Lieber JuJu
Ich wollte dich keineswegs erbosen und habe volles Verständnis für deine Bewegtheit. Es ist entwicklungspsychologisch sinnbesetzt gegeben, dass junge Erwachsene eine starke Neigung gegen Formen von Ungerechtigkeit zeigen. In meiner eigenen Jugend hatte sich dies etwa in zwei Gegebenheiten polarisiert: Einmal bekam ich eine Haftstrafe, da ich mich gegen Ungerechtigkeit einsetzte und Recht beugte. Der Einzelrichter entschuldigte sich bei mir zwar dafür, dass er mir die Mindeststrafe aufbrummen musste, aber um das absitzen, kam ich nicht herum. Das andere war, dass ich mich in einem Freiwilligeneinsatz unbezahlt für ein Jahr beim Roten Kreuz engagierte und damals die Grenzen und auch die Einschränkungen in der Medizin kennenlernte. Ich habe keine hervorgehobenen Vorurteile gegen die Medizin oder spezifisch die Psychiatrie, aber ich differenziere durchaus zwischen Wunschdenken, realen Gegebenheiten und berufspolitischen Interessen. Dazu gehört auch, dass die Praktiker immer auch Menschen sind, und ihren Beruf nur nachhaltig ausüben können, wenn sie sich abzugrenzen vermögen. Es mag fatalistisch klingen, aber ich lernte früh, dass man sich nicht durch Drohungen vereinnahmen lassen darf. Dies prägt natürlich das Menschenbild und Lebensphilosophie und lässt manche Dinge mit einer distanzierteren Nüchternheit betrachten.
Vorliegend geht es faktisch aber um zwei Dinge: die Einstellung, die wir als Einzelne aber auch als Forum insgesamt gegenüber auftretenden Extremen zeigen. Auch hier gilt, um Ausartungen vorzubeugen, sich nicht vereinnahmen zu lassen. Im Weiteren darf der literarische Anspruch an Texte, wie es die Regeln vorsehen, nicht unterwandert werden.
Das ist genau das, was ich weiter oben gemeint hab: Auch die die Leute, die es eigentlich besser wissen müssten, denken die Psychiatrie bringt nichts.
Wenn meine kurzgefassten Zeilen in Teilen so angekommen sind, waren sie missverständlich, was ich bedaure. Ich stelle keineswegs die Erfolge und den Nutzen der Psychiatrie infrage, aber werfe da in die Waagschale, dass eben nur eine präzise Differentialdiagnostik es weisen kann, ob ein entsprechendes Symptom oder Syndrom vorliegt. Es kann nicht Sache eines literarischen Forums sein, solche Wertungen zu treffen.
Das ist ja ein ziemlich tristes Menschenbild, das du da malst. Nur weil es jemandem extrem schlecht geht, heißt nun wirklich nicht, dass es ihm immer so gehen muss. Das sagt eigentlich das Allgemeinwissen.
Ich denke nicht, dass ich ein tristes Menschenbild zeichnete. Eine vorläufige Intervention bedeutet nicht Hilfeunterlassung, aber durchaus die Akzeptanz, dass diese manchmal nur beschränkt sein kann. Über das Allgemeinwissen hinaus ist es auch ein Bestandteil des Gewissens. Wählte jemand einen Beruf in einer solchen Sparte ohne Empathie für seine Mitmenschen, wäre er völlig fehl am Platz. Aber sich abzugrenzen gegenüber den Problemen anderer ist ein notwendiger Selbstschutz, um selbst nicht daran zu leiden oder gar zu erkranken.
Ich hoffe, es gelang mir damit, diese Interpretationsmissverständnisse zu beheben.
Schöne Grüsse
Anakreon