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Strom fluider Gedankengänge

jbk

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17.06.2003
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Strom fluider Gedankengänge

Es ist wieder einer dieser Nächte. Ich sitze mit einem Buch auf dem Sofa, vor mir flimmert eine Wissenschaftsserie des Bayrischen Rundfunks auf dem Fernseher, es geht um Integralfunktionen, was mir während meiner Schulzeit egal war. Mich juckte es nicht, in diesem Fach schlechte Noten geschrieben zu haben, weil ich mich kontinuierlich über all die Jahre nicht damit beschäftigt hatte. Doch was in der Schule über mehrere Jahre gelernt werden sollte, sah ich in dieser Sendung zusammengefasst. Es ist verständlich. Gut. Und weiter im Faust. Was der Goethe nicht alles darin zusammenfasste. Mich interessieren momentan die Metren und Rhythmen seiner Dichtungen. Kolossaler Querschnitt. Gleichzeitig bin ich mit den Gedanken bei Shakespeare und seinen Sonetten. Verbindungen treten in meinem Bewusstsein, tanzen dort, finden ihren Platz in den synaptischen Verbindungen meines Langzeitgedächtnisses. Erinnerung. Viele Zeiten treffen hier gemeinsam, im Hier und Jetzt, werden zeitlos. Bewegte Bilder, farbig und mit Ton: mein kleiner Kinosaal, Filme meines Lebens, fantastisch zusammengestellt, immer neue Konstellationen, bestirnter Himmel. Kant liegt mit im Sinn: "Zwei Dinge sind grenzenlos: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir." Eine schöne Vorstellung. Habe mich in vielen Nächten selbst davon überzeugt, dass die Sterne unendlich kombinierbar sind, indem ich keine endliche Kombinationszahl fand. Sterne, Milliardenjahre altes Licht, auch zeitlos, dort oben am Firmament, wie die Erinnerung. Neurotransmitter sind verantwortlich dafür, stellen synaptische Verbindungen her, diffundieren durch den Spalt, mitteln: chemische Moleküle, Raumstrukturen von Dopamin und Serotonin, Adrenalin, Acetycholin, GABA, viele mehr. Ich lege den Faust beiseite, gehe zum Bücherregal, suche mir das Buch „Einführung in das Medizinstudium“ heraus, schlage nach, vergleiche die Strukturen, bewundere die Macht einer kleinsten Veränderung und ihre große Wirkung im Menschen. Was ich als Student der Germanistik und Philosophie mit einem naturwissenschaftlichen Buch mache? Lesen natürlich. Spontan kommt nämlich Interesse auf, etwas zu erfahren, verstehen zu wollen – und das meist querfeldein. Ich liebe dieses kreative Lernen. Es bringt Abwechslung und beschert mir dopamine Glücksgefühle; vernetztes Denken, fluide Intelligenz, alles im Fluss; ein paar Begriffe für das, was mir Spaß macht. „Namen sind nur Schall und Rauch“, lässt Goethe seinen Faust sagen. Goethe hat’ s aber geklaut. Von Shakespeare. Der lässt Julia in der berühmten Balkonszene am Anfang des zweiten Aktes sagen: „What’s in a name?“ So etwas finde ich interessant. Dann fällt mir Marlowe ein, Zeitgenosse Shakespeares während der Renaissance in England, auch als englische Klassik bekannt, eben jene Bezeichnung in der Zeitgeschichte, in denen die bedeutendsten Werke erschaffen wurden. Und der Shakespeare war schon einer. Siebenunddreißig Bühnenstücke hat er in seinem Leben verfasst. Aber war es überhaupt Shakespeare? Die „Stratfordians“ meine ja, die „Oxfordians“ hingegen geben als Urheber der Stücke und Gedichte Edward de Vere, 17th Earl of Oxford, an. Mir momentan egal, wer sie geschrieben hat; Hauptsache, dass sie geschrieben worden sind. Was wäre ich ohne Shakespeare? Um einiges ärmer. Vielleicht auch aus einem dann unbestimmbaren Grund trauriger. „Shall I compare thee to a summer’s day?“ Es ist eine Liebe. Mit Shakespeare durfte ich auf der Bühne stehen, durfte mit der Rolle des Don Pedro in “Much ado about nothing” Gefühle der Freude, der Liebe, des Wutes und Hasses herausschreien, die sich lange Zeit in mir aufgestaut hatten. In andere Rollen schlüpfen und Gefühle aus anderen Situationen mit einfließen lassen, der Figur zueignen, sie als Ventil nutzen – das ist die Magie der Bühne. Ich sage mir laut den Faustmonolog der Szene Nacht auf. „Habe nun, ach…“ Den habe ich auswendig gelernt, als wir das Drama in der Schule durchnahmen. Ging recht flott. Solche Sprache lässt sich gut speichern, wie auch die von Shakespeare. Sie ist bildlich, man kann sie sich vorstellen. Sie hat einen eigenen Rhythmus, der direkt ins Blut geht. Und das Gefühl dahinter ist vertraut. Wo wir wieder bei der Erinnerung sind. Das sind schöne Erinnerungen, wenn ich an die Deutschstunden denke, an die Literaturstunden. Irgendwie passen wir zusammen, die Sprache und ich. Uns verbindet eine lange Beziehung. Meine Mutter erzählte mir einmal, dass mein erster Satz „Der Mond scheint heute wunderbar, Frau Mutter Angelika“ gewesen sei. Ich wartete des Nachts am Fenster auf meine Flasche mit heißem Kakao. War schon immer ein Nachtschwärmer und hungrig, immerzu hungrig. Lässt sich ja auch leichter denken, wenn das Gehirn Kraftstoff in Kohlehydratpäckchen bekommt. Dann freuen sich die Mitochondrien, die Kraftwerke der Zelle können endlich wieder aerob ATP bilden; sie haben übrigens eine andere DNS haben als die des Zellkerns, denn die Mitochondrien, so eine Theorie, waren ursprünglich Bakterien, die eine Symbiose mit der Zelle eingingen (Endo-Symbionten-Theorie). Solche Symbiosen finde ich faszinierend. Da kommen zwei auf den ersten Blick so unterschiedliche Gebilde zusammen und sagen sich: Hey, wir profitieren voneinander, lass uns doch was zusammen starten. Ich finde, das ist so wie mit mir und der Sprache. Sprache ist für mich lebendig, ja. Sie riecht sogar, das aber unterschiedlich. Wenn ich manche Nacht lang geschrieben habe, dann liegt der Geruch von frischem Schweiß in der Luft und die Fenster sind beschlagen mit Kondenswasser, das keine Salze enthält. Und wenn ich in die Unibibliothek gehe und ein altes Buch – zwanzig oder fünfzig oder hundertfünfzig Jahre alt – in der Hand halte, dann rieche ich an dem Papier. Jedes Buch hat einen eigenen Duftcharakter. Und ich liebe gebundene Bücher mit dickem Papier: sie fühlen sich griffig, handfest an, bedeutend. Wenn ich all die Bücher sehe, wünsche ich mir manchmal, wie Neo aus Matrix zu sein. Ein Neophilologe: eine Bibliothek im Kopf zu haben, natürlich alles vernetzt. Wer hat nicht mal davon geträumt? Aber Schritt für Schritt geht’s auch. Peter Handke und seine Langsamkeit wandern mir im Kopf: Ich frage mich, warum er noch nicht den Literaturnobelpreis bekommen hat? Ich nehme sein Buch „Nachmittag eines Schriftstellers“ in die Hand, Handlungsort: Salzburg. „Ferne, mein Stoff.“, sagt er, Entferntes verbinden, Zwiebelkuppeln in Salzburg und Moskau. Mit einem Zug auf die Reise gehen. „Folg ich der Vögel wundervollen Flügen“: Georg Trakl. Auch er lebte und schrieb in Salzburg. War Apotheker und sein bester Kunde. Ich schlage nach Morphinen im Medizinbuch nach. Die Assoziation zum Biounterricht kommt: Enkephaline, körpereigene Glücksmacher, kürzere Halbwertszeit als die Opioide. Werden in Stresssituationen ausgeschüttet, wirken schmerzlindernd und euphorisierend, machen schöne Gefühle. Die habe ich manchmal beim Schreiben: wenn ein Gedicht auf das Papier gefunden hat, das mir gefällt, wenn eine Geschichte aus dem See der Ideen an die Ufer wellte, und ich mir sie durchlese und mich selbst damit überrasche, dann kribbelt es und ein Grinsen breitet sich. Für einen Moment jedenfalls. Dann geht die Zeit der Überarbeitung los. Wo kann noch ein anderes Wort gefunden, wo der Rhythmus modifiziert, welche Sätze gestrichen, welche hinzugefügt werden? Sind die Kommata richtig gesetzt, ist die Rechtschreibung in Ordnung? Grammatikalische Umstellung? Und die Suche nach der Überschrift. Ich finde, es ist mit das Schwerste, eine passende Überschrift für das Geschriebene zu finden. Wenn zuvor der Sprachfluss floss, der Perfektionsgedanke die Maxime der Überarbeitung war, kommt das große Schwarz. Die Überschrift. Das macht mich verrückt, ich verbeiße mich in den Zwang, eine zu finden, verkrampfe, was sich am Krachen bemerkbar macht, das bei den Kopfbewegungen nach rechts und links meinen Nacken erschüttert. Dann das Gefühl der Befreiung, Sekunden der Erleichterung... - die Überschrift. Argh! Ich hole mir ne Flasche Bier aus dem Kühlschrank, setze mich aufs Sofa. Frust. Ich trinke. Gucke dem Sprecher in der Flimmerkiste zu, versuche, Lippen zu lesen. Vergeblich. Was sind schon Worte? Wen interessierts, was geschrieben steht. Machen sie auch nur länger glücklich als ein paar Sekunden der Schwerelosigkeit, des einenden Gefühls in Sphären vorzudringen, hoch über der Welt? Dann der Absturz. Ich schaue mich um, sehe überall im Zimmer stille Zeichen: Bücher, die mich fesseln. Ein Computer, der mich gefangen hält. Collagen an den Wänden, die Erinnerungen evozieren. Filme, die ich schon auswendig kenne. Wie früher mit den TKKG-Kassetten und den Drei Fragezeichen. Wenn ich heute eine solche Kassette einlege, kenne ich die Story nach den ersten Worten auswendig - und es wird uninteressant. Vergangene Zeiten, in denen ich in Träume mit ihren Geschichten herüberdämmerte. Und nun sitze ich hier, eine Bierflasche neben mir, nicht die erste am heutigen Abend. Ethanol... aber ich habe keine Lust mehr, ins Medizinbuch zu gucken. Morgen, ja, wenn meine Augen geruht haben im Land der unbekannten Träume, wenn der Tag vergangen sein wird und der Abend mir zum Morgen wird: dann, das weiß ich, werde ich wieder von vorne beginnen, Neues und Altbekanntes durch meine Gehirnwindungen zu jagen, eine Achterbahnfahrt. Es geht nicht ohne, aber wie geht es mit? Wieviele Stunden ich schon in diesem Zimmer verbracht habe, kann ich nicht zählen. Würde sie sowieso in Sekunden umrechnen; Kopfrechnen macht Spaß. Ich kenne Menschen, die können nicht das kleine Einmaleins oder Addieren. Aber der Spaß währt noch nicht mal Sekundenbruchteile.
Ich springe auf, will schreien. Aber was nutzt das? Er würde, wie viele Schreie, in der Nacht verstummen. Früher habe ich den Mond angeschrieen, habe ihm Hölderlingedichte entgegen geschrieen, aus vollem Leib. Ob ich da gerade was geraucht hatte? Wahrscheinlich, wenn ich mich nicht mehr ganz genau dran erinnern kann. Vielleicht schlummern diese Erinnerungen unter einem Schleier oder einer Teichoberfläche in meinem Gedächtnis und kommen irgendwann wieder nach oben, wenn der Teich wandert. Vielleicht sitze ich dann gerade mit meiner zukünftigen Freundin zusammen und dichte spontan. Sehnsucht, ha, passt ja wieder wie der Mond in die Romantik. Sind das schon Gedankenschleifen, die immer wiederkehren? Immer wieder zurückgeführt auf das Schreiben, auf das Geschriebene Wort. Worte, es steckt so viel dahinter, dazwischen, in ihnen. Aber - nein, keine Antithese, kein Zweifel! Eifel, Keifel, Reifel, Schnadeifel, Pirlepanzereidel...
Ich stecke mir eine Zigarette an. Das beruhigt mich. Verdränge die Gedanken an Blausäure im Rauch. Brauche nicht noch mehr Säure in meinem Gehirn. Das ist doch nicht normal. Was ist normal? Keine Grundsatzfragen mehr. Ich mache den Ton wieder an. Mittlerweile ist eine Sendung on air, durch den Rauch meiner Zigarette die Rundfunkwellen. Rauch und Wellen: "Smoke on the water", ein Song, geschrieben nach einer wahren Begebenheit. Ein Brand am Genfer See. Der Schlossteich in Nordkirchen. Das "Westfälische Versaille" gibt mir Ruhe. Ich sage es mir auf, längst kann ich auch dieses Gedicht auswendig. Hat also auch Vorteile, sich erinnern zu können. Inseln der Ruhe zu finden. "Der Schwan, der einsam kreist". Bin ich ein einsam kreisender Schwan? Reflexion. Nein, Gefühl. Gefühl, nur Gefühl... Bilder zerflossener Liebe tauchen auf, gemeinsame Zeiten, Nähe, Berührungen, Haut an Haut die Küsse. Vertrauter Geruch; wie flüchtig er ist. Nur eine Ahnung verbleibt nach all der Zeit, die aber wirkt umfassend. Was wohl gerade im Limbischen System los ist? Ein Seufzer, schweres Atmen, wie Honig. Ich trinke die Flasche leer, als wenn es die letzten Schlücke wären. Die Uhr zeigt, dass es spät ist. Oder früh. Man darf ja den Optimismus nicht verlieren. Dann stürbe auch die letzte Hoffnung...
Ich gehe jetzt schlafen. Das war also eine solche Nacht. Nein, ich lese es mir noch einmal durch. Das sind die letzten Sandsäcke des Traumballons... bald schwebt er wieder ins Land der Träume. Geliebte Ruhestätte. Bis zum nächsten Mal.
Ich lege den Faust auf einen kleinen Tisch. Leere den Aschenbecher. Lege mich ins Bett, leere meine Gedanken. Gar nicht so einfach, aber es wird schon. Wie es immer wird... irgendwie.

 

Hallo JBK

Da ich jetzt keider keine Zeit weiter hab, nur ein kurzer Tipp von mir, den du aber schon kennen solltest:

Absätze!!!

Wenn du willst, dass Leser sich mit deinem Text auseinandersetzen, musst du hier unbedingt Absätze einbauen, an denen die Augen für einen Moment verweilen können, eine Rast einlegen, ein kurzes Picknick machen, über das Geschriebene sinieren, um dann mit frohem Mut und neuer Kraft weiter zu machen. :)


fnJ
Hagen

 

Hast ja Recht, Hagen, aber da komme ich in einen Formkonflikt, denn dies ist ja ein Bewusstseinsstrom - und der kennt normalerweise noch nicht mal Satzzeichen ;)

LG
Jan

 

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