Stummer Schatten
Auf seinem Bett liegt das Foto. Ein Mädchen mit kurzen, lockigen Haaren und dunkelbrauner Haut scheint Miro von der Aufnahme anzulächeln. Er nimmt es in die Hand und träumt das Gesicht an. Mit den Gedanken vollkommen bei Lara steht er eine Weile nur da, er verliert sich. In ein paar Minuten wird er in ihre tiefdunklen Augen eintauchen können.
Miro zuckt zusammen, als würde er plötzlich aufwachen. Aufgeregt steckt er das Bild unter die Matratze. Jetzt aber schnell! Hastig kramt er seien Mütze aus dem Schrank und nimmt seinen Autoschlüssel von dem Haken. Die Zeit ist knapp. Das Treffen nie lang, aber immer schön. Schön für ihn und sie, schwermütig und tiefbelastend für seine Mutter. Das weiß er genau.
Der blonde Junge geht in ihr Zimmer. Sie näht schon wieder, die Nadel sticht ewig, wird niemals fertig. Die Mutter sieht nicht auf, als ihr Sohn eintritt. Das übliche Gespräch, welches wie immer im Streit ausartet. Miro ist es leid, doch es fällt ihm auch schwer, ernsthaft gleichgültig zu wirken. Seine Mutter bräuchte selbst Hilfe, er kann nicht zu ihr flüchten, sie ist zu schwach. Es gibt also keine Diskussion mit ihr, keine befriedigende, keine wertvolle Aussprache -und Miro geht. Erst ganz langsam, dann immer schneller, jede Stufe der Treppe hastig überwindend, fast stolpernd. Den Türgriff kräftig drückend und die Tür reißend ist er mit laufenden Schritten an der Luft ? er ist frei, er ist frei.
Heute ist es das fünfte Mal. Zum fünften Mal stetiges Aufscheuchen, immer fort, kein Stillstand. Werden sie heute darüber reden?
Wann? Und Miro spürt seine Mutter.
Jetzt ist er da, der Wagen rollt langsam, die Reifen stehen still. Er sieht sie auf der Bank sitzen, dort drüben im Park. Sein Atem stockt. Dann fasst er sich, steigt aus und geht langsam über die Straße. Lara steht auf, läuft ihm ein Stück entgegen und ihre Wege vereinen sich fließend in eine Richtung. Im Biergarten ?endlich- mischen sich Schwarz und Weiß, seine blassen Hände tasten vorsichtig um ihre farbigen Hüften. Sie erwidert die Berührung und dreht ihr Gesicht zu seinem. Jetzt steht sie still ? die Zeit, Atem geht in Atem über. Blitzartig lautes Gelächter. Erschrockenes Auseinderzucken, weg, weiter weiter.
Selbst unter den weiten Decken der Kirche finden sie keinen Platz zur Aussprache, sie spüren, dass auch hier kein Raum für ihre Gefühle ist.
Und sie fragen sich: Wann? Und Miro fühlt seine Mutter.
Sie brechen wieder auf, denn hier ist es kalt. Raus ins Freie, unter das Dach der Freiheit. Doch der Wind scheint die ihnen die Luft zu rauben und um die zu tosen, einen riesen Krach zu machen, wie die Leute im Biergarten.
Und sie fragen sich: Wann? Und Miro fühlt und spürt wie seine Mutter.
Traurig gehen sie weiter, wie zwei Feinde. Der Ausflug endet wieder auf dem Kirchhof. Es scheint falsch, Miro spricht es ausm doch Lara ist es längst bewusst. Schlussendlich ist es ihnen egal. Die beiden wollen einmal ruhen, bis die Zeit des Abschieds schlägt.
Miro fährt nach Hause und die Angst erkannt geworden zu sein fährt mit. Wenn der Vater nicht wäre, es wäre nicht alles anders, aber vieles wäre erleichtert. Miro weiß, dass seine Mutter jeden Sonntag in Gedanken bei ihm selbst ist. Er öffnet die Haustür und sie sitzt dort und wartet. Langsam, langsam gehen die beiden mit schuldigen Schritten herauf. Er ist viel zu traurig und ängstlich, um darüber zu staunen, dass die Mutter ihn empfängt. Und so ist es eine Weile, als wären die beiden zusammen fortgewesen.