder Angst ihrer Unerfahrenheit.
Als sie vor Marves Haus stehen, lehnt Lars das Rad gegen den Gartenzaun und zieht Marve an sich, küsst sie auf die Wange und als ihr Protest ausbleibt, auf den Mund. Halt die Hände still, halt bloß die Hände still, zwingt er sich, um Marve keinen Vorwand zu liefern, diesen Kuss vorzeitig abzubrechen.
Die Stille klettert vom Rad und bummelt die Straße hinunter, hält den Daumen hoch, in der Hoffnung, ein einsamer Kraftfahrer würde sie ein Stück mitnehmen.
In der Küche riecht es nach Kaffee, Brötchen und Schwefel. Das abgebrannte Zündholz liegt kopflos auf einem Glasuntersetzer. Daneben die blaue Kerze, die mit ruhiger Flamme herunterbrennt.
Die Eier, viereinhalb Minuten gekocht und in ein Leinentuch geschlagen, stehen in der Mitte des Tisches. Zu Lars Seite die Himbeermarmelade im Keramiktöpfchen mit passendem Löffel; näher zu Marves Platz das Holzbrett mit Wurst und Käse.
Beide tackern mit den Messern gegen die Eierschalen, kauen, schieben einander die Butter zu, schlucken, klirren gegen den Tassenrand, wenn sie den Kaffee rühren, atmen, zutschen mit den Zungen die Reste zwischen den Zähnen hervor. Wenn ein Auto vorbeifährt oder ein Hund bellt, schauen sie aus dem Fenster.
Nach dem Frühstück blättert Lars in der Zeitung und Marve klappert mit den Stricknadeln. Ein Enkelkind wird im Winter geboren werden, da braucht es viel Warmes zum Anziehen.
Früher, als die Mädchen ihre Freundinnen zu Besuch hatten und auch die Puppen mit ihrem Puppengeschirr mit an den Tisch mussten, war es ziemlich eng. Und als die Freundinnen von jungen Männern abgelöst wurden, kauften sie einen neuen Esstisch.
Die Stille hockt mit ihren kurzen Beinen und ergrautem Haar neben der Kerze. Abwechselnd betrachtet sie Lars oder Marve, steckt hin und wieder ihren Finger in den Marmeladentopf.
Sie hat das Ehepaar in Griechenland wiedergetroffen, nachdem das letzte Kinderzimmer zu einem weiteren Gästezimmer geworden war. Lars und Marve saßen am Strand, schauten aufs Meer, hörten den Wellen zu und füllten ihre Lungen mit salziger Luft. Die Stille setzte sich zwischen sie. Zur Abreise schlüpfte sie zwischen Marves Kleider, flog mit ihnen nach Hause und zog bei ihnen ein.
„- geh mal das Laub zusammenharken“, sagt Lars später. Marve räumt den Tisch ab, schaltet das Radio ein und beginnt Staub zu saugen.
Die Stille schläft auf dem Esstisch, bis Marve das Mittagessen aufträgt.
Lars schmiert Himbeermarmelade aufs Brötchen und brüht sich einen Kaffee auf. Türkisch. Mit Teller und Tasse setzt er sich an den Küchentisch, blättert in der Zeitung, schaut aus dem Fenster und vermisst das Geklapper der Stricknadeln. Das Kreuzworträtsel hebt er sich für später auf, nun spült er sein Geschirr unter laufendem Wasser und geht ins Wohnzimmer. Er schaut in den Garten, sucht die ersten Krokusse, die ihr Grün an die Oberfläche schieben, kann aber keinen entdecken. Jedes Jahr werden es weniger, denkt er, sie verschwinden einfach in der Erde.
Er beginnt Staub zu wischen, auf dem Fensterbrett, in der Schrankwand, in Marves Setzkasten. Zwischen all den Steh-Rumchen, wie die Tochter sie nennt, findet er ein Auto. Das muss Ben dahingestellt haben, sein Enkel. Letztes Wochenende waren sie zu Besuch. Emma mit Paul und Ben.
Lars putzt unter dem Kupfertöpfchen, dem Kristallpapageien -, „wir könnten doch zu dir ziehen“, hat Emma vorgeschlagen - unter der Matroschka, dem Glaselch. Marve hatte all die Dinge von ihren gemeinsamen Reisen mitgebracht. Zu ihm ziehen, „das Haus ist groß genug und der Garten braucht eine kräftige Hand“. Sanft streicht er über das kleine Tonhaus, rechts unten in der Ecke.
Nervös zupfen seine Finger am Staubwedel. Dann nimmt er Bens Auto aus dem Kasten und stellt es vor sich auf den Couchtisch. Er lauscht in die Wohnung, wartet auf ein Geräusch, das die Stille durchbricht.
Diese sitzt auf dem Sofa, kratzt sich im Nacken und beäugt missmutig das Auto.
Lars erträgt die Stille nicht. Er schaltet den leeren Geschirrspüler ein, den Fernseher und die Waschmaschine. Für zwei Stunden beruhigt es ihn. Danach geht er auf den Friedhof, die Stille begleitet ihn, hockt auf seinen Schultern.
„Ich werde in eines der Kinderzimmer ziehen“, murmelt Lars zu Marves Stein hinunter. „Emma und Paul sollen das Schlafzimmer bekommen. Für Ben werden sie den Dachboden ausbauen. Deinen Setzkasten werde ich zu mir nehmen.“
Er nimmt ein Teelicht aus der Tasche, zündet es an und stellt es in die kleine Laterne bevor er geht und die Stille auf dem Friedhof zurück lässt.