- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Stimmen in der Nacht
Stimmen in der Nacht
"Psst, Lasse, bist du auch noch wach? Darf ich zu dir ins Bett?" Wortlos schlägt Lasse die Bettdecke für seine kleine Schwester zurück. Er kann auch nicht schlafen. Mit seinen elf Jahren ist er der große Beschützer für Lia.
"Ich habe Angst, hörst du das auch?" fragt Lia. "Ich glaube, die beiden streiten sich schon wieder!" Gedämpft dringen Stimmen durch die Wand und die Tür des Kinderzimmers. Man kann nicht verstehen, was gesagt wird, aber es klingt böse und gemein.
"Vielleicht ist das im Fernsehen?", fragt Lia mit Hoffnung in der Stimme. Doch nach einigen Augenblicken schüttelt Lasse den Kopf. Wenn der Fernseher an ist, können die Kinder das bläulich weiße Schimmern im matten Glasteil der Kinderzimmertür sehen. Doch heute Abend ist da keine Helligkeit. Nur eine dunkle Fläche, ein wenig aufgehellt durch die Stehlampe im Wohnzimmer.
"Meinst du, sie wissen nicht, dass wir sie hören können?" Lia zittert trotz der warmen Bettdecke und kuschelt sich enger an den großen Bruder. "Schließlich sind wir doch nicht taub ..." Lasse nickt im Dunkeln. "Ich weiß es auch nicht, Lia. Wahrscheinlich denken sie, wenn die Tür zu ist, dann sind wir sozusagen weg und sie denken nur noch an sich selbst und ihre Probleme. Und das Schlimmste ist, finde ich, wenn sie morgen früh wieder sagen: Alles in Ordnung, macht euch keine Gedanken – als ob wir Babys wären, die nichts mitkriegen!"
"Und wenn sie sich nun scheiden lassen?"
Da war es, das von beiden Kindern gefürchtetste Schreckens-Wort. Noch nie hat einer von beiden sich getraut, es wirklich auszusprechen. Lia flüstert es voller Angst, ihre Augen glitzern im wenigen Licht, das durch die Milchglasscheibe fällt. Lia und Lasse haben es immer nur leise für sich gedacht, das schlimme Wort, doch inzwischen ist es in der Wirklichkeit so nah gekommen, dass es eigentlich richtig gut tut, es endlich einmal laut zu sagen.
Lasse seufzt tief und steckt die Bettdecke ganz fest um sie beide. Das gibt so ein geborgenes Gefühl, denkt er. "Zuerst wollte ich ja gar nicht darüber nachdenken, der Gedanke war einfach zu schrecklich, aber diese Streiterei dauert nun schon so lange Monate. Fast jeden Abend, wenn Papa überhaupt mal nach Hause kommt ..." Er drückt Lia ganz fest an sich, um sie ein bisschen zu trösten. "Sie sprechen auch tagsüber gar nicht mehr richtig miteinander, bloß noch sowas wie ‚Die Telefonrechnung ist aber hoch‘ oder ‚Essen ist im Kühlschrank‘, hast du das nicht auch gemerkt?"
Lasses kleine Schwester zieht die Nase hoch und nickt mutlos im Dunkeln. "Ich wünschte ja auch, alles wäre wie früher, Lia", sagt Lasse leise. "aber das geht nun mal nicht! Vielleicht hört das Streiten ja auf, wenn sie nicht mehr zusammen wohnen? Vielleicht ist das doch besser, als so, wie es jetzt ist?"
"Ja – aber, und wir?", fragt Lia. Sie ist ein bisschen froh, dass Lasse schon so vernünftig darüber nachgedacht hat. "Haben wir dann keinen Papa mehr?", fragt sie noch. "Oder wohnen wir dann bei Papa und die Mama ist weg? Müssen wir dann in eine andere Schule und in einen anderen Kindergarten?" – "In meiner Klasse sind einige Kinder,", sagt Lasse beruhigend. "deren Väter woanders wohnen und die sie alle vierzehn Tage oder so besuchen. Ganz sicher gewöhnt man sich nach einer Weile daran. Also ich hätte jedenfalls lieber Mama und Papa einzeln, wenn sie dann nur nicht mehr streiten müssen!" Lia nickt, da hat Lasse mal wieder Recht, denkt sie ein bisschen getröstet.
Im Wohnzimmer ist jetzt Ruhe, aber Lasse hört, wie nebenan im Gästezimmer das Klappbett aufgeschlagen und bezogen wird. Das ist sicher auch kein gutes Zeichen, wenn die Eltern nicht mehr in einem Zimmer schlafen wollen.
"Wenn ich mal Kinder habe", sagt Lia plötzlich, "Dann heirate ich einfach gar nicht erst!" Über Lias Reihenfolge muss Lasse trotz aller Sorgen lächeln. Gut, dass wir uns gegenseitig haben, denkt er noch, bevor er endlich einschläft, vielleicht wird alles gar nicht so schlimm ...