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„Hier, geh in die Küche und wisch das Blut ab!“, knurrte Jerome seine Schwester an. Er reichte ihr die Axt und sie schritt wortlos davon. Jerome schloss derweil die Türe ab. Zweimal drehte er den Schlüssel, dann machte er sich auf den Weg ins nächste Badezimmer. Hemd und Hose waren mit roten Flecken verspritzt, ebenso die Stirn des Jungen. Er nahm ein Handtuch und säuberte sich damit das Gesicht, dann zog er die blutigen Sachen aus.
„Was soll ich mit der Axt jetzt machen?“, hörte er Melora rufen. Mürrisch entgegnete er: „Im Keller verstecken! Was sonst?“ Immer musste er der Kleinen alles erklären. Sie war so unselbständig. Seufzend schritt Jerome los in Richtung seines Schlafsaals, wo er sich bereits saubere Kleider zurecht gelegt hatte.
Gerade streifte er den Pullover über, als Melora ins Zimmer trat und erzählte: „Ich habe die Axt hinter der Waschmaschine versteckt. Dort würdest nicht mal du sie finden.“ Es klang fast schon stolz, so wie sie das sagte. „Und was machen wir jetzt?“
„Geh in dein Zimmer und überleg dir das, okay?“
Jerome gähnte, als er spät abends auf der Couch im Wohnzimmer lag, umgeben von alten Gemälden, die im Schein des Kaminfeuers fast noch prunkvoller wirkten als bei Tageslicht. Der Fernseher erschien daneben billig und eine Spur zu modern. Irgendein Horrorfilm flimmerte über den Bildschirm, glaubte Jerome wenigstens, denn er konnte sich kaum auf die Handlung konzentrieren. Immer wieder schweifte sein Blick zu Melora ab, die mit angezogenen Beinen in ihrem Sessel kauerte und über den Fernseher hinweg starrte. Sie war ein blasses Mädchen, kleingewachsen, schwächlich, und trotzdem von einer eigentümlichen Schönheit. Ihre Augen glänzten. Wohin starrte sie bloss?
„Hast du Hunger?“, fragte Jerome in der nächsten Werbepause. Das Mädchen zuckte mit den Schultern und meinte: „Später vielleicht.“
Ihren Blick riss sie nicht los von dem Flecken Wand, den sie nun schon seit einer halben Ewigkeit zu betrachten schien. Jerome brummte missfällig und stand auf. In der Küche fand er Chips, dazu ein Bier. Als er zurückkehrte, sass Melora noch immer wie versteinert in ihrem Sessel. Nur die Lippen des Mädchens bewegten sich. „Jerome?“, fragte sie. Der liess sich auf die Couch fallen. „Was ist?“
Melora strich eine ihrer blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sie zögerte einen Moment, richtete sich unentschlossen auf, stammelte: „Ich – ich habe mich nur gefragt, weshalb du die Türe abgeschlossen hast.“
„Welche Türe?“
„Du weisst schon, die Türe.“
Jerome kratzte sich an der Stirn, aber sein Gehirn fand keine vernünftige Antwort, also stopfte er ein paar Chips in den Mund.
„Ich würde sie gerne nochmals sehen“, erklärte Melora, als ihr Bruder nicht antwortete.
„Das geht nicht. Ich habe den Schlüssel ins Feuer geworfen.“ In Wahrheit lagen sie wohl noch irgendwo in seinem Schlafsaal herum oder auch im Badezimmer bei den blutigen Kleidern, aber was wollte die Kleine schon mit dem Schlüssel? Jenseits der Türe gab es nichts zu entdecken.
„Willst du Chips?“, fragte Jerome nach einer Weile. „Sonst verhungerst du noch.“
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Ihr Blick wanderte erneut hoch zum leeren Flecken Wand über dem Fernseher und verharrte dort bis spät in die Nacht.
„... 46 – 47 – 48 – 49. – Ich komme!“ Jerome löste die Augenbinde von seinem Kopf und schaute sich um. Das Wohnzimmer sah aus wie immer. Düster, nur beleuchtet vom Flackern des Feuers, und irgendwie unheimlich in seiner Grösse. Eine Treppe führte hoch zur Galerie, von der aus man in die weiteren Räume der zweiten Etage gelangen konnte. Meistens versteckte sich die Kleine dort. Die Räume waren vollgestellt mit allerlei Gerümpel. Kisten voller vergilbter Bücher, alte Möbel, Spielsachen aus dem vorletzten Jahrhundert – was auch immer sich zu nichts gebrauchen liess.
Jerome knipste die Taschenlampe an. „Melora, gleich hab ich dich!“, flüsterte er, bevor er die Treppe hoch stieg. Sein Herz pochte, doch gerade diese Spannung liebte er so sehr. In jedem Augenblick konnte es geschehen: Eine unvorsichtige Bewegung, ein zuckender Schatten, jeden noch so geringen Hinweis musste er registrieren.
Nach und nach öffnete er alle Türen, warf einen Blick in die Schränke, durchsuchte staubige Kommoden. Fünfzig Zimmer gab es im Schloss, zu neunundvierzig führten Türen, eine lediglich war verschlossen und sie würde es für alle Zeiten bleiben.
Zwanzig Minuten dauerte es, bis Jerome auf ein erstes Anzeichen Meloras stiess: Auf dem Marmorboden des Flurs in einem Seitenflügel waren Abdrücke barer Füsse zu erkennen. Sonst hielt sich kaum je jemand hier auf, so dass sich Staub angesammelt hatte und Jerome die Spur leicht verfolgen konnte. Sie führte in den Schlafsaal des Mädchens, wo er einen Blick unters ungemachte Bett warf und auch die Kleiderschränke durchsuchte. Bald aber bemerkte Jerome, dass die Fährte über einen Seitengang wieder hinaus führte bis hin zu dem Badezimmer, in welchem er seine blutigen Kleider hatte liegen lassen.
Schon von weitem hörte er ihr nervöses Schnaufen und als er den Lichtkegel seiner Taschenlampe hinter den Duschvorhang richtete, grinste ihn Melora an. „Neunundzwanzig Minuten, zwölf Sekunden – ich war schneller!“
Jerome starrte sie bloss an. Das Mädchen sah einem Geist ähnlich, blass und mager wie sie war. Er half ihr auf die Beine und meinte: „Du musst etwas essen.“
„Ich habe keinen Hunger.“
„Doch, den hast du.“
Widerwillig schlürfte das Mädchen den Orangensaft runter, den ihr Jerome hingestellt hatte. Sie hörte kaum zu, während der Junge erzählte, wie er beim Rektorat angerufen habe um sie für das nächste Semester abzumelden. „Das heisst, du kannst hier im Schloss bleiben und musst nicht mehr hinaus zu all den dummen Leuten“, erklärte er und lächelte seine Schwester an in der Hoffnung, sie würde sein Lachen erwidern.
Melora aber griff nur nach einem Stück Brot und kaute darauf herum. Bald spuckte sie es wieder aus, so dass die breiige Rinde auf dem Marmorboden landete.
„Muss das sein?“, brummte Jerome. „Wenn du schon was in den Mund nimmst, dann schluck es auch herunter.“
„Ich wollte es ja nicht essen. Du hast mich dazu gezwungen.“
„Sonst verhungerst du! Sieh dich bloss an, wie abgemagert du schon bist.“
„Stimmt doch gar nicht.“
Sie setzte ihre sturste Miene auf, was Jerome mit einem Stoss gegen ihre Rippen beantwortete. „Vergiss nicht, wer der Herr im Haus ist, hm?“
„Und du vergiss bitte nicht, dass ich die Dame im Haus bin.“
Jerome war gerade auf der Couch im Wohnzimmer eingeschlafen, als es klingelte. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, was geschehen war – dann erschrak er. Schnell zog sich der Junge ein Leibchen über und huschte so leise wie möglich die Treppe zur Galerie hoch. Durch eines der schmalen Fenster des Schlosses warf er einen Blick auf den Eingang. Im Abendrot stand da ein dicklicher Mann mit zwei Kartons in den Händen. Was suchte der hier? Weshalb ... In dem Moment erschien Melora im Wohnzimmer. Sie trug ihr Pyjama und schien reichlich verschlafen, dennoch durchquerte sie den Raum zielgerichtet hin zur Eingangshalle.
Jerome wollte losspringen und seine Schwester zurückhalten, aber es wäre ohnehin zu spät gewesen. Sie hatte das Licht eingeschaltet. Der Fremde wusste, dass jemand zuhause war. Also blickte Jerome wieder aus dem Fenster, worauf er beobachten konnte, wie Melora dem Fremden eine Note reichte und im Gegenzug die Kartons nahm. Sie lächelte ihn zum Abschied an, schloss die Haustüre und schlenderte zurück ins Wohnzimmer.
„Was sollte das?“, schrie sie Jerome dort wütend an.
„Ich hab uns Pizzas bestellt. Du wolltest doch, dass ich mehr esse, oder?“
„Aber du kannst doch keine Fremden hierhin kommen lassen. Was, wenn die merken, dass ...“ Er biss sich auf die Unterlippe.
„Er hat nichts gemerkt“, erwiderte Melora gelassen. „Komm doch und iss.“
Jerome ballte seine Fäuste schon auf dem Weg die Treppe hinunter. Vor Melora angekommen, schleuderte er ihr die Rechte ins Gesicht. Sie liess die Pizzaschachteln fallen, stolperte zurück und blieb mit blutender Nase auf der Couch liegen.
„Tu das nie wieder!“, herrschte Jerome sie an. „Ruf nie einen Fremden an ohne meine Erlaubnis!“
Melora erwiderte nichts. Sie weinte auch nicht, sondern wischte sich einfach das Blut aus dem Gesicht und blieb mit geschlossenen Augen liegen. Ihr Bruder hob derweil die Kartons hoch. Für einen Moment drohte er dem verführerischen Pizzaduft zu erliegen, aber er riss sich zusammen und warf beide Schachteln mitsamt Inhalt ins Kaminfeuer.
Zurück bei der Couch putzte er mit seinem Ärmel das Blut aus Meloras Gesicht. Sie rührte sich nicht, auch, als Jerome versuchte sie aufzurichten. Schliesslich flüsterte der Junge: „Es tut mir Leid.“ Nach kurzem Zögern küsste er seine Schwester auf den Mund, wie er es in letzter Zeit öfters tat. Sie widersetzte sich nicht, legte aber auch nicht wie sonst gelegentlich ihren Arm um seine Schultern.
Die meiste Zeit verbrachte Jerome damit, die unzähligen Malereien im Schloss zu studieren. Er hatte es schon früher oft getan, aber nicht mit derselben Faszination wie in diesen Tagen. Da gab es prächtige Landschaften, Berge, weite grüne Wälder oder auch Wüsten, die gerade durch ihre Leere zu fesseln vermochten. Anderswo blickten Ritter durch die Flure, etwas weiter Schlachtengemälde, blutige Gemetzel, mittendrin strahlende Helden. Und dazwischen hingen die Portraits längst verstorbener Schlossherren, alle nachdenklich den Betrachter anstarrend. In Jeromes Augen aber begannen sie zu sprechen, zu lachen, lebendig zu werden.
Melora hingegen sass währenddessen vor den Fenstern und schaute hinaus in die wahre Welt. Oft fragte Jerome sie, was sie an dieser ewig gleichen Aussicht so spannend finde, aber sie antwortete ihm nicht. Überhaupt sprach das Mädchen kaum mehr mit ihrem Bruder seit er sie geschlagen hatte. Höchstens ein Murren, wenn er abends eine langweilige Fernsehsendung anschauen wollte, während sie viel lieber in Ruhe im Wohnzimmer gelesen hätte. Aber ernsthaft widersetzte sie sich nie. Sie verschwand einfach, in irgendeinem der neunundvierzig Zimmer, und kam spät in der Nacht zum Schlafen zurück. Beide Jugendlichen übernachteten nicht mehr in den eigenen Schlafsälen. Zu weit waren die Wege und zu unheimlich die Dunkelheit.
Eines Abends, als sie so am Feuer aufs Einschlafen warteten, durchbrach Melora ihr Schweigen und sie fragte nachdenklich: „Meinst du, sie haben gelitten?“ Ihr Blick schweifte vom Kronleuchter an der Decke ab zu Jerome, der am letzten Bier aus dem Keller nippte. „Meinst du, es tat ihnen weh?“, wiederholte das Mädchen zögerlich.
„Von wem redest du?“
Melora antwortete nicht. Nur ein leises Seufzen war zu vernehmen, bevor sie wieder den Kronleuchter zu studieren begann.
„Wir haben es doch gut, nicht?“, fragte Jerome später in derselben Nacht. „Niemand stört uns, niemand tut uns weh – wir haben es gut.“
Vergeblich wartete der Junge auf eine Reaktion seiner Schwester. Die Augen hatte sie geschlossen, weshalb Jerome nicht so recht wusste, ob sie eingeschlafen war oder sie ihm einfach keine Antwort geben wollte. Ein paar Minuten beobachtete er stumm, wie sich ihr Brustkasten hob und senkte. Ein weites Fussballtrikot trug sie, darunter Jeans, die das Mädchen mit der Schere auf halbe Länge gekürzt hatte. In letzter Zeit lief sie meistens so herum, in selbstgemachten, viel zu weiten oder engen Kleidern. Jerome wandte nie was ein, er selber zog sich ja ebenfalls kaum mehr als ein dreckiges T-Shirt über.
Schliesslich, fünf oder zehn Minuten waren vergangen, riss Jerome den Blick los von ihr und stellte die leere Bierflasche auf das Tischchen, wo sich unterdessen Unmengen an Maisdosen, Joghurtbechern, Milchkartons und Raviolibüchsen angesammelt hatten. Die ‚Dame im Haus’ gab ebenso wenig Acht auf Ordnung wie ihr älterer Bruder. Wozu auch? Wenn eines Tages dieses Wohnzimmer nicht mehr bewohnbar sein würde, konnten sie einfach weiterziehen ins nächste im Südflügel des Schlosses.
Jerome lächelte. Sie hatten es gut. Ja, sie hatten es gut.
„Es stinkt“, sagte Melora. „In der gesamten zweiten Etage stinkt es wie in einer Leichenhalle bei Stromausfall!“
Etwas erschrocken schaute Jerome von seinem Buch auf. „Ich – ich hab nichts gerochen“, stockte er, merkte aber zugleich, dass das nicht stimmte. Gestern Abend erst war er in der Portraithalle gewesen um das Bildnis eines Grafen, von dem er in einem Bericht aus der Bibliothek gelesen hatte, genauer zu studieren. Da war es ihm auch so vorgekommen, als würde es seltsam nach verfaultem Fleisch riechen, aber er hatte nicht weiter darüber nachgedacht.
„Komm mit!“, forderte Melora nun ihren Bruder auf. Mit ihren dürren Fingerchen ergriff sie sein Handgelenk und zog ihn die Treppe zur Galerie hoch, dann in einen düsteren Nebenflur. Sie suchte den Schalter und nach kurzem Flackern erstrahlte gelbliches Licht. Jerome wusste sogleich, wo sie sich befanden. Da und dort konnte man noch immer Blutflecken erkennen und der Gestank war tatsächlich grauenvoll.
„Da!“ Das Mädchen deutete auf den Spalt unter der abgeschlossenen Türe zum fünfzigsten Zimmer. „Siehst du?“
Jerome versteckte die Nase hinter seinem Leibchens bevor er näher trat. Sehen konnte er im ersten Moment nichts, dafür hörte er ein merkwürdiges Summen aus dem Zimmer. Es klang lebendig. Erschreckend lebendig. Und dann sah der Junge die Fliegen, die durch den Spalt zwischen Boden und Türe krochen. Zu Tausenden.
Mit Tüchern stopfte Jerome den Spalt zu, so dass die Insekten nicht mehr ins Zimmer gelangen konnten. Dem Geruch versuchten die Geschwister Herr zu werden, indem sie den ganzen Nachmittag über die Fenster im zweiten Stock öffneten. Als daraufhin der Wind durch die Gänge wehte, spürte Jerome zum ersten Mal seit langem wieder das Verlangen, hinaus aus dem Schloss zu gehen, durch den Garten zu schlendern, sich unter einem Baum aufs Gras zu legen und zu träumen. Erst das Knallen einer vom Durchzug zugeschmetterten Türe brachte ihn auf andere Gedanken.
„Melora?“, rief er durchs Schloss als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war. Seine Schwester antwortete ihm nicht und so sah er in ihrem Schlafsaal nach, dann im Wohnzimmer, aber auch dort war sie nicht. „Melora?“, wiederholte er, diesmal lauter.
„Was ist?“ Es klang dumpf und fern.
„Wo bist du?“
„Im Türmchen. Zuoberst.“
Jerome seufzte, denn der Weg in den engen Seitenturm war weit und beschwerlich. Steile Holztreppen, verstaubte Geländer, stickige Luft. Aber er wollte sie sehen und so nahm er die Taschenlampe und schritt los.
Die Stufen knarrten und ächzten unter Jeromes Füssen. Er fürchtete sich ein wenig davor, dass irgendwo ein Nagel vorstand, aber seine Schwester hatte es schliesslich auch nach oben geschafft. Was machte sie da überhaupt? Draussen war es längst Nacht, sie konnte höchstens die Sterne am Himmel anstarren. Weisse Punkte vor schwarzem Hintergrund. Unglaublich spannend.
In der dunklen Turmkammer angelangt musste Jerome sich erst umsehen, bis er seine Schwester entdeckte: Sie lag auf dem Boden, den Blick durch ein Dachfenster auf den Nachthimmel gerichtet, bleich und spindeldürr.
„Melora? Schläfst du?“
Sie schüttelte den Kopf, worauf Jerome lächelnd erklärte: „Weisst du, ich bin mir bei dir nie ganz sicher, ob du schläfst oder nicht. – Was machst du hier?“
„Ich schaue mir den Himmel an“, hauchte sie zur Antwort. Jerome richtete seinen Blick ebenfalls hinaus, runzelte aber bald die Stirn: „Es ist bewölkt.“
„Mhm“, murmelte Melora.
„Mhm“, äffte Jerome nach, während er sich neben seiner Schwester niederliess. „Mhm. – Und weshalb siehst du dir einen schwarzen Himmel an?“
„Ich weiss nicht. Manchmal ist der Himmel eben so – einfach nur schwarz. Aber das bedeutet nicht, dass hinter den Wolken keine Sterne leuchten. Es ist wie mit Türen, die kann man auch verschliessen, aber das bedeutet nicht, dass dahinter nicht weiter Betten und Tische stehen.“ Sie redete leise und verträumt, ohne Jerome auch nur einmal anzuschauen und der hörte ohnehin nicht auf ihre Worte. Auf dem Weg ins Türmchen hatte er sich oftmals gefragt, weswegen er Melora unbedingt sehen wollte – jetzt wusste er es wieder. Sanft berührte er die Wange seiner Schwester, beugte sich über das Mädchen, küsste ihren Mund.
Lange liess sie es ohne Rührung über sich ergehen. Erst als er begann, ihre Bluse aufzuknöpfen, murmelte Melora: „Jerome?“
„Ja?“
„Geh wieder.“
„Aber ...“
„Geh wieder. Bitte.“
„Ich will nur ...“
Sie schüttelte bereits den Kopf und Jerome gab sich geschlagen. Für einen Moment suchte der Junge nach Worten, dann erklärte er stockend: „Ich wollte ... Ich – ich will dir nur sagen, dass der Geruch im zweiten Geschoss unterdessen nicht mehr so schlimm ist. Ich habe die Türe abgedichtet und die Fenster wieder geschlossen.“
„Das ist gut, Jerome, aber geh jetzt.“
Der Junge nickte enttäuscht und richtete sich auf. „Ich liebe dich, wirklich“, flüsterte Jerome bevor er das Türmchen verliess. Für diese Worte schenkte sie ihm ein Lächeln.
„...47 – 48 – 49 – 50. Ich komme!“ Jerome löste die Augenbinde von seinem Kopf und schaute sich um. Ein König hing über dem Kamin, mit erhabenem Gesicht, kräftigem Körper und einer Krone auf dem Kopf, die glitzerte wie tausend Sterne. Einen Moment lang verharrte Jeromes Blick auf dem Gemälde, bevor er sich auf die Suche nach dem Mädchen machte, durch Kellergänge schlenderte, das Gerümpel in Abstellkammern umschichtete und sogar hoch ins Türmchen stieg. Stundenlang.
„Verfluchte Göre“, stöhnte Jerome mit Blick auf die Uhr. Neunundvierzig Zimmer hatte das Schloss und in jedem einzelnen war er gewesen, hatte Kisten und Schränke geöffnet, unter Betten geschaut, Geheimkammern mit der Taschenlampe ausgeleuchtet. Erfolglos. Melora war wie vom Erdboden verschwunden. „Wenn ich dich finde, dreh ich dir den Hals um!“ Wütend kickte Jerome eine auf dem Boden liegende Bierdose fort, schwor sich aber zugleich, nicht aufzugeben, egal wie lange er noch suchen musste.
Eine Stunde später sass er mit rotem Kopf im Wohnzimmer und versuchte sich zu konzentrieren. Wo nur konnte sie sein? Neunundvierzig Zimmer hatte er abgesucht und in keinem war sie. Nirgends. Wo nur konnte sie sein?
Lange blieb der Gedanke fern und ungreifbar, aber Jerome spürte die nahende Erkenntnis wie einen aufziehenden Sturm. Es gab nur eine Erklärung für Meloras Verschwinden und vor dieser fürchtete er sich. Er wollte es nicht wissen, dennoch stand er nach einer Weile auf, wie in Trance, stieg die Treppen hoch, ins Badezimmer, wo noch immer seine Kleider lagen. Er kniete nieder, sah in den Hosentaschen nach. Aber da war nichts. Ebenso wenig unter dem Leibchen oder in den Brusttaschen des Hemds. Der Schlüssel war fort. Jeromes Herz pochte. Schweiss triefte aus allen Poren. Ins Schlafzimmer, Bettdecken aufwühlen, Matratzen umkehren, Schubladen öffnen. Vergeblich. Nirgends ein Schlüssel.
„Melora!“, schimpfte Jerome, „du kleines Miststück!“
Hinter der Waschmaschine, da lag sie, die Axt. Als Jerome den Holzgriff in seinen Händen spürte, fühlte er diese urtümliche Kraft in sich, dieses Bedürfnis nach Grausamkeit, das Verlangen nach Blut. Er hatte es schon einmal gespürt.
Nun rannte Jerome beinahe die Treppen hoch, übersprang Stufen, keuchte vor Aufregung. Durchs Wohnzimmer, über die Galerie, in den Nebenflur, vors fünfzigste Zimmer. Dort schwang er die Axt, einmal, zweimal. Holzsplitter lösten sich aus der Türe und einer riss eine blutige Wunde in Jeromes Gesicht, aber das trieb ihn erst recht an und bald gab das Holz krachend nach. Mit dem Fuss stiess er die Türe auf, trat vor – und erstarrte.
„Hey, du hast verloren!“, lachte jemand wie aus Träumen. „Sieben Stunden, vierzehn Minuten und zwölf Sekunden – du hast verloren!“
Jerome hörte seine Schwester gar nicht, er sah nur die beiden toten Körper auf dem Bett, der eine kopflos, der andere mit breit aufgerissener Brust, und dazwischen liegend ein strahlendes Mädchen. Einen Moment lang fragte Jerome sich, wie seine Schwester nur diesen Geruch aushielt und den Anblick der vermodernden Leichen neben ihr, dann fiel sein Blick auf den vom Axtschlag eingedrückten Kopf, der am Fuss des Betts lag. Unvermittelt musste er sich übergeben.
Melora lächelte. „Siehst du? Sie sind noch hier. Wie die Sterne hinter den Wolken.“
Die Axt entglitt Jeromes Händen, polterte zu Boden. Er strauchelte über sein Erbrochenes hinweg zum offenstehenden Fenster – wenigstens daran hatte Melora gedacht – und atmete etwas frische Luft.
„Hey, Jerome?“
Der antwortete nicht.
„Jerome? Was hast du denn erwartet? Dass sie friedlich daliegen, als würden sie schlafen?“, wollte Melora wissen. Ihr Bruder hauchte: „Du bist krank.“
„Findest du?“ Melora trat neben ihn ans Fenster.
„Ja, du bist krank!“ Noch während er sie anschrie, packte Jerome das Genick des Mädchens. Ein kurzes Zögern, dann presste er seinen Mund auf den ihren.
„Weisst du was, wir sind beide krank“, flüsterte Melora, am Feuer liegend in den Armen ihres Bruders. Die Augen der stolzen Ritter, der Grafen und Schlossherren waren auf sie gerichtet und das Mädchen genoss es, lebendig unter all diesen toten Gestalten zu sein. „Wir sind beide krank“, hauchte sie erneut, „aber wen stört das schon? Das ist unser Schloss, unsere Welt.“