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Sybille findet den Sinn ihres Lebens
Sybille
findet den Sinn
ihres Lebens
Es war einmal eine Spinne namens Sybille. Sybille führte ein Leben, wie Spinnen es eben so tun, sie ernährte sich von anderen Insekten, die ahnungslos in ihre überall gespannten Netze tappten, traf sich regelmäßig mit Samson, einer männlichen Kreuzspinne, die im selben Haus lebte wie sie, und ab und zu bereitete es ihr höllischen Spaß, das kleine Mädchen und ihre Mutter, die Hausherrin, zu erschrecken. Diese fingen dann nämlich immer laut an zu kreischen und nach dem Vater zu rufen, damit er „die ekelhafte widerliche Spinne da“ beseitige, was er auch prompt versuchte. Doch Sybille war zu schlau für ihn, und nach den ersten paar Malen, an denen sie Glück hatte, nicht erwischt zu werden, fand sie nach und nach heraus, wie sie sich zu bewegen und wo zu verkriechen hatte, damit der gefährliche blaue Birkenstock-Hausschuh, den sie schon kannte, sie nicht traf.
Doch trotz des Spaßes, den sie in solchen Momenten ihres ganz persönlichen Spiels immer hatte, war Sybille nicht glücklich. Sie war nämlich eine ziemlich intelligente Spinne, die über alles nachdachte. Und als sie wieder einmal so in ihrem Netz saß und grübelte, kam ihr der Gedanke, dass ihr Leben eigentlich gar keinen wirklichen Sinn hatte. Sicher, ihr Spiel mit den menschlichen Bewohnern des Hauses gab ihr immer wieder einen Kick, und auch die Schäferstündchen mit Samson, um die sie jede andere weibliche und eine ganz bestimmte männliche Spinne im Haus beneidete, waren stets sehr schön- aber wozu war das alles gut? War sie etwa geboren worden für die seltenen Momente des Spaßes, die sie hatte, und ansonsten nur, um sich am Leben zu erhalten?
Sybille wollte mit Samson darüber reden. „Samson, was für einen Sinn hat unser Leben eigentlich?“, wollte sie von ihrem Freund wissen. Doch Samson, der zu keinem klaren Gedanken mehr fähig schien, umschlang sie nur mit allen seinen acht Beinen und brummte: „Sei still und komm her, du geile Puppe, wir sind nicht zum Reden hier!“ Damit zog er das grüne Blatt des Zitronenbaums, unter dem sie saßen, weiter nach links, um sie beide noch mehr vor unliebsamen fremden Blicken zu schützen.
Natürlich gab sich Sybille damit nicht zufrieden, aber sie wusste auch nicht, wen sie nach dem Sinn des Lebens fragen könnte.
Also dachte die Spinnendame selbst weiter darüber nach, während sie wie vorher, allerdings etwas trübsinniger, vor sich hin lebte.
Doch eines Tages, als Sybille wieder einmal über den Boden des Wohnzimmers, der Raum, in dem sie lebte, krabbelte, den Kopf in den Wolken und die Augen überall woanders als auf dem Weg, den sie lief, prallte sie plötzlich gegen etwas.
Sybille fiel auf den Rücken und blieb dort einen Augenblick lang benommen liegen, während sie mit den Beinen strampelte, bevor sie sich aufrappeln und näher anschauen konnte, wogegen sie geprallt war. Das Ding sah aus wie ein Sandwich, fiel ihr auf den ersten Blick auf, nur größer und viereckiger. Unten war es braun, dann eine Schicht weiß und oben kam wieder eine dünne braune Schicht. Aber- au!- Sybille hatte sich an einer der scharfen Kanten gestoßen. Sie rieb, das Gesicht schmerzverzogen, mit dem vordersten rechten Bein ihr vorderstes linkes Bein, während sie auf ihren restlichen sechs Beinen weiter um das merkwürdige Teil herumhüpfte. Doch halt!- es sah nicht überall aus wie ein Sandwich! An einer der vier Seiten war es nur braun, braun mit komischen goldenen Zeichen und Kringeln.
Sybille tapste wieder zurück zu einer der sandwich-artigen Seiten und versuchte probehalber, die obere braune Schicht anzuheben, und siehe da: mit großer Anstrengung schaffte sie es. Das Innere des Dings enttäuschte sie allerdings: da war es nur wieder weiß mit ein paar Zeichen, die allerdings diesmal eine schwarze Farbe hatten.
Die Spinne krabbelte schnell wieder aus dem Ding heraus und versteckte sich, als sie die Schritte der Frau kommen hörte und wenig später ihre Stimme rufen. Die Frau hob das braune Ding hoch und sagte laut: „Willst du heute Abend das Märchenbuch, Schatz?“ M-ä-r-c-h-e-n-b-u-c-h, so hieß das komische Teil also?! Was sie wohl damit vorhatte? Sybille hielt es vor Neugierde kaum noch aus und krabbelte leise hinter der Frau her, in Gebiete des Hauses, in denen die Spinne noch nie vorher gewesen war.
Schließlich landete sie in einem Zimmer, in dem alles ganz bunt war und in dem unglaublich viel auf dem Boden herumlag- Sybille musste aufpassen, dass sie nicht wieder irgendwo gegen lief.
Sie krabbelte eine der Wände hoch und beobachtete, was geschah. Die Hausherrin hatte sich auf die Kante des Bettes gesetzt, in dem ihre Tochter lag, und das Märchenbuch aufgeschlagen.
Sybille bekam große Augen. Da waren ja ganz viele Zeichen, viel mehr, als da, wo sie das Buch aufgeschlagen hatte!
Die Frau begann zu sprechen und starrte dabei unverwandt in das Märchenbuch, trotzdem dauerte es seine Zeit, bis Sybille merkte, dass sie das, was sie sagte, aus dem Buch bezog.
Sollten die schwarzen Zeichen am Ende etwas bedeuten?
Dann wollte sie auch lernen, in so einem Buch zu sehen, was sie sagen sollte, beschloss Sybille.
Unbemerkt von der vorlesenden Mutter und ihrer Tochter verließ sie das Kinderzimmer und ging wieder in ihr Wohnzimmer, wo sie sofort anfing, darüber nachzudenken, wie sie lernen könnte, was die Zeichen bedeuteten und ziemlich schnell hatte sie eine Idee: Sie würde einfach das Aufnahmegerät des Vaters, des Hausherren, nehmen und es beim nächsten Mal aufnehmen, wenn vorgelesen wurde, dann könnte sie hinterher die Aufnahme mit den Zeichen vergleichen. Das war ja eine geniale Idee!, fand Sybille. Ihr fiel ein, dass sie dazu aber ins Zimmer des Mädchens ziehen müsse.
Die Spinnenfrau wartete noch, bis alle Bewohner verschwunden und es ganz still im Haus war, bis sie ihre wenigen Habseligkeiten in zwei kleine Koffer packte und diese ins Zimmer des Mädchens schleppte. Dann krabbelte sie ins Büro des Mannes und schob und drückte das dort liegende Aufnahmegerät in Richtung Kinderzimmer, was sie ihre letzte Kraft kostete. Dort angekommen legte sie ein rosa Puppenkleid über das Gerät. So, dachte sie, würde es zwischen all dem Spielzeug wohl nicht auffallen. Und sie hatte Recht.
Allerdings war auch niemand da, der es hätte entdecken können, denn nachts schlief das Mädchen, wobei man ja bekanntlich nichts finden kann, und den ganzen nächsten Tag über war das Zimmer frei von menschlichen Wesen, sodass Sybille ungestört ihren Vorbereitungen für den Abend nachgehen konnte.
Dabei wäre beinahe noch ihr ganzer schöner Plan geplatzt, als sie nämlich feststellte, dass sich keine Kassette im Rekorder befand, auf die sie hätte aufnehmen können, und sie auch keine im Büro des Vaters entdeckte. Doch dann kam ihr wieder eine ihrer glänzenden Ideen, sie sah in der Manteltasche nach und entdeckte prompt eine kleine viereckige Kassette, die sie unter erneuter großer Anstrengung ins Zimmer des Mädchens transportierte und in das Gerät schob. Probehalber drückte sie auf einen Knopf in ihrer Lieblingsfarbe, grün, und fuhr zusammen, als sie plötzlich die Stimme des Hausherren hörte. „Patient ist männlich, mittleren Alters, weist diverse Prellungen und Schürfwunden auf, Unterarmfraktur, trägt einen Ring im rechten-“, wie langweilig, fand Sybille, und sie überlegte, wie sie die Stimme wieder wegbekommen könnte. Wie schon erwähnt, war Sybille nicht dumm, und nach erneutem Überlegen fiel ihr ein, dass das Birnchen rechts unten an dem Fernseher im Wohnzimmer immer grün leuchtete, wenn bunte Bilder kamen, und rot, wenn der Bildschirm schwarz war. Vielleicht stand grün ja für „an“ und rot für „aus“? Sie probierte es einfach aus und siehe da!- die Stimme verstummte.
Nachdem sich die Spinne so mit dem Aufnahmegerät vertraut gemacht hatte, klappte ihr Plan wie am Schnürchen, und am Ende des Tages hatte sie „Hänsel und Gretel“ vollständig auf Band.
Genau dieses Band wurde in der nun folgenden Zeit ihr bester Freund, zusammen mit dem Märchenbuch. Sie lernte, was die Zeichen bedeuteten, welche Wörter sie ergaben, zuerst war es sehr schwer, aber dann fiel es ihr immer leichter; sie lernte schnell. Bald schon las sie nicht mehr nur „Hänsel und Gretel“ und die anderen Märchen, sondern, nachdem sie das große Regal im Wohnzimmer zum ersten Mal bewusst wahrgenommen hatte, auch andere Sachen, was da war, z.B. Liebesgeschichten und Krimis. Es störte sie etwas, dass fast nie Spinnen in den Geschichten und Romanen vorkamen, trotzdem verbrachte sie immer mehr Zeit mit Lesen, und da sie langsam las, gab es ganze Tage, an denen sie nur in ein Buch versunken dasaß und dabei fast vergaß, sich ab und zu etwas zu essen zu besorgen.
Doch sie vernachlässigte ihre Freunde, vor allem Samson, früher der Mittelpunkt ihres Lebens, verpennte sie jetzt sogar Verabredungen mit ihm oder ließ sich Ausreden einfallen, um ungestört lesen zu können. Auch die Mädels- Klönabende mit den Spinnen aus dem Badezimmer und dem Schlafzimmer der Eltern versäumte sie. Ihre Freunde wunderten sich zuerst etwas, weil sie so ein Verhalten nicht von ihr gewohnt waren. Sonja und Sarah kamen sie besuchen, weil sie dachten, Sybille wäre vielleicht krank. Doch als die beiden die kleine schwarze Spinne nur still in einem aufgeklappten Buch sitzen sahen, und sie auch keine Anstalten machte, sich zu entschuldigen, oder ihre Freundinnen wenigstens in ihre Privatsauna unter der Heizung zu begleiten, zogen sie beleidigt ab und besuchten Sybille nicht wieder. Doch das war ihr egal. Sie saß jeden Tag von früh bis spät mit einem Buch in einer Ecke des Wohnzimmers, in das sie wieder eingezogen war, las und war glücklich dabei.
Eines Tages geschah das Unfassbare: Samson saß plötzlich vor ihr auf dem Buch und verlangte eine Erklärung. Sybille war sprachlos. Sie kannte Samson jetzt schon eine ganze Weile, aber er hatte sie noch nie besucht, immer hatte sie zu ihm kommen müssen, und außerdem war sie der festen Überzeugung gewesen, sie wäre unwichtig und ersetzbar für ihn, und jetzt kam er sie besuchen weil er sich um sie sorgte!
Als sie sich wieder von ihrer Rührung erholt hatte, begann sie, ihm die ganze Geschichte zu erklären, wie sie lesen gelernt hatte und die Geschichten, die sie aus der Wirklichkeit holten und in eine Fantasiewelt entführten, schließlich immer wichtiger für sie wurden, sodass sie jetzt nicht mehr darauf verzichten konnte und wollte, und auch nicht verstand, wie sie dies jemals hatte tun können.
Samson nahm sie ernst und hörte zu, ohne zu „sei still jetzt, du machst mich so geil“ zu sagen. Sybille wusste nicht, was plötzlich in ihren Freund gefahren war, aber sie wusste, dass ihr seine Veränderung gefiel.
Den Rest des Nachmittags überlegten sie, wie sie Sybilles Lesewahn und ihre Freunde unter einen Hut bringen könnten, aber sie fanden keine Lösung.
Einige Tage später wurde Sybille wieder einmal beim Lesen gestört, diesmal von allen ihren Freunden zusammen, Sonja, Sarah und Samson. Die drei erklärten ihr ihren Plan. „Du teilst einfach deine Geschichten mit uns“, schlug Sarah vor. „Du liest laut vor anstatt für dich alleine und wir hören zu.“ „Dann musst du nicht auf deine Bücher verzichten und wir nicht auf dich“, ergänzte Sonja. „Außerdem können wir ja nicht selber lesen und durch dich erfahren wir dann endlich, was in den Büchern steht!“ „Wir könnten richtige Lesungen machen“, meinte Samson, „bestimmt haben andere auch noch Lust, deine Geschichten zu hören.“ Sybilles Augen leuchteten. Nun brauchte sie auf nichts mehr zu verzichten, das war ja einfach toll!
Und so kam es. Anfangs lauschten nur Sonja, Sarah und Samson der lesenden Sybille, aber es sprach sich rum, dass da eine war, die lesen konnte und dies auch noch laut und sehr spannend tat, und so wuchsen die Zuhörerzahlen ständig. Für Sybille war es das Paradies: Sie hatte ihren Sinn des Lebens gefunden und musste trotzdem nicht auf die Höhepunkte ihres vorherigen Lebens verzichten.
Und nicht viel später stand der Vater, der in dem Haus wohnte, vor seinem Chef, dem Direktor einer großen Klinik, und klopfte hektisch seine Manteltaschen ab. „Ich hatte sie doch… wo ist sie denn… ich bin sicher, sie war da… also das gibt es doch nicht… Mensch das ist mir jetzt aber peinlich…“
Ende
Anmerkung: Die Träume der einen männlichen Spinne, die Sybille immer um Samson beneidet hatte, sind endlich in Erfüllung gegangen: Samson hat sich endlich vor sich selbst und den anderen zu seiner sexuellen Vorliebe bekannt und ist nun mit seinem Freund sehr glücklich.