Türschwellenszenerie
Ich wurde mit jedem Schritt ein wenig unruhiger, ein wenig unsichere ob ich tatsächlich weitergehen sollte. Immer wieder erwische ich mich auf dem Weg vom Bahnhof zu seinem Haus bei Selbstgesprächen. Zwei Stimmen in meinem Kopf, eine einsame und eine zweifelnde.
Vorwürfe regnen auf mich herab, wollen mich zum Umkehren zwingen. Ich kämpfe gegen sie an, gehe weiter und verliere doch. Denn es ist das Wahre in diesen Worten, das mich ganz zittrig im Gehen machen.
Für einen Moment bleibe ich stehen. Ich will nicht vor und nicht zurück. Nicht einmal nach Hause kehren, sondern einfach für den Rest der Nacht mit der Bahn in der Stadt herumzufahren. Nur weiterzufahren, mit einem schläfrigen Blick all die anderen müden Menschen beobachten, immer öfter blinzeln, gähnen, zu fahren bis ich einschlafe. Aber ich kehre nicht um. Ich hebe den Kopf, entdecke einen einzelnen Handschuh am Zaun. Ich habe Mitleid, tiefes Mitleid mit ihm, und denke darüber nach ihn mitzunehmen. Es ist ein zärtlicher Gedanke, der diesen Handschuh vor der Einsamkeit bewahren will, und es ist seine Einsamkeit, die mich vorwärts drängt.
Ich sollte weitergehen, und küssen, was keinen Kuss verdient, um mich zu retten. Ich sollte umkehren, und weinen, weil ich verloren bin, um mich zu retten.
Die körperlosen mutieren jetzt im Geiste zu einer Schlangengestalt. Ihr Körper windet sich um mich, drückt fester zu an Armen und Hals. Ich kann die feuchte Zunge an meiner Wange spüren, die spöttischen Töne ihrer Stimme hören...und ihr tiefes Eindringen vermischt meinen Geist mit Bewußtlosigkeit.
Das Zischen verebbt zu feurigem Druck im Kopf. Denn ich presse jetzt die Lippen aufeinander und laufe schneller. Laufe immer schneller, wie gejagt von Schatten, die ich nicht sehe, aber doch ihre Verfolgung spüren kann. Die nassen Steine unter mir verschwimmen in meinem fliegenden Gang. Ich richte meinen Blick jetzt nur noch auf den winterkalten Sternenhimmel. Der Wunsch eine Sternschnuppe zu sehen wallt in mir auf, und zaubert ein hoffnungsvolles Kinderlächeln auf meine Lippen. Ich gehe langsamer, den Kopf in den Nacken gelegt und blicke zum Nachthimmel hinauf. Komm schon, komm!, flüstert die Kinderstimme. Doch nichts als kaltes Strahlen, fern und unbewegt, bleibt die Antwort.
Das Schweigen der Sterne ist so laut, das es die Schlange wieder weckt. Ich höre das Rasseln ihrer Schwanzspitze und laufe noch schneller, laufe vor ihr fort. Stolpernd renne ich die Straße entlang, Fingernägel bohren sich in das Fleisch meiner Hände. Bald brennt meine Lunge; keuchend stehe ich vor seinem Haus.
Es ist ein Haus wie jedes andere. Ein kleines Haus mit viel zu kleinem Gartenzaun, hinter milchigen Gläsern scheint ein häßliches gelbes Licht. Alles in mir sträubt sich hier zu klingeln, dort hineinzugehen. Das Haus schrumpft vor mir zusammen; das funkenübersähte Schwarz des Himmels wächst, umschlingt mich mit Gewalt, hält mich mit seinen eisigen Händen umschlossen. Jetzt bewegt sich mein erfrorener Finger zum Klingelknopf, ich drücke, warte.
Eine trockene Stille breitet sich in der regennassen Straße aus. Ein Windhauch ergreift mein Haar und lässt mich gutmütig für Sekunden erblinden. Die Kühle die meine Wangen streift, der Moment, in dem Haus, Himmel, die ganze Welt, verschwindet, ist so zärtlich und beruhigend, das ich spüre wie sich tief in meinem Herzen eine Träne löst, und sich unglaublich langsam einen Weg zu meinem Auge bahnt.
Es können nicht einmal zehn Sekunden vergangen sein, da reißt er die Tür auf, entdeckt mich vor dem Gartentor und schaut mich unumwunden an. Wieder hüllt sich die Welt in schwarz, Winterhimmelkälte packt mich, und alles was bleibt ist dieses Haus und sein Blick, der mich entdeckt hat. Jetzt kann ich nicht mehr fliehen. Jetzt hat er mich. Die Träne fällt erschrocken zurück, zerfällt in Wassersplittern und vertrocknet irgendwo.
Bevor er etwas sagen kann öffne ich das Tor, gehe zielstrebig auf ihn zu. Bewegungslos und stumm bleibe ich vor ihm stehen, weiß, dass es verwirrt, dass es weh tut; ich weiß es von den Sternen.
Er blickt prüfend auf meine zögernde Gestalt, die Hand an die Türklinke geklammert, und er braucht eine Weile bis er etwas sagen kann. Ich weiß, was seine Augen suchen, ich weiß, dass er angestrengt in seinem Gedächtnis danach sucht, wer ich bin, wie ich heiße, und was dieser Name bedeutet. Ich höre auch, wie er mit einem Seufzen die Frage fortwischt, denn wieder bekommt er nichts zur Antwort als ein diffuses Bild, nicht viel mehr als das, was er vor sich hat. Er erinnert sich daran, wie ich heiße, aber er weiß nichts damit anzufangen, ein leerer Begriff, ohne Bedeutung, ohne Inhalt.
Er lächelt dann trotzdem mit unangenehmer Abneigung, eine Höflichkeit, vielleicht auch der Versuch etwas zu retten, was nicht zu retten ist, und es schmerzt mich, obwohl ich ja weiß, dass ich dieselbe Abneigung ausstrahle. Drängend bittet er mich dann herein, um endlich diese unerträgliche Ehrlichkeit der Türschwellenszenerie zu beenden. An der Türschwelle- schießt ein kurzer Gedanke an mir vorbei- an der Türschwelle zeigt sich die Wahrheit jeder Beziehung. Hier trifft sich der einzelne jedes Mal aufs Neue erstmals mit dem anderen. Und es zeigt sich wie bei jeder ersten Begegnung, was ganz instinktiv, als einfache Basis, als unveränderbarer Ausgangspunkt, darin schläft. Ob der einzelne von dem anderen getrennt bleibt, oder gerade dann erst eine Wirklichkeit annimmt, die Existenz bedeutet.
Bei uns, erzähle ich dem kleinen Mädchen, das noch immer enttäuscht von den Sternen im Schatten eines Baumes sitzt und weint, bei uns muss die Tür jedes Mal mit Gewalt aufgerissen werden, damit wir überhaupt die Fingerspitzen des anderen ertasten können. Wir reißen sie mit der verzweifelten Gewalt, die nur Wassersuchende in staubtrockener Wüste begreifen, auf, und blicken dann, als wäre es verwunderlich, ganz vorwurfsvoll auf sprödes Holz.
Es ist diese Gewalt, die sich unter unserer Haut, tief im Fleisch vergraben hat, dieser gewaltsame Hunger, der dazu führt, das wir die Tür ganz einfach fortreißen, als hätte sie keine Bedeutung, keinen Sinn. Und das ist es, was jede unserer Berührungen in so arme Traurigkeit drängt.
„Komm doch rein.“, sagt er, verbissen in seine Unterlippe, den Blick zu Boden gewandt. Es wirkt wie Scham, doch ich weiß, dass es keine ist, darüber hat er sich nie Gedanken gemacht. Er hat keine Schlange im Nacken sitzen. Es ist kein schamvoller Blick zu Boden, es ist die Abneigung, die er überwinden und verstecken muss, denn er liebt mich so wenig wie ich ihn.
Ich gehe zu ihm, weil ich von Liebe kosten will; dieses kleine bisschen Liebe, das seine Haut wie süßen Klebstoff überzieht, mich an ihn bindet und betäubt. Zu spüren, dass es so schnell verschlungen ist, und zu wissen, dass es nicht Wirklichkeit ist, ist der Preis, den ich dafür zahlen muss. Nicht nur Enttäuschung bringt jeder graue Morgen mit sich, auch die Abscheu vor sich selbst. Der Blick in den Spiegel zeigt Schwäche, zeigt schwellendes Verblassen, zeigt schwarzgeränderte Augen.
Was stehe ich hier noch, denke ich. Mein Kopf, mein Körper schüttelt sich. Ich trete schnell ein und schlage die Tür hinter mir zu, um sie loszuwerden. Ich folge ihm in das kleine Zimmer mit diesem fremden Geruch, der hier überall im Raum liegt. Ein Geruch, der sich bohrend über mich wirft und so ganz anders ist als mein eigener. Es haftet etwas Stechendes an ihm wie Gift.
Wie immer braucht es nur wenige Worte bis wir in dem abgenutzten Bett liegen und versuchen für einige Stunden den fremden Körper etwas vertrauter werden zu lassen. Wie immer funktioniert es nicht wirklich. Wir bleiben getrennt, jeder einsam für sich in den Armen des anderen.
Ich küsse und ich spüre, ich sauge aus ihm heraus, was er geben kann- und dann steh ich wieder vor der Tür in einem kalten Morgen. Und der vergessene Handschuh am Zaun hängt noch immer unberührt dort.