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Stiller und das schwarze Nichts
Stiller und das schwarze Nichts
Stiller lag auf dem Boden der Straße, er erwachte und schreckte hoch. Rundherum war alles grau, dunkel und schwarz - es war Nacht. Panische Angst breitete sich erst langsam, dann schnell in seinem Körper aus, sein Herz begann zu rasen. Nur schwer konnte er atmen. Er wußte nicht, warum er hier auf dieser Straße lag, er wußte auch nicht, wo er vorher gewesen war. Um nicht von einem Auto überfahren zu werden, tappte er langsam und instinktiv zum rechten Rand der Straße. Er konnte sich nicht mehr erinnern.
Es standen keine Sterne am Himmel, der Mond war nicht zu sehen, dort oben, wo der Himmel sein mußte, war alles schwarz.
Er tastete seinen Körper ab, er trug einen grauen Anzug, darunter ein schwarzes Hemd. Er hatte kein Handy dabei. Er blickte die Straße hinunter. Rechts und links von dieser Straße standen völlig gleich aussehende Reihenhäuser aus Beton. Die Straße machte an ihrem Ende keinen Bogen, sondern endete im Schwarz der Nacht. Stiller drehte sich um und schaute die Straße in die andere Richtung hinunter.
Der gleiche Anblick – die gleichen Reihenhäuser, auch hier endete die Straße im dunklen Schwarz. Solange die Straße zu sehen war, wurde sie von Straßenlampen im Abstand von ca. 30 Metern beleuchtet. Alles war hier symmetrisch – alles sah gleich aus. Nur dort, wo er zuvor gelegen hatte, befand sich ein kreisrunder Kanaldeckel..
Stiller dachte nach. Nicht nur, dass er nicht wußte, wie er auf diese Straße gelangt war – er konnte sich auch nicht an sein zu Hause erinnern. Er wußte nicht, wo er zuvor gelebt hatte. Ihm war klar, dass er sein Gedächtnis verloren haben mußte.
Langsam aber bestimmt begann er, die Straße hinunterzugehen. Seine Schritte wurden schneller. Er achtete darauf, nicht ins Laufen zu verfallen. Er wollte nicht auffallen. Wie in einem billigen Videospiel der neunziger Jahre zogen die immer gleichen Reihenhäuser und die immer gleichen Laternen an ihm vorbei.
Der Fluchtpunkt am Horizont, an dem die Straße im Schwarz verschwand, wurde immer größer und deutlicher. Plötzlich hatte er diesen Punkt erreicht und nun stand er im Nichts.
Vor ihm war nur noch schwarzer Raum, unter ihm glatter, schwarzer Boden. Auch rechts und links – war alles schwarz. Hinter ihm lag diese Straße - mit den gleich aussehenden Reihenhäusern.
Stiller kehrte um, mit schnellen Schritten ging er auf das andere Ende der Straße zu. Er passierte den Kanaldeckel, also die Stelle, an der er erwacht war und ging nun auf den entgegengesetzten schwarzen Fluchtpunkt am Horizont zu. Er kam am anderen Ende an. Auch hier mündete die Straße in einem schwarzen und unendlichen Raum.
Panik durchbohrte Stillers Körper. Er zitterte. Inzwischen war er wieder zur Mitte der Straße zurückgekehrt. Er starrte auf den kreisrunden Kanaldeckel.
Er konnte sich nicht erklären, was geschehen war. Vielleicht war er Teil eines wissenschaftlichen Experimentes, vielleicht erlebte er gerade einen Alptraum oder er war einfach verrückt geworden. Eine Straße, die im Nichts endet und überall gleich und aussieht, konnte es in der Realität nicht geben. Stiller fühlte sich wie eine weiße Laborratte in einem Käfig.
Da gab es noch die Reihenhäuser. Er überlegte, ob er einfach zu einem dieser Reihenhäuser hingehen könnte und versuchen könnte, Kontakt aufzunehmen. Erst jetzt merkte er, dass er noch keinen einzigen Menschen in dieser Straße gesehen hatte. Dann dachte er wieder an das Dunkel am Ende der Straße - es konnte nicht real sein. Er wußte nicht, wo er sich befand, aber wenn es hier Menschen gab, so mußte er schon aufgefallen sein. Vielleicht beobachtete man ihn. Stiller wurde es noch unbehaglicher zumute.
Er sah sich ein Fenster, eines der Reihenhäuser genauer an. Es war schwarz. Man konnte nicht durchsehen. Alle Fenster aller Reihenhäuser hier waren schwarz und man konnte nicht durchsehen.
Plötzlich spürt Stiller einen kalten Luftzug auf seiner Haut. Es fallen Schatten von oben auf ihn herab. Höchst erschrocken blickt Stiller nach oben. Ein Schwarm von Vögeln, es müssen Raben sein, fliegt über ihn in symmetrischer Formation hinweg. Sie krächzen.
Stiller schrie kurz auf und unterdrückte seinen Schrei sofort wieder. Dann versuchte er ruhig und vernünftig zu sein. Es waren nur Vögel, von irgendwoher mußten sie gekommen sein.
Stiller glaubte nicht mehr an das dunkle Ende der Straße im Nichts. Jedes Nichts mußte ein Ende haben. Stiller ging entschlossen los. Er erreichte das Ende der Straße und ging weiter ins schwarze Nichts.
Er ging Stunden. Er war fest entschlossen. Mittlerweile weit hinter ihm lagen die Straße und die Reihenhäuser. Sie waren nur noch ein kleiner Lichtpunkt. Dann – völlige Dunkelheit alles war schwarz. Stiller ging weiter. Er fühlte einen Luftzug, vielleicht flogen die Raben über ihm.
Stiller weinte vor Angst und vor Verzweiflung, keinen Ausweg zu finden. Was würde nur sein, wenn er sich für immer im Dunklen verlaufen würde. Oder wenn es noch andere Tiere als Raben hier gab. Sie würden über ihn herfallen.
Dann wieder der Gedanke an die Vernunft. Es konnte in der Realität kein ewiges Dunkel geben. Es mußte ein Ausweg existieren. Dann sah er einen winzigen Lichtpunkt am Horizont – gerade als er sich freuen wollte, hörte er einen Schrei.
Der Schrei beeindruckte Stiller nicht weiter, glücklich darüber, endlich wieder Licht vor Augen zu haben, rannte er auf den neuen Lichtpunkt am Horizont zu.
Ein erstes Entsetzen.
Das, was er da sah, ähnelte der Straße, auf der er vor Stunden erwacht war.
Dann stand es fest.
Stiller war im Kreis geirrt und kam nun von der anderen Seite zurück, in die schon bekannte Straße. Stiller war erschöpft, er legte sich hin und schlief ein.
Stiller lag auf dem Boden der Straße, er erwachte und schreckte hoch – doch es hatte sich nichts geändert. Noch immer hatte er keine Erinnerung an seine Vergangenheit. Er wußte aber, dass er sich in einer Straße befand, aus der es scheinbar nur einen Ausgang in die Dunkelheit gab. So etwas konnte es in einer realen Welt nicht geben.
Daher stand Stiller auf, er hatte mittlerweile einen Durst bekommen und ging zu einem der Reihenhäuser. Er klopfte an der Tür.
Schließlich saß er in einem vier mal vier Meter großen Raum. Vor ihm saß ein Mann, etwa dreißig Jahre alt. Dieser Mann war mit einer grauen Hose und einem weißen Hemd bekleidet. Der Mann hatte Stiller Wasser gegeben. Der Mann hatte Stiller Graubrot gegeben. Dann hatte Stiller seine Situation erklärt, hatte von der Dunkelheit am Ende der Straße erzählt. Nun sah er den Mann, er nannte sich Friedrich, an.
„Es war schon immer so“, sagte Friedrich.
Stiller blickte Friedrich fragend an.
„Ich kenne keine Welt hinter dieser Straße“, sagte Friedrich.
„Aber woher kommt das Brot, woher kommt das Wasser“, fragte Stiller triumphierend.
„Das Brot ist einfach da – das war schon immer so“, sagte Friedrich.
„Und die Raben, die ich gesehen habe – woher kommen sie?“
„Die gibt es schon immer, jeden Tag durchqueren sie die Straße.“
„Wann sind sie das letzte Mal auf der Straße gewesen“
„Noch nie“, sagte Friedrich.
„Gibt es hier noch andere Menschen als sie und mich hier?“
„Das weiß ich nicht“, antwortete Friedrich.
„Woher kam der Schrei, den ich hörte?“
„Das weiß ich auch nicht“, antwortete Friedrich.
Friedrich hatte auf viele von Stillers Fragen keine Antwort. Offensichtlich lebte er seit je her - in diesem kleinen vier mal vier Meter kleinem Raum.
Stiller dachte nach. Vielleicht hatte auch er vor seinem Gedächtnisverlust in einem dieser Reihenhäuser gelebt. Dann war etwas tragisches passiert und er war wie ein Stern vom Himmel gefallen. Wenn seine Theorie stimmte, dann mußte er nach seinem Zimmer, also seinem Platz in dieser Welt suchen. Daher ging Stiller zu einem weiteren Reihenhaus.
Es öffnete Friedrich. Nein, es war nicht das gleiche Reihenhaus, in welchem Stiller zuvor mit Friedrich gesprochen hatte. Dieser „neue“ Friedrich konnte ebenfalls keine neue Anworten geben. Aber auch hier wurde Stiller mit Graubrot und Wasser versorgt. Stiller klingelte an sämtlichen Reihenhäusern der rechten Straßenseite und immer wieder öffnete Friedrich. Und als Stiller an Reihenhäusern zum zweiten Mal klingelte, und er eigentlich erkannt werden mußte, kannte man ihn wiederum nicht.
Stiller ging zurück zum Kanaldeckel. Obwohl die Situation immer noch unheimlich war, hatten ihn die Gespräche und das Graubrot etwas beruhigt. Trotzdem schrie er jetzt vor Verzweiflung.
Nach diesem Schrei kehrte die Angst augenblicklich zurück.
Stiller wußte, dass er seinen eigenen Schrei schon einmal gehört hatte - als er aus der Dunkelheit zurückgekehrt war.
Die Raben flogen über die Straße hinweg.
Stiller hatte noch keine Reihenhäuser auf der linken Seite der Straße besucht.
Die Tür wurde dort von Lora geöffnet. Sie trug einen grauen Rock und eine weiße Bluse. Sie war hübsch, lächelte Stiller an und bat ihn herein. Stiller fand sie attraktiv.
Auch bei ihr gab es Graubrot. Stiller wußte sofort, er würde bei ihr bleiben, er dachte an Sex. Er würde versuchen, sie zu verführen. Er fühlte sich überlegen. Er hatte nichts zu verlieren.
Da kehrte seine Erinnerung zurück.
Geld, Schnellkredite, Reisen und Abenteuer. Nein – das konnte er sich nicht ausgedacht haben, nein, hier stimmte etwas nicht. Nein, diese Welt konnte nicht real sein.
Er ignorierte Lora, schlug die Tür zu, lief zurück zum Kanaldeckel.
Die Raben hatten sich auf dem Kanaldeckel versammelt.
Bedrohend richteten sie, ihre schwarzen Schnäbel auf ihn. Stiller schubste sie mit seiner Hand sanft zur Seite. Er ließ sich durch ihr Krächzen nicht beirren.
Er öffnete den Kanaldeckel und stieg hinab. Er erreichte einen weißen Raum. In der Mitte des Raumes stand ein weißer Tisch. Auf diesem Tisch stand ein roter Schalter. Auf dem Schalter stand „AUS“. Stiller hatte den Ausweg gefunden.