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Sturm der Erinnerung
Wie lange sie nicht mehr hier gewesen war! Gedankenverloren wischte Marian mit einem Finger über den Kaminsims und zerrieb den Staub zu kleinen Krümeln, die unbeachtet zu Boden fielen. Wie lange schon...
Draußen tobte ein solider Herbststurm. In ihrem Inneren wechselten sich Bilder glücklicher Sommertage, heimeliger Weihnachtsfeste und erster warmer Ostertage in rasender Geschwindigkeit ab. Ihre Kindheit gab ihrer Jugendzeit die Klinke in die Hand, viele Jahre in wenigen Sekunden zurückgeholt, ausgelöst und abgespult von einem plötzlichen nostalgischen Impuls.
Ein jäher Windstoß holte sie ins Hier und Jetzt zurück. Sie sah sich um, schaute aus einem der vorderen Fenster und suchte mit den Augen nach ihrem Mann, der im Wagen geblieben war. Er blickte hoch und sie bedeutete ihm, zu ihr zu kommen. Die Fenster waren schon längst nicht mehr dicht, viele zerbrochen, die meisten verzogen, die Farbe abgesprungen und rissig. Auch hier fuhren ihre Finger zärtlich über die Oberfläche, spürten den kleinen Unebenheiten nach, ertasteten weitere Merkmale der vergangenen Zeiten. An diesem Nagel hatte sie sich einst den Finger blutig gerissen, und jenes Fenster ließ sich schon damals nicht schließen.
Tom trat ein, mit dem Blick des Verständnislosen. Sie schüttelte den Kopf, bedeutete ihm, nichts zu sagen. eine Weile ohne Worte brauchte sie noch, bevor sie ihre Erinnerung mit ihm teilen konnte. Er sah sich schweigend um, ohne großes Interesse, ein wenig teilnahmslos, mehr aus Höflichkeit und mangels besserer Beschäftigung denn aus Neugier. Unter seinem Blick wurde das Haus plötzlich alt und grau, verlor nach und nach seinen Zauber, wie eine alte Fotografie im Laufe der Jahre immer stärker verblasst und schließlich nur noch gelblich-braun und verwaschen aussieht. Sie ärgerte sich, ihn hereingebeten zu haben und klammerte sich an die letzten Erinnerungsfetzen, bevor sie sich ihm und damit vorübergehend der Gegenwart zuwandte.
"Früher sah es anders aus, lebendiger." Ihr unsicherer Blick wanderte zu ihm herüber, ihre äußerliche Starre ließ nichts von ihrem inneren Flehen erkennen, er möge die richtigen Worte finden, die richtigen Fragen stellen. Er blieb stumm, nickte kurz und zögerlich. Vor dem Fenster schoss eine Seeschwalbe vorbei, Marian folgte ihr mit den Augen. Damals gab es hier eine ganze Kolonie der Vögel. Im letzten der Jahre hatten sie versucht, ein Ei zu klauen, um einen Vogel auszubrüten, doch konnten sie nicht gut genug klettern, um an die Nester heranzukommen. Und später gab es keine Gelegenheit mehr dazu. Wie alt waren sie in jenem letzten Sommer gewesen? Es schien ihr, als sei es überhaupt der letzte Sommer gewesen, danach ging der Frühling immer gleich in den Herbst über.
"Wie war es damals, die Zeit in diesem Haus?" Sie dachte über seine Frage nach. Damals hatte sie nie darüber nachgedacht. Sie waren einfach jeden Sommer hier gewesen, jedes Weihnachtsfest, fast immer zu Ostern. Es war der beständigste Teil ihres jungen Lebens gewesen.
"Es war einfach. Wunderbar und selbstverständlich, unser kleines, berechenbares Paradies." Ihre Augen trafen sich, und zum ersten Mal sah sie so etwas wie echtes Interesse in seinem Blick. Keine Angst, kein Mitleid, keine Hilflosigkeit mehr. Stattdessen ein umfassendes Begreifen. Und da begann sie endlich, zu erzählen.
"Die Ankunft war jedesmal wie Heimkehr. Wir verbrachten zehn Monate des Jahres in der Stadt, aber nur hier fühlten wir uns wirklich zuhause. Es gab Rituale, die wir nur hier hatten: Ein Tischgebet, nur für hier, und das allabendliche Vorlesen am Kamin. Wir waren bereits im Pyjama, kuschelten uns auf dem Sofa aneinander und lauschten Papas mächtiger Baritonstimme, mit der er uns die Abenteuer von Pinocchio, Pippi Langstrumpf und Robinson Crusoe nahebrachte, während wir unseren Grießpudding löffelten und voller wohlig-gruseliger Schauer lauschten. Auch in den späteren Jahren, als wir schon längst lesen konnten, brachten wir Papa immer wieder dazu, uns vorzulesen. Es war einfach Teil dieses Hauses." Sie hielt inne, bekam diesen abwesenden Blick, der anzeigte, dass sie weit in ihren Erinnerungen versunken war. Er ließ ihr Zeit, nahm nur ganz sanft ihre Hand und hielt sie fest. Nie zuvor waren sie sich so nahe gewesen, immer hatte zwischen ihnen eine dunkle Mauer gestanden, die auf keiner Seite Halt bot, sie zu überwinden. Hier in diesem Haus bekam sie die ersten Risse.
"Wusstest du, dass er manchmal völlig neurotisch war?" Zum ersten Mal kam sie auf das heikle Thema zu sprechen, auf den Grund ihrer Reise, den Grund für das Leerstehen des halb verfallenen Hauses, den Grund für alles, was ihr Leben in den letzten Jahren bestimmt hatte.
"Als wir ungefähr sieben waren, begann er, sich für die Zusammensetzung der Welt zu interessieren. Er ging so lange mit Papas Briefmarkenlupe in den Garten und zum Strand, bis er ein Mikroskop geschenkt bekam. Papa hatte eine unglaubliche Geduld und erklärte ihm alles haargenau. Ich saß unterdessen lieber bei Mama und spielte mit ihr Mensch-ärger-Dich-nicht. Eines Abends wollte er seinen Grießpudding nicht essen und behauptete steif und fest, da seien Amöben drin und die wolle er nicht im Bauch haben. Nachdem ich von ihm erfahren hatte, was Amöben waren, lehnte ich ebenfalls meinen Pudding ab. Mama schimpfte mit Papa, weil der uns solchen Unsinn beibrachte, aber Papa lachte nur."
"Und wie...?" Tom konnte den Satz nicht beenden. Zu lange hatte er ihre Schweigsamkeit hinnehmen müssen. Marian nickte, entschlossen, zu Ende zu bringen, weshalb sie hergekommen war. Auch hergekommen war, vor allem hergekommen war, wie sie nun endlich begriff.
"Wir waren vierzehn, irgendwo an der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend. In diesem Sommer teilten wir unseren ersten Kuss, um nicht unerfahren zu sein. Wir fanden es beide unspektakulär.
Und dann kam der Abend, der alles veränderte. Ole zwinkerte mir beim Abendessen verschwörerisch zu, und ich verstand fast augenblicklich: Er wollte in der Nacht zum Strand herunter und im Mondlicht baden gehen. Ich war sofort Feuer und Flamme, hatte ich Oles Plänen doch nie widerstehen können. Und so warteten wir in unseren Betten, bis Mama und Papa schliefen und schlichen uns aus dem Haus.
Wir kannten den Weg den Hang hinunter und zur Treppe im Steilhang im Schlaf und hätten ihn auch in totaler Finsternis gefunden, so dass wir nun kichernd und tuschelnd losflitzten." Marian hielt in ihrem Bericht inne, schluckte kurz und sah Tom dankbar an, als er beruhigend ihre Hand drückte.
"Ich kann es mir bis heute nicht erklären. Ich trat wohl mit meinem Fuß in ein Kaninchenloch, von denen es viele am Hang gab, und verlor das Gleichgewicht. Ich glaube, dass ich vor Schreck geschrien habe, und ganz sicher habe ich mich an Ole festgeklammert, der versuchte, mich zu beruhigen
und mir Halt zu geben. Stattdessen fielen wir beide um und rollten den Hang herunter, unaufhaltsam
auf die Steilküste zu..." Marian stockte für einen Moment der Atem, ihre Stimme versagte im Kampf
gegen die aufkommenden Tränen. Sie schluckte hart, sammelte sich und schaffte es schließlich,
ihren Satz zu beenden. Tom hatte ihre Hand nicht mehr losgelassen.
"Ich blieb in letzter Sekunde an einem Busch hängen und musste hilflos mit ansehen, wie Ole
in die Tiefe stürzte. Ich habe es mir nie verziehen, dass ich lebe, und er tot ist." Bei diesem letzten
Satz war von ihrer Stimme nur noch ein Flüstern zu hören, bevor sie endgültig versagte und
Marians Tränen ihren Weg nach draußen fanden. Tom nahm sie in den Arm, es war alles gesagt. Alle Geborgenheit, die sie benötigte, konnte er ihr nun endlich geben.
Eine halbe Stunde später stiegen sie wieder ins Auto. Der Sturm hatte sich ein wenig beruhigt und die letzten schrägen Strahlen der Sonne drangen durch die Wolken. Marian sah kein einziges Mal zurück, als das Haus nach und nach im Abendlicht hinter ihnen verschwand.
"Ich werde es verkaufen", sagte sie mit fester Stimme. Tom erwiderte nichts. Aus der Mauer fielen die ersten größeren Brocken heraus.
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Die Wörter waren: Grießpudding, lachen, grau, Seeschwalbe, Amöbe
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15. - 20.03.03