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Straßenköter
Neulich bin ich Straßenbahn gefahren. Das mache ich sonst nie, ist mir zu voll da. Und zu teuer. Früher bin ich viel Bahn gefahren, jetzt nicht mehr. Aber dann habe ich es mal wieder gemacht, keine Ahnung wieso, wollte mich wahrscheinlich erinnern, wie das ist, Bahn zu fahren.
Ich hab mir einen Fahrschein gekauft, eine Monatskarte habe ich ja nicht, lohnt sich nicht. Und den hab ich dann die ganze Zeit in der Hand gehalten, bis er total zerknüllt war und irgendwie feucht von meinem Schweiß. Hab ihn in der Hand gehalten, falls ein Kontrolleur kommt, damit ich ihn dann nicht aus der Tasche kramen muss. Dann werde ich hektisch, wenn einer was will und ich muss erst kramen. Und ich habe gedacht, das sieht dann aus als würde ich schwarz fahren, wenn ich so krame. Deshalb der Fahrschein in der Hand.
Mir schräg gegenüber saß ein Mädchen. Saß da so neben dem Eingang, direkt in der Nähe des Fahrscheinentwerters. Mein Fahrschein ist entwertet. Ich weiß noch, dass meine Mutter früher immer knipsen gesagt hat. Aber knipsen ist ein blödes Wort. Fällt mir erst auf, wenn ich so drüber nachdenke. Knipsen klingt komisch. Deshalb sage ich entwerten, auch wenn das noch komischer klingt, aber wenigstens hört es sich korrekt an. Knipsen.
Gegenüber saß also dieses Mädchen. Das erste, was mir an ihr auffiel, war ihr Lippenstift. Ganz rot war der. Nuttig, hätte meine Mutter gesagt. Und ihre Haare waren struppig, straßenköterblond, so nichtssagend, als hätte die Natur keine Farbe mehr gehabt für sie, und alle Reste zusammengemischt, blond und schwarz und braun und rot, und sowas kam dabei raus. Wenn sie vor einer dreckigen Hauswand stünde, dann sähe es bestimmt aus, als hätte sie gar keine Haare. Und wahrscheinlich war deshalb ihr Lippenstift so rot, um das alles wieder wettzumachen.
Das Mädchen trug Bermudashorts, in khaki, und eine weiße Bluse. Passte gar nicht zu ihr, so eine weiße Bluse. Und zwischen ihren Füßen auf dem Boden fläzte ein Seesack, oder zumindest stelle ich mir einen Seesack so vor. Irgendwie alt, groß und unförmig, und er hatte dieselbe Farbe wie ihr Haar.
Ich hab das Mädchen beobachtet und wusste gar nicht, wieso. Sie hat die ganze Zeit mit ihren Füßen auf dem Boden rumgebohrt, ein bisschen zappelig, aber ihr Oberkörper blieb dabei ganz ruhig.
Und dann kamen tatsächlich Kontrolleure, gleich mehrere. Es stieg einer hinten ein, einer ganz vorn und einer in der Mitte. Mich kontrollierte einer mit Schnauzer. Sagte: „Fahrscheine bitte“, und mir ist ganz heiß und kalt geworden, an das Gefühl erinnere ich mich noch. Das war schon immer so gewesen, wenn ich kontrolliert wurde, früher, als ich noch öfters Bahn gefahren bin. Und dann ist mir eingefallen, achso, ich hab ja einen Fahrschein, kein Grund zur Panik. Aber früher bin ich oft schwarz gefahren, mit meiner Mutter war das. Nicht, weil wir es uns nicht leisten konnten, aber meine Mutter fand es einfach praktisch. Sie hätte auch bestimmt gelacht über diesen Kontrolleur mit dem akkuraten Schnauzer. So wie sie immer was zu kritteln hatte an den Leuten, meine Mutter.
Ich gab dem Kontrolleur mein Ticket und er sah es sich an, ging ganz schnell. Und ich hab zu dem Mädchen rübergeschaut, an dem massigen Körper des Kontrolleurs hab ich vorbeigeschaut und da steht einer neben ihr, sagt: „Fahrscheine bitte“, und das Mädchen steht auf, nimmt einen Fahrschein aus ihrer Hosentasche und knipst ihn. Also entwertet ihn. Saß ja direkt neben so einem Fahrscheinentwerter. Vor den Augen des Kontrolleurs macht sie das, und der ist ganz baff. Sie lächelt ihn an, mit ihrem breiten, roten Mund und sagt: „Bitte“, und der Mann nickt. Ist immer noch baff, aber er nickt und sagt: „In Ordnung.“
Und ich hab gedacht: Wow. Oder nein, das nicht. Ich dachte wahrscheinlich: Wahnsinn. Oder ich glaube, ich habe eher gar nichts gedacht. Oder ich weiß es einfach nicht mehr. Was denkt man in so einem Moment?
Das Mädchen ist in der Liebknecht-Straße ausgestiegen. Ich hab ihr hinterhergesehen, ihren struppigen Haaren, die man gar nicht sieht. Sie hatte einen raschen Gang, so wie man es überhaupt nicht erwartet, von so einer. Man denkt, so Menschen mit Seesäcken als Tasche laufen ganz behäbig, als könnte sie nichts aus der Ruhe bringen. Und am besten barfuß. Aber das Mädchen hier war nicht barfuß, die hatte Schuhe an. Was das für welche waren, darauf hab ich nicht geachtet. Aber ihr Gang war flott, sie hat ganz kleine Schritte gemacht, hat so gewippt dabei.
Komisch, hab ich gedacht, das weiß ich noch. Komisch.
Ich fahre jetzt immer mal mit der Bahn, wenn mir danach ist. Nicht oft, weil meistens ist es wirklich zu voll, und teuer ist es auch. Früher bin ich ja viel schwarz gefahren, aber das mache ich jetzt nicht mehr.
Anfangs habe ich immer geschaut, ob ich das Mädchen nochmal sehe, aber das habe ich nicht. Ich hab mich sogar an dieselbe Stelle gesetzt und hab versucht, um dieselbe Zeit Bahn zu fahren, so gut es halt ging. Aber dann ist mir neulich eingefallen, totaler Schwachsinn eigentlich, so eine wie die, also wie das Mädchen, die setzt sich nicht immer an dieselbe Stelle. Und fährt auch nicht um dieselbe Zeit Bahn. Genauso knipst sie ihren Fahrschein, wann sie halt lustig ist. Wann sie halt lustig ist, wieder so ein blödes Wort. Eigentlich sind es ja mehrere Wörter. Das kommt auch von meiner Mutter, muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Das sagt doch keiner.
Auch wenn ich denke, dass es Schwachsinn ist, fahre ich jetzt doch ab und zu Bahn.
Nach vier Monaten oder so, also vier Monate, nachdem ich dieses Mädchen gesehen habe, ich hab sie schon fast vergessen, da sehe ich sie wieder. Sie steigt ein, ganz hinten in der Bahn, und ich stehe in der Mitte. Weil ich keinen Platz gefunden habe beim Einsteigen, dabei war noch vieles frei, aber ich wollte mich nicht neben jemanden setzen. Und dann, so nach zehn Sekunden, da ist es zu spät, es sich anders zu überlegen, weil das sieht dann immer komisch aus, sich doch noch hinzusetzen, so unentschlossen. Also stehe ich. Und sehe das Mädchen, zufällig.
Und komisch, denke ich, komisch, das Mädchen sieht genauso aus wie vor vier Monaten, derselbe Seesack, dieselben struppigen Haare, derselbe Lippenstift. Und sie knipst nicht. Also entwertet nicht. Und so eine wie die hat bestimmt keine Monatskarte.
Ich habe auch keine Monatskarte, fällt mir ein und ich lächle überrascht. Ich habe keine Monatskarte und ein Ticket hab ich auch nicht gekauft, komisch. Ganz vergessen. Ich fahre schwarz.
Am nächsten Tag fahre ich wieder schwarz, diesmal mit Absicht, und insgeheim hoffe ich, dass jetzt ein Kontrolleur kommt und meinen Fahrschein sehen will, damit ich es machen kann, wie das Mädchen. Ich sitze also direkt neben dem Eingang, den Fahrscheinentwerter ganz in der Nähe und stelle die Tasche zwischen meine Füße auf den Boden. Sie ist zwar aus Leder, aber das stört nicht. Hin und wieder schiele ich zum Fahrscheinentwerter, dann wieder zu dem Ticket, das ich in der Hand halte. Versuche, ein bisschen mit den Füßen zu wackeln, aber dann merke ich, wie mich ein älterer Herr anguckt und ich lasse es bleiben. Starre stattdessen aus dem Fenster.
Es kommt niemand.
In der Milchinselstraße muss ich eigentlich aussteigen, ich ringe mit mir. Bleibe sitzen. Ich fahre noch eine Runde, und noch eine, es sind schon zwei Stunden vergangen. Der Fahrschein ist in meiner Hand, ein bisschen feucht vom Schweiß, aber nicht so schlimm zerknüllt, ich stecke ihn in die Hosentasche und ich frage mich, ob um die Zeit überhaupt noch ein Kontrolleur unterwegs ist.
Und in dem Moment, in dem ich das denke, steigen sie ein, drei Kontrolleure. Einer vorn, einer in der Mitte und einer hinten. Mir wird wieder heiß und kalt, Blut schießt mir ins Gesicht. Bestimmt werde ich rot, aber ich darf nicht rot werden, das Mädchen ist auch nicht rot geworden. Dabei hatte sie ganz helle Haut, richtig blass.
Der Kontrolleur steht vor mir, irgendwie sieht er grob aus, auch wenn er keinen Schnauzer hat diesmal. Und er starrt auf mich hinab und sagt: „Ihr Ticket bitte“, und ich starre zu ihm hoch und bin irritiert, weil er mich so direkt anspricht und „Ihr Ticket bitte“ sagt, statt „Fahrscheine bitte“, so wie sie es sonst immer machen. Ich zwinge mich, an das Mädchen zu denken, wie sie aufgestanden ist, ganz flink, und ich stehe auf, stolpere fast über meine Tasche und drücke mich vorbei an dem Kontrolleur. Drücke mich an ihm vorbei, sage: „Entschuldigung“, ganz leise und beiße mir hinterher auf die Zunge, so ein Blödsinn, entschuldigung. Mit glitschigen Fingern krame ich den Fahrschein aus meiner Tasche, ewig dauert das, weil die Hosentasche eng ist, fummle an dem Ticketentwerter herum, kriege den Fahrschein nicht rein irgendwie, weil er jetzt doch ganz zerknüllt ist und ich komme gar nicht dazu, ihn zu knipsen, weil da greift der Kontrolleur schon nach meinem Handgelenk und sagt: „Kommen Sie bitte mit.“
An der Milchinselstraße steigen wir aus.