Ich plaudere mal aus dem Nähkästchen eines Psychologiestudenten:
- Thema "Standardselbstmord": Alle psychischen Erkrankungen haben meist ein bis zwei Kardinalsymptome (die immer zutreffen müssen), dazu eine (meist recht lange Liste) Nebensymptome, von denen eine gewisse Anzahl zutreffen muß. Selbstmordgefährdete zeigen in den allermeisten Fällen jeweils eine individuelle Auswahl an Symptomen. Bei weitem nicht alle potentielle Symptome sind zu finden, wohl aber praktisch immer einige. Und diese können erkannt werden. Die absolute Mehrzahl geplanter Selbstmorde kündigen sich an.
Es gibt genausowenig den Standardselbstmord wie die Standarddepression oder Standardschizophrenie, wohl aber ein Standardspektrum.
- Thema Ferndiagnose per Textuntersuchung: Äußerst schwierig.
Vor Jahrzehnten, als die Unis gerade standen, war es zum Beispiel so, daß in vielen Unis Psychologiestudenten mehrere Semester lang das Erkennen bestimmter motivationaler und emotionaler Aspekte in fiktionalen Texten lernen mußten oder konnten. Heute ist das anders, denn diese Methode ist zu zeit- und arbeitsintensiv, in Anwendung und Lehre. Nebenbei, selbst Werke großer Schriftsteller, die psychische Auffälligkeiten zeigten, hatten Besonderheiten im Sprach- und Inhaltsbild. Sowas kann man erkennen, allerdings legt man sich in dem Fall mit den Monstern "Wahrscheinlichkeit" und "Einschätzen" an. Was i.A. als Hinweis für z.B. Selbstmordneigung gilt, ist in entsprechenden Texten einfach öfter zu finden als in normalen - dort kommt es auch vor. Und was bei dem einen ein Ausdruck einer Selbstmordneigung ist, ist bei jemanden anders ganz normal. Eine wirklich schwierige Sache.
Im letzten Semester hatte ich ein Seminar, in dem es auch um das Erkennen von Leistungsmotivation in fiktionalen Texten ging, schon das war nicht ganz ohne - und immerhin hat jeder Mensch eine (wie auch immer geartete) Leistungsmotivation, was man von Selbstmordneigungen nicht behaupten kann. Von Texten auf Persönlichkeitsmerkmale des Autors schließen, oder auch nur den derzeitigen emotionalen Zustand, ist ... komplex und schwierig. Man muß viele Faktoren beachten, was mich direkt zum nächsten Punkt bringt.
- Thema: "Selbstverständlich ist so etwas amateurhaft. Was denn bitte sonst? Hast du einen Abschluss in Psychologie?"
Oh oh, das Obrigkeitsdenken. Für Argumente spielt es keine Rolle, ob jemand XYZ ist oder hat.
Hier wurden viele Sachen gespostet, die auch ein Psychologe nicht anders sagen würde - vermutlich sogar schlechter. Warum? Weil die Leute sich damit beschäftigt haben, und sich nicht automatisch jeder Psychologe auch mit Selbstmordgefährdeten, Prävention und Intervention beschäftigt. Ein informierter Laienpsychologe wäre ihnen bereits an Wissen überlegen. Obwohl ich studiere, weiß Häferl beispielsweise wesentlich mehr über das Thema. Und soweit ich es überblicken kann, hat sie bisher nichts falsches gepostet.
Beispiel: "Ein Posting mit einem Inhalt á la »Also die haben sich aber wirklich alle scheiße gegenüber Deinem Protagonisten benommen, denen würd ich gern die Meinung sagen. Diese angeblichen Freunde, die sind doch alle nichts wert, für die lohnt es sich doch gar nicht, sich umzubringen« kann Wunder wirken."
Ist völlig richtig. Das "nein, tu es nicht!" Vorgehen wäre falsch, sowas absolut richtig. Wird es richtiger oder falscher abhängig von der Quelle? Nö.
- Thema: "Ich denke: Menschen, die sich mit Suizid-Gedanken beschäftigen (und diese auch umsetzen wollen), tauchen auf dieser Seite nicht auf. Dafür gibt es, wie du schon sagtest, entsprechende Seiten, die Hilfestellung leisten."
Die einen Menschen suchen freiwillig Hilfsstellen auf, die anderen... nicht. Ist in etwa das gleiche wie Zahnschmerzen: Viele gehen zum Zahnarzt, manche nehmen eher einen durchgefaulten Kiefer inkauf, um nicht dahin zu müssen. Nur daß es bei Selbstmördern eher umgekehrt ist, nicht grundlos ist Selbstmord eine der häufigsten Todesursachen der U30er (in manchen Jahren gar die höchste!).
- Thema: "Ein Selbstmordkandidat, der hier postet, hat vielleicht kein entsprechendes Forum gefunden, sonst wäre er vermutlich dort hingegangen."
Manche Selbstmordkandidaten suchen die Nähe zu Gleichgesinnten, manche nicht, manche professionelle oder semiprofessionelle Hilfe, manche meiden jeden Kontakt, manche... das hängt alles von der Person ab.
"Andererseits finde ich diese Foren auch gar nicht gut, weil man dort nämlich nichts anderes sieht, als Menschen, denen es auch nicht besser geht."
Und das ist auch der Grund, warum solche Orte (sofern nicht professionell betreut) auch gefährlich sind.
- Thema: Selbstmordstory = Selbstmordkandidat?
Ich schätze in den allermeisten Fällen nicht. Bei einer Suizidstory unter 20, 30 normalen ohnehin nicht, bei Einzelstories... schwierig. Hier kommt die Sache mit der "Ferndiagnose" (siehe oben) ins Spiel: Man kann es nicht mit Sicherheit sagen, auszuschließen ist es auch nicht. Meiner Meinung nach lieber einmal zu oft freundlich als zu selten, hm? Wobei auch da bei der Interpretation wieder mitspielt, wie strukturiert der Text ist, wie autobiographisch, wie "sinnhaft" (also ob eine wie auch immer geartete moralische Aussage getätigt werden soll, oder es nur um das Leid des Prots geht etc)... ein sehr weites Spektrum.
Gleichzeitig sollte man die Zahlen der tatsächlichen Selbstmordkandidaten nicht unterschätzen - Selbstmord ist eine sehr häufige Todesursache. Wenn nur 0.1% aller Kandidaten kg.de Besuchen würden, würde das Forum vor Suizidstories förmlich überquellen. Also auch bei wirklich extrem geringen relativen Besucherzahlen aus der Ecke gäbe es viele. SEHR viele. Woraus sich im Umkehrschluß ergibt, daß nur extrem wenige hier wirklich posten, und die dann erstmal zwischen den Nichtselbstmordkandidatenstories herauszufischen - eine Lebensaufgabe.
"ich es eher für unwahrscheinlich, dass jemand der ernsthaft gefährdet ist, dies hier in einer Geschichte veröffentlicht. Daraus möchte ich keine Regel machen,"
Das ist es ja - wenn von Tausend Kandidaten 99.9% hier nicht posten, hast du deine Regel und sie stimmt. Dennoch gäbe es die verbliebenen 0.1%, wobei es wohl weit weniger sind.
- Thema: Was soll dieses Posting bezwecken, was sage ich aus?
Nichts, ist Edelspam. Ernsthaft: Menschen sind komplex, auch so Themen wie Selbstmord und Selbstmordgeschichten sind komplex. Vorsicht hat da noch nie geschadet .