Mitglied
- Beitritt
- 02.04.2006
- Beiträge
- 6
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Stille
Stille trat ein, und sie verschwand unter dem Schatten der Brücke. Wie konnte das geschehen? Wo lag sein Fehler? Die dunkelhaarige Frau, mit welcher er sich vor wenigen Minuten noch vollkommen in Harmonie, über die Vorzüge des neuen Schwimmbades in Stadtmitte unterhalten hatte, war plötzlich spurlos verschwunden.
Er hatte die Dame schon des Öfteren bemerkt. Vorallem dann, wenn er am frühen Morgen über die geflasterten Gehwege, nahe der großen Brücke, zu seinem Arbeitsplatz schlenderte. Er besaß kein Auto, warum auch? Er gehört zu der Sorte von Menschen, die eine eher konservative Grundeinstellung dem Leben gegenüber haben. Fortschritt bedeutet für ihn, gleichermaßen auch eine Belastung der Umwelt und eine mutwillige Verdrängung bestehender Werte.
An jedem Morgen sah er sie auf der anderen Seite des Gehweges in entgegengesetzte Richtung laufen. Sie fiel ihm immer äußerst positiv auf. Anfangs, hatte er große Schwierigkeiten sich seinen Gefühlen klar zu werden, jedoch pochte sein Herz von Tag zu Tag lauter, und seine innere Stimme befahl ihm, sich auf das unwiederruflich Kommende vorzubereiten. An diesem Morgen, als er sich zum ersten Mal traute, die unbekannte und doch so sehr vertraute Person anzusprechen, wollten seine Lippen anfangs nicht mitspielen und weigerten sich strickt auch nur einen Ton der Höflichkeit und der Annerkennung ihr gegenüber auszusprechen. Er begann die ungewöhnliche Konversation mit dem, so gut wie immer treffendem, Wort "Hallo". Sie starrte nur, erwiederte nichts. Er begann zu schwitzen, der Kragen seines fein gebügelten Nadelstreifenanzuges begann ihn auf einmal ungewöhnlich einzuängen, und sein Adamsapfel schien mehr zu wiegen als der Brückenpfeiler über ihnen. Sie starrte ihn unentwegt an. Langsam, aber sicher, spürte er ein unbehagliches Gefühl in seinem Bauch und er stellte sich die Frage worauf er sich nur eingelassen hatte. Doch dann, fast wie ein Donner nach einem Blitz, nur um einiges unerwarteter, sprach sie. Worte waren unwichtig und unscheinbar, denn er hatte nur noch Ohren für ihre Stimme, welche genau so klang, wie er sie sich in seinen Träumen immer und immer wieder ausgemalt hatte.
Lieblich, weich, ja nahezu gebrächlich. Seine Wangen begannen zu glühen, ihm wurde noch wärmer und doch war er in großem Maße erleichtert, den ersten Schritt in die mögliche Zukunft in trauter Zweisamkeit gemacht zu haben. Doch wo dachte er hin? Er war schon immer ein Träumer. Oft träumte er von alten Zeiten, und es graute ihm davor. Er träumte von den Möglichkeiten die er gehabt hätte, wäre alles anders gekommen. Hätte sein Leben damals schon, den notwendigen Schwung von außen bekommen, hätte er mit sich selbst freier und unbegrenzter auskommen können. Er hatte viele Zwänge und Marotten. Er tat sich schwer damit, seine Gefühle nach Außen hin zu zeigen, jedoch brodelte in seinem Innern ein Feuer, welches nur durch Liebe oder Hass zu einer, für ihn wertvollen, Person gestillt werden konnte. Er entschied sich für die Liebe. In der Frau, welche neben ihm so stand, sah er die beste Möglichkeit seine Entscheidung zu bestätigen.
Noch immer wie gebländet von dem Klang ihrer Stimme, stand er nun neben ihr und sah ihr in die Augen. Diese Taktik hatte er schon einmal in einem berühmten Film gesehen. Jedoch erinnerte er sich in diesem Moment nicht an diesen Film, sondern war mit ganzem Herzen bei der Sache. Ob sie ihn zärtlich anblickte oder eher durch ihn durch starrte, konnte er nicht feststellen. Nach einigen, wenigen Sätzen der Höflichkeit halber, ging ihnen der Gesprächsstoff aus. Nun musste er schnell sein. Fieberhaft überlegte er, was er als nächstes ansprechen sollte, wo sollte er das Gespräch hinleiten? Was konnte er sagen und was nicht? Er kannte seine Gegenüber ja kaum, nur vom morgentlichen Sehen, jedoch nicht wirklich. Sie war es, welche erneut das Wort ergriff. Sie fing an über das neue Schwimbad in Stadtmitte zu sprechen, lieblich sprach sie über ihre Angst von dem Zehnmeterturm zu springen und von dem Spass den sie doch immer hatte, wenn sie im Sommer zum Schwimmen dort hin fuhr. Auch er hatte Angst vor einem solchen Sprung und sowieso, ging ja doch nicht in das Schwimmbad, er hasste Menschenmassen. Doch das durfte er natürlich nicht preisgeben. So log er. Er erzählte ihr, dass er schon einige Male vom Zehnmeterturm gesprungen war und fügte großspurig hinzu, dass es nichts Besonderes wäre. Sie schaute ihn an. Er meinte ihre großen, schwarzen Augen, sich kurz verengen zu sehn, jedoch war es bestimmt Einbildung. Er fühlte sich stark. War er es nicht der sie angesprochen hatte und nun schon über eine Viertelstunde am kommunizieren war? Ja, er konnte stolz auf sich sein [...]
Die folgenden Augenblicke wurden die schmerzvollsten seines bisherigen Lebens. Sie ergriff erneut das Wort und fing an über ein Thema zu sprechen, beziehnungsweise eine Frage zu stellen, welche ihm ganz und gar nicht zusagte, ja mehr noch, welche ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. "Entschuldige, ich rede nur über mich, lass uns über dich reden. Wo kommst du eigentlich her und welches Ziel siehst du im Leben?"
Welch eine Frage. Er antwortete nicht direkt. Er zog es vor, die Frage noch einmal in Gedanken zu wiederholen. Kein Zweifel, sie stellte diese Frage. Sein Blut begann zu kochen. Erst wurde es kalt wie eine Eisscholle, dann kochte es und kühlte schlagartig wieder ab. Was sollte er nun antworten? Die Wahrheit? Sollte er ihr erzählen, dass er mit viereinhalb Jahren in ein Weisenhaus eingewiesen wurde, da seine Mutter bei seiner Geburt starb und sein Vater durch dieses Unglück dem Alkoholismus verfallen war? Sollte er ihr erzählen, dass er mit fünfzehn Jahren aus dem Weisenhaus geflohen war, drei Jahre auf der Straße, zwischen Müll und sozialen Katastrophen, lebte und erst danach, durch ein Hilfsprogramm des Roten Kreuzes, wieder zu Kräften kam und in der Lage war einen Kurs einer Fernschule zu besuchen, eine Ausbildung zum Elektromechaniker absolvierte und sich in elf Jahren zum Chef hocharbeietete? War es das was sie hören wollte, oder sollte er lügen? Er log. Was er sagte war unwichtig. Fakt war, dass er sich in ein angesehenes Licht stellte, um ihr zu imponieren um nicht als ein Nichtsnutz mit asozialer Vergangenheit darzustehen. Ihre Reaktion war verblüffend. Sie lächelte und sah ihn einen Moment mit dezentem Blick an. Dieser Moment kam ihm ewig lang vor, und er wünschte sich mittlerweile, all dies sei nicht geschehen, hätte er sich doch lieber für den Hass entschieden um seinem Leben einen Sinn zu geben und um die Vergangenheit zu verarbeiten. Hatte er nicht alles so gesagt, wie sie es hören wollte? Warum schaute sie ihn so undurchdringlich an. Ihm wurde unwohl, gradezu schlecht. Sie sagte nichts, drehte sich um und ging. Er starrte ihr nach, sah sie unter der Brücke verschwinden und meinte ein leises Summen in seinem Ohr zu hören. Es war unerdräglich Still. So still, dass er es nicht mehr aushielt. Er schrie, sein schreien ging in ein häftiges Schlurzen über und wurde zu einem hysterischen Hilfeschrei gegen den Himmel. Wäre er bei Verstand gewesen, so hätte er sein Echo in der Ferne der Häuser wiederhallen gehört. Wie Glas, zersplitterte in diesem Moment sein Traum die Liebe zu verwirklichen und Bestätigung in dieser, einen Frau zu erlangen.
Wie bei seiner Falschheit in der vorriegen Konversation, bestand auch in dieser Situation die Möglichkeit einer Entscheidung.
Er stand vor dieser Entscheidung und musste nur noch einen Entschluss fassen.