Tabu
Du nimmst meine Hand und ich sehe deine dunklen Augen. In der Halbdämmerung sind sie fast schwarz. So glücklich siehst du aus, dass es mir weh tut. Wir sitzen auf der dunkelroten Ledercouch, auf der wir schon so viele Tage und Nächte verbracht haben. Draußen wirft die Sonne ihr letzten goldenen Strahlen auf den Garten unserer Kindheit. Dort waren wir Piraten, Zauberer, Entdecker, Jäger und Gejagte. Wir waren frei.
Deine Finger streifen leicht meine Wange. Und du beugst dich vor, so dass sich unsere Lippen fast berühren. Als ich leicht zurückweiche, siehst du mich besorgt an. „Was ist los?“ Auf deiner Stirn bildet sich diese kleine Falte, die du schon immer hattest, wenn du dir um etwas sorgen machst. Um mich Sorgen machst. Ich versuche zu lächeln und meine Worte bleiben mir im Halse stecken. Irgendwo zwischen Gedachtem und Gehörtem gehen sie verloren. Ich schüttle nur den Kopf. „Nichts.“ Mehr bringe ich nicht zu Stande. Und als ich diese kläglichen Worte höre, werde ich wütend auf mich selbst. Wütend, weil ich so feige bin. Ich stehe auf und sehe zum Fenster hinaus, damit du mein Gesicht nicht siehst. Früher stand in dem Garten ein Apfelbaum, an dem eine rote Schaukel hing. Stunde um Stunde haben wir dort verbracht und sind geflogen. Irgendwann wurde der Baum dann gefällt. Mit dem Baum fiel unsere Unschuld. Und plötzlich waren wir gebunden. Unsere Flügel hatten wir verloren.
Du trittst hinter mich und schlingst deine Arme um meine Taille. Drückst mich fest an dich. Ich kann dein unverkennbares Parfum riechen. „Ich liebe dich, das weißt du doch, oder?“ flüsterst du mir leise ins Ohr. Ich nicke. Du küsst mich wieder und diesmal habe ich nicht die Kraft zurückzuweichen. Wir lassen uns auf den Boden sinken und unsere Körper sind sich so nah. Es gibt nichts was ich mehr will und nichts was ich mehr fürchte, wenn ich doch weiß, dass das gegen jede Vernunft ist. Dass es verboten ist. Als ich deine weichen Lippen auf meinem Hals spüre, breche ich. Wir versinken zusammen zwischen Lust und Zärtlichkeit.
Später, als es vorbei ist, schläfst du neben mir auf der roten, abgewetzten Couch. Und ich kann nicht aufhören uns beide zu hassen, weil wir es immer wieder tun und nicht stark genug sind. Ich hasse dich, weil ich dich liebe. Und vor allem hasse ich mich, weil ich es einfach nicht schaffe, das alles zu beenden. Die Kerzen auf dem Tisch sind heruntergebrannt.
Draußen ist es nun dunkel und die Finsternis überdeckt die Kindheitserinnerungen, die dort im hohen Gras lauern und darauf warten, mich zu packen und zu schütteln. So wie du es früher getan hast. Du hast dich immer zwischen den hohen Gräsern versteckt, um dann hervor zu springen und mich zu erschrecken. Damals wurde ich immer wütend und bin dann weggerannt. Ich wünschte, ich könnte das nun auch tun. Einfach alles hinter mir lassen.
Neben mir atmest du ruhig. Deine glatte Brust hebt und senkt sich. Du siehst wunderschön aus wenn du schläfst. Sanft streichle ich dir über deinen braunen Wuschelkopf.
Ich wünschte ich könnte dich zurücklassen.
Aber wir könnte ich dir wehtun?
Wir haben geschworen zusammen zu bleiben.
Heute und morgen und weiter.
Es ist verboten. Es ist nicht richtig, was wir tun.
Aber wie könnte ich mein Versprechen brechen?
Ich liebe dich
Du bist schließlich mein eigen Fleisch und Blut.
Mein Bruder.