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Stille Wut
Stille Wut editierte Fassung
„I’m breaking the habit today!”
Er saß da und fragte sich: „Wieso immer nur ich, immer nur ich?“ Eine Schulstunde war vorüber.Er verstand es nicht. Er verstand nicht, warum sie immer auf ihn gingen. „Warum?!“ donnerte es in seinem Kopf. „Warum?!“ schrie eine innere Stimme. Er schüttelte den Kopf. Nein, nein, nein.
Es war wie immer gewesen. Der Unterricht plätscherte so vor sich hin und irgendwann blieb er hängen. „Warum auch sich beteiligen“, dachten sich die meisten Schüler. „Scheiß Schule, verfluchte Zeitverschwendung!“, so sah es den Köpfen der anderen aus. Er teilte ihre Auffassung nicht. Er sah einen anderen Sinn. Er wollte lernen, er wollte so schnell wie möglich raus und Geld verdienen. Für die anderen, die verwöhnten Drugkiddys, wie er sie verachtungsvoll nannte, es aber ihnen nie sagte aus Angst vor noch mehr Repressalien, für die war er nur das geeignete Opfer. Die anderen wollten nur ihren Spaß. Dazu zählte nun mal auch schwächere Mitschüler zu quälen und sich das Schulleben ohne Schule zu gestalten.
Was sollte er auch ohne richtige Freunde machen, die ihn hätten beschützen können. Diejenigen die sich zu seinen Freunden zählten, waren irgendwo auch Idioten, aber sie kamen mit ihm aus. „Wenigstens werde ich etwas respektiert“, dachte er sich mit einem höhnischen Lächeln. Wenigstens waren heute nicht die Idioten da, die ihn oft genug benutzt haben um vor ihrer Freundin oder allgemein ihrer Clique ihre Coolness unter Beweis zu stellen, in dem sie ihn wie einen Punchingball behandelten.
„Was mache ich falsch, was zur Hölle mache ich falsch?“, fragte er sich in einem dieser Augenblicke, in denen er Zeit zum Nachdenken hatte. „Ich meine, ich sehe durchschnittlich aus, nerv nicht rum, fuck, was ist an meinen Charakter falsch?“ Das erste Mal überkam ihn heute eine stille Wut. Er war aufgewühlt wie nach jeder Stunde, die er überlebt hatte. Was war heute schief gelaufen? Das Übliche.
„Wieso bin ich eigentlich der Idiot, der meint er müsse etwas für seine Noten tun oder den Unterricht in Bewegung halten? Wieso?“ Diese Frage schallte wieder und wieder durch seinen Kopf. Er musste sie ja auch unbedingt dadurch provozieren. Er war besser als sie. Er zeigte es. Sein Schicksal war besiegelt, jedenfalls für diese Stunde, aber er würde und er machte denselben Fehler immer und immer wieder. Er war schlimmer als ein Vollidiot. „Warum können sie es nicht ab?“ Er verstand es nicht. Langsam wurde die Erinnerung an vergangene Zeiten, an vergangene Qualen und Demütigungen wach. Da kam wieder diese Wut, die er lange Zeit versucht hatte zu unterdrücken, sich nicht von ihr blenden und leiten zu lassen. Stille Wut stand in seinem Gesicht geschrieben. Nein, nein, nein. „Nein! Nein! Nein!“ erklang es in seinem Kopf immer lauter. Irgendetwas in ihm wollte sich Gehör verschaffen, etwas was er lange Zeit ignoriert hatte.
„Nein, bloß nicht dran denken“, sagte er sich, „bloß nicht dran denken.“
Die Selbstzweifel kamen in ihm wieder hoch. Lange vergessen doch nie ganz verschwunden. Die Wahrheit war, er dachte, er hätte sie endgültig überwunden, doch sie haben nur auf den richtigen Augenblick gewartet um wieder zu zuschlagen. Eine leichte Verzweiflung mischte sich in sein Gesicht.
Der Kampf in seinem Inneren, in seiner Seele hatte begonnen. Die stille Wut wuchs und sein Gesicht versteifte sich langsam.
Doch niemand kümmerte sich um ihn. Vielleicht wäre ausgerechnet jetzt irgendetwas von der üblichen Dosis Qualen notwendig gewesen. Noch war er ansprechbar, aber nicht mehr lange. Er saß ja auch nur einfach mit leicht nach vor gebeugtem Oberkörper auf einer Bank. Ironie des Schicksals! Die Sonne schien auf ihn. Es waren noch 7 Minuten bis zum Pausenende. Die Hälfte der Pause war also schon um. Doch davon bekam er langsam aber sicher nichts mehr mit.
Er stützte den Kopf zu Anfang noch leicht auf seine Hände. Seine Sachen lagen neben ihm.
Was war da in ihm nur los, jetzt verstand er sich selbst nicht mehr. Alles begann sich wie in einem Wirbelsturm, nein wie in einem Tornado nicht gekannter Größe aus Gefühlen und Erinnerungen zu drehen. Und dieser Tornado wurde immer schneller, langsam aber sicher riss er alles los, was nur er nur packen konnte. Er wurde langsam betäubt von der Wucht dieses Tornados. Tausende von Gedanken strömten durch ihn hindurch. Tausende von aufgestauten Gefühlen überfluteten ihn. „Nein! Nein!“ erklang dieser letzte Hilferuf seines Verstandes.
„Tu es nicht! Du kannst doch mit deiner Mutter über alles reden. Junge, bewahr dir einen kühlen Kopf. Junge, es ist keine Schande über seine Gefühle zu reden. Rede mit ihr oder jemand anderes darüber. Stop es, tu es nicht!“
Dieser letzte Versuch seines Verstandes ihn zu retten ging trotz der Lautstärke im Chor der Empfindungen unter. „Mit meiner Mutter reden“, sagte er sich spottend, „nein, das ist sinnlos.“
Er hatte diese Möglichkeit schon früher in Erwägung gezogen, aber es hatte als er mit seiner Mutter redete nicht den gewünschten Erfolg. Die Schule wechseln konnte er nicht, räumlich und finanziell bedingt. Es war nicht die Schuld seiner Mutter. Nein, der Schmerz war immer nur kurz betäubt worden, er verschwand nie. Bis jetzt hatte er sich mit der Devise „Nur noch zwei Jahre, nur noch zwei Jahre“ hochgehalten. Doch jetzt zählten nur noch mehr als 5 Jahre voller Demütigung, Ignoranz, physische Qualen und das Gefühl der Leere. Er hing bis vor kurzem demTraum nach, wenn er eine Freundin hätte, dann würden sich seine Probleme lösen. Jedenfalls die Leere, die Einsamkeit. Der Traum zählte nun nicht mehr, weil er ein Traum war und Träume sich nun mal nicht erfüllen, sonst wären es keine Träume. Aber seine Probleme hätten sich wahrscheinlich auch nicht dadurch gelöst. Die Wunden würden wohl auf ewig bleiben. Der letzte dumme, ignorante Spruch verbunden mit der entsprechenden Gestik und Mimik, der hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Irgend so ein dummer Engländer hatte ihm doch mal gesagt „Hey, no one promised your life would be fair.“ Ja, das war’s wohl. Niemand hatte ihm versprochen, dass sein Leben gerecht sein würde. Aber das es so ungerecht sein könnte, nein daran würde er jetzt etwas ändern.
Wie hieß doch gleich „Leave no deed undone“. Heißt dass nicht soviel wie „Lass keine Tat unerledigt“. Welche Tat er noch nicht erledigt hatte, fragte er sich, obwohl er die Antwort doch schon kannte. Eigentlich hätte jetzt sein Verstand eingreifen müssen, aber auch nur eigentlich. Sein Verstand ver-suchte sich mit letzter Kraft Gehör zu verschaffen, doch vergebens. Seine Rufe, seine Schreie gingen unter in dem Lärm der Emotionen. In der Ferne klang sein Ruf undeutlich und verschwommen nach. Er richtete seinen Oberkörper langsam auf. Doch das war kein gutes Zeichen. Er erlebte einer Achterbahnfahrt gleich die letzte Jahre mit ihren Gefühlen noch einmal und es machte ihn immer wütender, der ganze angestaute Schmerz verschaffte sich Gehör. Zu viele Stimmen in seinem Kopf ließen ihn immer schneller wahnsinniger werden. Wie ein Vulkan, der ausbricht, brach es brennend aus seiner Seele hervor.
„Nein! Wieso war ich so lange blind? Wieso habe ich solange alles verdrängt und mich dabei selbst verloren? Wieso nur musste das alles passieren, wie konnte es nur passieren?!? Was habe ich falsch gemacht?!“ schrie er innerlich in einem immer verzweifelter werdenden Ton.
Die Pause war fast vorüber nur noch zwei Minuten. Doch innerhalb der letzten fünf Minuten hatte sich sein Zustand rasend verschlimmert. Doch zum Glück oder zum Unglück bekam das niemand mit.
Seine Körperhaltung wurde immer steifer. Sie nahm immer schneller die Züge eines Psychopathen, eines geistig gestörten bzw. kranken Menschen an.
„Rache! Rache, Rache! Rache, Rache. Rache! Rache!“, schrieen die Stimmen in seinem Kopf immer lauter. „All these thoughts they make no sense!“
Doch plötzlich flaute der Sturm ab und legte sich langsam ganz. War er gerettet? War die stille Wut bezwungen worden? Hatte sein Verstand irgendwie doch noch obsiegt? Welch fataler Trugschluss mag das Bild auf den ersten Blick ergeben, das er in sich sieht. Überall Trümmerteile, Emoti-onen, Erinnerungen lagen dort verstreut. Er sah sich durch sein inneres Trümmerfeld gehen. Oben am Himmel da schien ein Licht. Doch dieses Licht trug den Namen Rache und aus den Trümmern erhoben sich Personen, die genauso aussahen wie er. Sie alle strebten zu dem Licht, zur Rache.
Von irgendwoher aus seinen Erinnerungen erklang verschwommen folgendes:„Ach, und könnt’ ich doch nur einz’ges Mal die Uhren rückwärts drehen.“ Und dann noch „Dein Leben dreht sich nur im Kreis, so voll von weggeworfener Zeit und deine Träume schiebst du endlos vor dir her. Du willst noch leben irgendwann, doch wenn nicht heute, wann denn dann? Denn irgendwann ist auch ein Traum zu lange her.“
Doch so wie diese Worte erklungen waren, so waren sie auch wieder verschwunden. Das Licht der Rache verschwand ebenfalls, aber nicht, weil es nicht mehr existierte, sondern weil er die Rache aufgesogen hatte. „Es geht kein Weg zurück“, dachte er sich mit einem leichten hämischen Lachen. Während sich seine Gedanken auf der einen Seite verlangsamten, wurde seine ganze Körperhaltung immer lebendiger. Doch das war nur das äußere Signal dafür, dass die Entscheidung gefallen war. „And nothing else matters.“ Zum ersten Mal seit langem grinste er, er lächelte in sich hinein, denn nun hatte er seinen Weg gefunden, den Weg der Rache. Das Klingeln zum Zeichen des Pausenendes hatte er vollkommen überhört. Die stille Wut würde sich endlich ihren Weg bahnen können. Er war erlöst worden. Gerade weil sein Verstand den Kampf verloren hatte, war er frei. Er stand auf, nahm seine Sachen und ging in Richtung Kursraum, in Richtung der Idioten.
„See you at the bitter end.”
Hinterher, nach der Stunde, nach seiner Rache muss er sich wohl folgendes gedacht haben: „Und was jetzt ist, wird nie mehr so geschehen."