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Tabula Rasa
"Es ist alles bestens, es ist alles okay", stimmte Florence in den Gesang mitein und drehte ihr Radio lauter. Dass sie ihren Exfreund Martin mit seiner neuen Flamme Bettina im Supermarkt getroffen hatte, okay. Sie waren alle drei freundlich zu einander gewesen und hatten sich viel Glück gewünscht. Martin war damals so fair gewesen, erst dann die Beziehung zu beenden, als Florence sich besser mit der Krebserkrankung ihrer Mutter abgefunden hatte. Sie leidet an einem Lymphom im Endstation, aber sie fühlt sich Dank Morphin besser. Florences Schwester Annika hatte Mutter am Ende eines langen Arbeitstages in den Rollstuhl gepackt und war mit den Eltern zum nahegelegenen Charlottenburger Schloss gefahren. Mutter war sehr glücklich gewesen aus der Klinik herauszukommen, aber Annika war danach am Ende ihrer Kräfte angelangt. Erst der Zehnstundentag in der Bankfiliale und dann diese anstrengende Fahrt zur Klinik und zurück.
"Alle glücklich, alle froh", sang Florence und warf das Radio mit einem Wutschrei gegen die Wand, als ein atmosphärisches Knacken den Sender störte. Die Etagere mit den Topfpflanzen kam ins Wackeln und stürzte um. Scherben und Blumenerde ergossen sich auf dem Teppich. Gleich darauf erbebte der Boden unter ihr vom lauten Klopfen. Ihre Nachbarin, Frau Amberg, fühlte sich gestört. Das Telefon klingelte und Florence nahm ab. Dummerweise litt sie immer noch unter der Einbildung, es wäre Martin und er wollte zu ihr zurück. Aber dann ertönte die schrille Stimme ihrer Nachbarin:
"Fräulein Meyer, Sie denken wohl, Sie sind ganz alleine im Haus?"
"Tschuldigung, mir ist nur eben das wackelige Regalteil im Wohnzimmer heruntergefallen", log sie, "war wohl etwas laut."
Sie stand vor dem Garderobenspiegel, den Hörer ans Ohr gepresst, und schaute in ein blasses Gesicht mit dunklen Augenringen, das von fransig geschnittenem, aschblonden Haar umrandet wurde.
"Rüdiger!", hörte sie Frau Ambergs Stimme in weiter Entfernung aus der Muschel. "Komm doch mal her, die Dame über uns scheint wieder mal betrunken zu sein und randaliert."
Im Hintergrund hörte sie ein Räuspern und eine von Zigaretten und Alkohol rauen Stimme, die antwortete: "Ich komm gleich Marie, werde dem jungen Fräulein mal die Meinung geigen."
Florence legte den Hörer auf und stöpselte das Telefon aus.
Sie sah sich in ihrer Wohnung um. Zeitschriften, leere Flaschen und benutzte Gläser. Sie war in der letzten Woche oft außer Haus gewesen und hatte in verschiedenen Diskotheken und Tanzcafés bis zum Morgen hindurch gefeiert. Eigentlich könnte sie mal den Müll wegbringen.
Auf dem Weg zur Mülltonne, öffnete sie ihren Briefkasten. Etwas Nettes, wie eine Grußkarte oder ein Brief eines Bekannten waren nicht dabei. Dafür viele Reklamezettel und das Anzeigenblättchen für ihr Wohngebiet, das hauptsächlich aus Werbung bestand.
"Ich werde demnächst ein Schild mit "Bitte keine Reklame oder kostenlose Zeitungen hier einwerfen" anbringen", überlegte sie.
Ach, da war ja doch noch ein Brief, und zwar von der Hausverwaltung.
Die werden wohl nicht wieder die Miete erhöhen wollen?
Florence riss den Umschlag auf und las mit entsetzt geweiteten Augen das Schreiben, das aus mehreren Zeilen bestand. Erst nach dem zweiten Lesen erfasste sie, was sie da sah. Nachbarn, vermutlich die Ambergs, hatten sich bei der Wohnungsbaugesellschaft beschwert und Florence bekam eine Abmahnung, dass sie bitte in Zukunft lautes Schreien, Türe werfen und Ähnliches unterlassen sollte. Ansonsten drohe ihr die Kündigung. Sie musste sich ein bisschen in Acht nehmen, denn allzu rosig war es mit günstigen Wohnung in Königswusternhausen und Umgebung nicht bestellt. Benommen ging sie in ihre Wohnung zurück. Auf Höhe des Flurs der Eheleute Amberg streckte sie ihre Zunge heraus. Bestimmt standen diese grimmigen älteren Leute hinter der Tür und beobachtete Florence durch den Spion.
Zurück in der Wohnung stöpselte sie ihr Telefon wieder ein und stellte es auf lautlos. Dann öffnete sie den Beutel mit Mutters Wäsche aus dem Krankenhaus und stellte den Kochwaschgang ein. Jeden zweiten Tag besuchte sie ihre Mutter in den DRK Kliniken, denn diese konnte man ab Bahnhof Zoo gut mit dem Bus erreichen. Führerschein und Auto besaß Florence leider nicht mehr. Mutter freute sich immer, wenn sie zum Besuch kam und Florence redete sich ein, dass man eine kleine Besserung sah und der Krebs zum Stillstand gekommen sei. Sie war immer froh, wenn sie ihre Schwester Annika nicht in der Klinik antraf. Ihr Verhältnis war nie gut gewesen, aber seit der schweren Erkrankung ihrer Mutter hatte es sich noch um weiteres verschlechtert. Annika führte sich oft als Märtyrerin auf, die neben ihrer kräftezehrenden Arbeit als Bankkauffrau noch für ihre Mutter und für ihren alten Vater da war, einkaufte, kochte, putzte und nach dem Rechten sah. Sie nahm es Florence übel, dass sie ihren soliden Arbeitsplatz in der Lübbenauer Volksbank aufgegeben und diesen Job beim "rbb" angenommen hatte. Sie hatte kein glückliches Händchen was Geld betraf und konnte sich auch keine Wohnung in Potsdam oder Berlin leisten. Deshalb hauste sie in einer billigen Plattenbauwohnung in Königswusterhausen. Annika verstand das nicht. Florence kam bei diesem Sender auf keinen grünen Zweig und für das wenige Geld, das sie da verdiente, hätte sie ihre Eltern nicht im Stich lassen sollen.
In Gedanken versunken ging Florence ans Telefon, das lautlos Lichtsignale von sich gab. Sie nahm ab. Es war ihre Schwester Annika.
"Hallo, auch mal wieder im Lande", sprach sie und Florence hörte den gereizten Tonfall heraus.
"Vorhin wollte Vater anrufen, aber das Telefon war ausgeschaltet. Was soll das?"
"Hallo, ich bin dir wohl keine Rechenschaft schuldig. Okay, ab und zu hab ich es mal gern etwas ruhiger in der Wohnung, ich meditiere dann und schalte das Telefon aus."
"Meditiere", schnaufte Annika verächtlich und Florence ergänzte in Gedanken: "Mit Alkohol".
"Morgen komme ich bei Mutter vorbei und bringe frische Wäsche mit", erklärte Florence. "Den rosa Bademantel, den sie so mag, den hab ich auch dabei. Hast du noch den hellblauen Schlafanzug bei dir in der Wohnung?"
"Hi Florence, du bist wohl nicht auf dem neuesten Stand! Mutti liegt nicht mehr in den DRK Kliniken. Sie wurde in eine Klinik Nähe Vetschau verlegt, das ist unter anderem näher an Lübbenau. Ich werde morgen vorbeikommen und ihr den hellblauen Schlafanzug mitbringen. Für dich ohne Auto wird es nun leider sehr, sehr schwierig, Mutti zu besuchen."
Florence hatte die Wut gepackt. Ihre Hand am Telefonhörer zitterte als sie empört in die Muschel rief: "Und immer noch musst du mir die Sache mit dem Auto vorhalten!"
"Schrei mal nicht so laut", antwortete Annika im jämmerlichen Ton. "Meine Ohren tun weh. Kann ich denn was dafür, dass dein Lappen nach diesem Unfall in Flensburg Urlaub macht? Leute wie du, sollten gar keinen Führerschein besitzen!"
"Mach mal halblang, wenn ich gut bei Knete bin, werde ich den MLU-Test bestehen, das garantiere ich dir. Du bildest dir wohl ziemlich viel darauf ein, dass du eine gutverdienende Bankerin bist und einen BMW fährst. Aber wart nur ab, wenn ich meinen Führerschein wieder habe. Dann lege ich mir einen ..."
"Ich habe genug von deinem hysterischen alkoholisierten Geschwafel!", wurde Florence in ihrem Redefluss unterbrochen. "Übrigens ist es auch besser für Mutti, wenn sie nicht mehr so oft von dir besucht wird und sich deine Schauergeschichten, die du bei deinem Sender erlebt hast, anhören muss."
Der Hörer wurde grußlos aufgelegt.
Florence war baff. Sie dachte immer, es würde Mutter amüsieren, wenn sie einige Anekdoten aus ihrem Arbeitsalltag erzählte. Ihr Atem ging schnell, Tränen brannten in ihren Augen. Sie wusste nicht einmal den Namen und wo genau sich die Klinik in der Nähe des Spreewaldstädtchens Vetschau befand. Florence griff wieder zum Telefonhörers und wählte die Nummer ihrer Schwester. Das Freizeichen ertönte kurz, dann wurde gleich aufgelegt.
Mit zitternden Fingern wählte Florence die Nummer ihres Vaters.
"Hallo Florence", meldete sich ihr Vater.
"Hallo Papa! Stimmt es, dass Mutti jetzt in der Klinik in Vetschau liegt?" fragte sie. "Annika hat mir das ganz überraschender Weise mitgeteilt."
"Ja, das stimmt. Florence, hast du in nächster Zeit mal vor, wieder Richtung Spreewald zu fahren?"
"Ja, ich würde Mutti ganz gern mal in Vetschau besuchen. Nur ist es schwierig ohne Auto zur Klinik zu kommen. Die liegt so weit außerhalb, hab ich gehört."
Missmutig schnaufte ihr Vater auf und sagte: "Du hast ja keinen Führerschein mehr, da kann ich dir auch nicht helfen."
"Dann muss ich mal sehen, wie ich das auf die Reihe bekomme. Dann mal tschüß", sagte sie und legte auf.
In Florence tobte eine unbändige Wut, die sie an den leeren Flaschen ausließ. Sie flogen an die Wände, Glas splitterte und in der Wohnung unter ihr wurde es wieder lebhafter. Bald werden die bekannten Schläge mit dem Besen an die Wohnungsdecke ertönen. Florence fühlte sich etwas leichter. Sie hielt eine große, braune Whiskyflasche in der Hand und zerschmetterte sie am Küchenschrank, der eine tiefe Schramme davontrug. Fasziniert sah sie auf die braunen Spitzen, die wie Krokodilzähne sich ihr entgegenstreckten. Ein zweiter Schlag traf die Flasche und zerschmetterte den Rest, so dass nur noch der Glasboden übrig blieb. Gleich darauf spürte Florence einen scharfen Schmerz und fühlte Blut über ihr Handgelenk laufen. Sie schaute fasziniert auf die Wunde, aus der das Blut pulsierte und spürte allmählich eine Erleichterung, als es warm über ihren Arm lief. Warum brachte sie sich nicht gleich um. Niemand brauchte sie und die Menschen wären erleichtert, wenn sie sich nicht mehr unter ihnen befände.
Auf dem Boden bildete sich eine rote Pfütze.
Florence ging ins Badezimmer, um sich einen Druckverband anzulegen.
"Es wird nur eine Fleischwunde sein", überlegte sie und öffnete den Apothekenschrank
"Bei einer Schlagaderverletztung spritzt das Blut heftiger."
Beim Öffnen des Medizinschrankes fiel ihr eine angebrochene Schachtel Anti-Baby-Pillen entgegen.
"Das kommt davon, wenn man immer brav seine Pille nimmt. Hätte ich doch mal innerhalb eines Zyklus ein, zwei Pillen weniger genommen, dann wäre ich jetzt von Martin schwanger und könnte mal zwei Jahre von der Arbeit pausieren."
Beim Sender war es alles andere als schön, seit Christina, eine ehrgeizige, junge Journalistin eingestellt wurde. Sie hatte - teils durch Intrigen mutmaßte Florence - viele Teile ihres Aufgabengebietes übernommen. Für Florence blieben hauptsächlich Routine- und Recherchetätigkeiten übrig. Außerdem war es Christina zu Kopf gestiegen, dass sie die Arbeit hinter der Kamera gegen die Arbeit vor der Kamera eingetauscht hatte.
Heute war Christinas großer Tag, denn sie würde anlässlich des Schlossfestes in Lübben eine bekannte deutsche Hochseilartistentruppe interviewen und für die Kamera ein paar Schritte auf dem Seil wagen.
Plötzlich war sich Florence sicher, da musste sie hin! Sie schaute flüchtig in den Spiegel, legte ein bisschen Lipgloss auf, zog ihre Windjacke über und lief eilig zur Bahn.
"Der Regionalexpress Richtung Cottbus fährt in wenigen Minuten auf Gleis 2 ein", tönte es aus dem Lautsprecher.
Mit großen Schritten sprang Florence über den Bahnsteig und erreichte den Zug noch kurz vor dem Abfahren. Eine Fahrkarte hatte sie in dieser Zeit natürlich keine ziehen können. Sie stieg in den ersten Stock und hoffte, auf der Strecke keinem Schaffner zu begegnen.
Ein Jingle, das Florence an die Anfangsakkorde eines Volksliedes erinnerte, erklang und der Zug setzte sich ruckelnd in Bewegung.
Florence war lange nicht mehr Richtung Spreewald gefahren. Sie mochte diese Gegend aber die Diskrepanzen mit Annika, hielten sie davon ab.
Weite Felder, auf den Bäumen lag Raureif. Florence hatte zur Jugendweihe von ihren Eltern ein Fahrrad geschenkt bekommen. Die Räder schnurrten über den gefrorenen Sandboden, der kalte Fahrtwind rötete die Wangen. In wenigen Metern Abstand folgte ihr der drei Jahre ältere Maik, der an Florences Schule die Oberstufe besuchte. Auf seinem noch jungenhaften Gesicht sprossen allmähliche spärliche, hellbraune Bartstoppeln. Florence stieg vom Rad und nahm ihre Picknickdecke aus dem Fahrradkorb. Sie deutete auf einen Hochsitz, der sich auf einer knorrigen Weide befand.
"Ist es hier nicht zu kalt und zugig?" fragte Maik und zog seinen Anorakkragen zu.
"Find ich nicht, hier ist doch der optimale Picknickplatz", rief Florence übermütig. "Ich habe frisch gebackenen Apfelkuchen von meiner Oma dabei, der ist deli, kann ich dir sagen! Ich habe außerdem noch von meinem Begrüßungsgeld in Berlin eine Flasche Schampus im KaDeWe gekauft."
"Apfelkuchen und Schampus!" Maik begann zu lachen. Seine Augen schienen kleine, blaue Blitze zu versprühen. Florence sah ihn an. Wie gut er aussah! Sie wünschte, in seine Arme genommen zu werden, seine kräftigen Schultern und seinen Herzschlag dicht auf ihrem spüren. Maik schien ihre Gedanken zu erraten. Seine Augen bekamen einen warmen Glanz, er streckte seine Arme aus, Florence sank an seine Brust, sein Kinn lauf auf ihren Schultern.
"Fahrkartenkontrolle! Wer ist noch zugestiegen?" schnarrte die Stimme des Schaffners und riss Florence unsanft aus ihren Träumen. Oh Gott, sie hatte ja keinen Fahrschein! Schnell sprang sie auf und rannte mit den Händen vor dem Mund zur Zugtoilette. Sie verriegelte die Tür, imitierte Würgegeräusche und ließ ein paar mal die Spülung rauschen. Vielleicht ekelte sich der Schaffner vor ihr und fiel auf ihr Schauspiel herein. Zu mindestens hörte sie seine Schritte an der Zugtoilette vorbeigehen und das Fahrradabteil betreten. Dort fing er eine lautstarke Diskussion mit einer Gruppe Fahrradfahrer an, die vergessen hatten, das entsprechende Ticket für die mitgeführten Räder zu lösen und setzte dann seinen Kontrollgang fort. Erleichtert sank Florence auf den Toilettensitz.
Hätte Martin sie doch vor einer Woche so in den Arm genommen, wie damals ihr Schulfreund Maik. Nach dem Krankenhausbesuch bei ihrer Mutter, die sich übergab, weil sie die für palliative Zwecke angewendete Chemo nicht vertrug, und an diesem Tag ungeduldig und unleidlich war, sehnte Florence sich nach Trost. Aber Martin schaute sie nur kühl an, zuckte bedauernd mit den Schultern und sagte, dass er sich in Bettina verliebt habe und mit ihr eine feste Beziehung wollte. Florence blieb zurück, ungetröstet, kalt und innerlich bebend. Martin schaute hilflos, beteuerte, dass er sein Bestes getan hatte. Die Bekanntschaft mit dieser Frau bestand seit einen Vierteljahr, aber er hatte es bisher noch nicht übers Herz gebracht, die Beziehung zu Florence zu beenden, weil sie so unter der Situation mit ihrer Mutter litt. Aber sie musste es einsehen, es konnte nicht immer so weitergehen, das wäre unfair gegenüber Bettina.
Vor dem Schloss drängten sich die Leute vor unzähligen Imbiss- und Kunsthandwerkerbuden. Weißgeschminkte Harlekins standen unbeweglich wie Schaufensterpuppen auf Podesten und zuckten ab und zu mal mit dem Lid, wenn ein paar Eurostücke in die Schale geworfen wurden.
Im Hintergrund erkannte Florence die blauen Sendewagen des "rbb". Ja, diese adrette, großgewachsene Frau im schwarzen Hosenanzug und sportlicher weißer Hemdbluse war Christina. Herausfordernd war ihr Blick .Mit aufnahmebereitem Mikrofon ging sie durch die Menge. Die Bürger der Stadt Lübben wurden zu ihrem Schlossfest interviewt. Die Fragen waren oberflächlich und belanglos, trotzdem kam Christina gut an. Ihr blondes Haar war modisch geschnitten und fiel locker auf die Schultern. Dass ihre Nase etwas groß war, fiel durch das gekonnt aufgetragene Make-Up wenig auf. Sie hatte eine leichte Ähnlichkeit mit der Schauspielerin Laura Dern.
"Ui, die neue Moderatorin von der Sendung "Bei uns in Brandenburg" ist ja eine flotte Biene", bemerkte ein älterer Herr anerkennend. Florence schluckte, in ihr stieg wieder ein Hass und eine unbändige Wut auf. Sie ging an eine Cocktailbar und bestellte sich einen "Zombie", den sie rasch durch den Strohhalm zog. Eine Frau mit kurzen, dunklen Locken und ein großer, schwarzhaariger Mann mit einer Designerbrille kamen auf sie zu. Es waren Annika und deren Freund Alex. Florence drehte sie sich um und betrachtete scheinbar interessiert eine Reklametafel. Aber diese Aktion war unnötig gewesen, denn die Beiden übersahen sie - beabsichtigt oder unbeabsichtigt, das wusste sie nicht.
Florence gab die Pfandmarke für ihr Glas an der Bude ab und überlegte, ob sie noch einen Drink bestellen sollte, da sah sie Christina bei den Hochseilartisten stehen und ein paar Fragen stellen.
"Ob diese Tussy wohl Bammel vor ihrem Auftritt hat?" überlegte Florence. Aber das konnte sie sich bei ihr nicht vorstellen. Wenn sie ihre Mitarbeiterin auch nicht sonderlich leiden konnte, so bewunderte sie ihren Mut. Christina würde sich auch als Reporterin in einem Krisengebiet eignen, denn sie suchte die Herausforderung.
"Hallo Florence", sprach sie der Aufnahmeleiter an. "Was tust du hier, du bist doch gar nicht für den Set eingeteilt?"
"Ach, ich wollte nur mal zuschauen. Ich bin zufällig auf dem Weg nach Lübbenau zu meiner Familie."
"Was bildet sich dieser Idiot nur ein?" dachte Florence voller Wut. "Ich kann doch mal bei einem Dreh vorbeischauen, ohne dass mir dämliche Fragen gestellt werden."
Das Drahtseil glänzte silbrig im Licht der Scheinwerfer. Daneben lag die Balancierstange.
"Wollen Sie noch einen Drink?" wurde sie an der Getränkebude gefragt und sie verneinte. In ihrem Kopf schwirrte es.
Die Latte aus Holz fühlte sich schwer an und vibrierte an den Enden. War man jedoch auf dem Seil, gab sie das nötige Gleichgewicht. Die Leute wurden kleiner, entsetzte Köpfe auf Rümpfe sitzend, lang ausgestreckte Arme, die auf sie zeigten.
Christina ließ ihr Mikro fallen und rannte zum Aufnahmeleiter.
Florence fühlte ein leicht mulmiges Gefühl im Magen. Ihre Arme begannen zu zittern.
"Was mache ich hier eigentlich?" ging es ihr durch den Kopf.
Zurücklaufen, das ging nun nicht mehr, sie musste den Weg bis zum hohen Podest neben dem Schlossturm nun gehen, ihr blieb sonst nichts mehr übrig.
Aus der Menge der hochgereckten Köpfe erkannte sie Martin mit seiner Freundin. Ein paar Meter weiter sah sie Annika und Alex. Martin sprach etwas zu Annika.
"Florence, komm hier runter!" hörte sie ihre Schwester schreien.
Die Balancestange schlug heftig nach links und rechts aus. Florence neigte sich nach links und versuchte die Stange nach rechts zu stabilisieren. Sie kam in den Kniestand. Schwach bebte der Balken nach, aber das Gleichgewicht war wieder da. Entschlossen schaute sie auf den Glockenturm des Schlosses und setzte ihren Weg nach oben fort.
"Hallo Florence, wo bist du nur mit deinen Gedanken?" fragte sie eine bekannte Stimme.
Sie drehte sich um und sah ihren Exfreund Martin mit seiner neuen Freundin. Bettina lächelt, ihre Wangen waren leicht gerötet. Sie sah so glücklich aus. Das gab Florence einen Stich in die Magengrube.
"Hallo, die haben richtig leckeres gefülltes Brot aus dem Holzofen", hörte sie ihre Schwester Annika im Hintergrund rufen. Ihr Freund Alex kam eiligen Schrittes, in den Händen zwei große Maßkrüge Bier, auf sie zu.
"Ihr kennt euch?" fragte Florence verwundert, als sich die beiden Pärchen einen gemeinsamen Stehtisch aussuchten. Sie konnte es zuerst nicht glauben, was sie da sah. Florence und Martin hatten damals kaum Kontakt zur Familie gehabt, er mochte solche engen Bindungen nicht. Mit ihrer Schwester Annika ergab sich einmal ein flüchtiges Kennenlernen, als er die Beiden nachts mit dem Auto von dem Schöneberger Flughafen abgeholt hatte, weil kein öffentliches Verkehrsmittel mehr fuhr. Annika hatte ihn damals sehr nett gefunden.
Die Gruppe am Tisch war mittlerweile zu einem vertrauten Plaudern gekommen.
Annikas Handy leuchtete auf und die Melodie von "Axel F" erklang. Annika lachte.
"Gefällt er dir?" fragte Martin.
"Danke, super! Diesen Klingelton werde ich nun als Standardklingelton verwenden. Ist viel besser als immer dieses öde Nokia-Gedudel."
Florence spürte einen bitteren Geschmack im Mund. Martin hatte die Handynummer ihrer Schwester. Seit wie lange schon?
Hatte Martin etwa hinter ihrem Rücken seine Partnerschaftsprobleme mit Annika besprochen?
Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Schwester: "Der Martin meint es nicht so Ernst mit dir. Er ist noch auf der Suche, das musst du verstehen und ihn notfalls auch gehen lassen."
Im Nachhinein ging ihr ein Licht auf, weswegen Annika so gut über Martin Bescheid wusste.
Florence hatte genug. Sie pochte dreimal auf den Stehtisch und sagte:
"Tschüss, ich muss jetzt gehen. Ich habe morgen wieder einen langen Arbeitstag vor mir."
Im Gehen hörte sie noch ihre Schwester sagen: "Komisch, plötzlich hat sie es so eilig."
Florence schaute auf die Uhr. Wenn sie zügig ginge, konnte sie noch den Nahverkehrszug Richtung Berlin erreichen. Auf dem Waldweg zum Lübbener Bahnhof strauchelte sie über eine Wurzel, die sie im schwachen Licht der Lampen übersah und suchte Halt an einem Baumstamm. Mit rauschenden Rädern wurde sie von zwei Inlineskatern überholt. Der kleinere von den Beiden drehte sich nach Florence um. Sein pickeliges Gesicht unter dem Helm war zu einem verächtlichen Grinsen verzogen.
"Besoffene Kuh!" rief er ihr zu.
"Du blödes Arschloch, verschwinde!" schrie Florence mit überschlagender Stimme.
Sein Kumpel drehte sich um, schlug ihm auf die Schulter und begann zu lachen. Der kleinere Skater fiel in das Lachen ein, das lauter wurde und letztendlich einem Hyänenwiehern ähnelte. Schnell waren sie in eine Abzweigung abgebogen, nur ihr lautes Lachen war noch zu hören. Voller Zorn kickte Florence ein paar abgebrochene Zweige vom Weg und begann zu rennen. Mit irgendetwas musste sie diese unbändige Wut in ihr zum Erlöschen bringen.
Völlig außer Atem kam sie am Lübbener Bahnhof an. Dank ihrer schnellen Gangart hatte sie noch Zeit, eine Fahrkarte nach Königswusternhausen am Automaten zu ziehen. Zumindest brauchte sie sich nicht mehr dem Stress aussetzen, ohne Fahrkarte auf der Flucht zu sein.
Der Zug kam pünktlich und Florence stieg ein. Auf der Treppe zum Obergeschoss sah sie eine blaue Schaffneruniform und hörte die Worte: "Diese Ausrede nehme ich Ihnen nicht ab! Der Spass kostet Sie 40 Euro. Wenn Sie Ihren Personalausweis nicht dabei haben, muss ich sie leider zur Bahnpolizei mitnehmen."
Florence blieb vor den Stufen stehen. Ein junges Mädchen in einem dunklen Parka kramte zerknirscht ihren Personalausweis aus der Tasche. Und nun sah Florence den Schaffner, es war derjenige, vor dem sie auf der Hinfahrt ohne Ticket geflüchtet war! Er gab dem jungen Mädchen den Personalausweis zurück und einen gelben Zahlschein in die Hand, schaute Florence an und zog seine Augenbrauen hoch. Er hatte sie wiedererkannt, es bestand kein Zweifel. Sein Blick wurde bösartig. Das Kinn vorgeschoben, die Lippen zu einem Strich zusammengepresst, kam er auf sie zu. Schnell eilte Florence durch das untere Abteil, rempelte einige Leute an und erreichte die Tür, als der Zug in den nächsten Bahnhof einfuhr. Sie betätigte den Türöffner und eilte auf den Bahnsteig. Der Bahnschaffner war ihr nicht gefolgt. Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, kam es ihr in den Sinn, wie unsinnig ihr Verhalten gewesen war. Schließlich war sie diesmal im Besitz eines gültigen Fahrscheins.
An der Frontseite des kleinen Bahnhofes standen verschiedene Linienbusse. Florence rannte zum Bus mit der Aufschrift "Berlin - Ostbahnhof". Schnell kramte sie ihr Ticket hervor und erklomm die Stufen des Trittbretts. Der Fahrer war im Begriff zu schließen und loszufahren. Unwillig drückte er auf den Öffner und musterte sie wie ein lästiges Insekt.
"Halten Sie auch in Königswusternhausen?" fragte Florence nach Atem ringend.
Der Busfahrer nickte stumm und startete den Bus. Florence hielt ihm ihr Bahnticket hin.
"Gilt dieses Verbundticket auch hier im Bus?" fragte sie. Der Fahrer sah mit versteinertem Gesicht nach vorne, deutete ein Nicken an und startete ruckartig, so dass Florence das Gleichgewicht verlor und sich im letzten Augenblick noch an der Haltestange abfangen konnte. Sie registrierte ein paar belustigte Blicke der Fahrgäste und ihre Stirn legte sich in Zornesfalten.
Die Miene des Busfahrers hellte sich auf, als zwei Männer in zerschlissenen Hosen und schlecht sitzenden Jacketts zustiegen.
"Die Fahrscheine bitte!"
Florence kramte ihren Fahrschein heraus.
"Was haben wir denn da?" fragte der Kontrolleur voller Hohn. Sein mittlerer Schneidezahn fehlte und sein Zunge schlug beim Sprechen gegen die Zahnlücke. Das Alles registrierte Florence mit ansteigender Panik.
"Der hier gilt aber nicht in diesem Bus. Wo haben Sie den her? Etwa vom Fahrkartenautomat? Haben Sie Ihren Personalausweis dabei, die Fahrt nach Köngiswusternhausen kostet Sie nun 40 Euro. Schöner Sonderpreis gell?" Er lachte laut. Die Fahrgäste drehten sich um und verfolgten neugierig das Schauspiel.
"Was soll der Scheiss!" schrie Florence außer sich. "Ich war mir nicht sicher und hatte extra den Busfahrer gefragt, ob der Verbundfahrschein auch im Bus gültig ist. Er hat genickt."
Florence schaute zu dem Busfahrer, der wie unbeteiligt geradeaus schaute.
"Dummheit schützt vor Strafe nicht!" Der Kontrolleur zückte feixend seinen Kugelschreiber und Zahlschein. Florence drängte den Kontrolleur zur Seite und stürmte zum Busfahrer.
"Hallo Sie! Ich habe Ihnen doch diesen Fahrschein hingehalten und Sie haben genickt, als ich Sie gefragt habe, ob ich ihn auch für den Bus benutzten könnte."
"Halts Maul, ich darf nicht mit Fahrgästen reden während der Fahrt!" schnarrte der Busfahrer.
"Gut mal zu erfahren, reden können Sie auch, nicht bloß stumm nicken. Aber so weit ich es beurteilen kann, sind wir immer noch beim Sie!"
Der Kontrolleur winkte seinen Kollegen mit nach vorne und baute sich vor Florence auf.
"Solche Typen wie Sie müssen die armen Steuerzahler mit bezahlen, die brav ihre Fahrkarten kaufen."
Die Fahrgäste schauten empört zu Florence und bedachten den Kontrolleur mit beifälligen Blicken. Der Busfahrer bog in die nächste Haltestelle ein und öffnete für die draußen wartenden Leute die Tür. Diese Gelegenheit nutzte Florence, rammte ihre Handtasche mit voller Wucht in den Hoden des Kontrolleurs und sprang nach draußen. Im Hintergrund hörte sie das Schmerzensgehäule des Fahrscheinprüfers und ein Rufen:
"Haltet diese Verrückte, rennt hinter ihr her! Da vorne läuft sie!"
Florence rannte bei beginnendem Rot über eine belebte Kreuzung. Ein lautes Hupkonzert ertönte, aber ihre Verfolger hatte sie abgehängt. Atemlos rannte sie durch die Straßen und gelangte schließlich zum Bahnhof. Sie schaute auf den Fahrplan, der nächste Zug Richtung Berlin ging in einer halben Stunde. Ihre Fahrkarte musste eigentlich noch gelten, denn man durfte die Fahrt zum Umsteigen unterbrechen. Es war mittlerweile frisch geworden und sie fror in ihrer dünnen Windjacke. Außerdem war ihr langweilig. Sie hätte ein Buch oder eine Zeitschrift mitnehmen sollen. Das kleine Kiosk am Bahnhof hatte leider schon lange geschlossen. Frustriert steckte sie ihre Hände in die Taschen und zog fröstelnd ihre Schultern zusammen.
Nach langer Wartezeit, sah sie endlich die Anzeige für den Zug und schaute auf ihre Armbanduhr. In fünf Minuten müsste er endlich da sein.
Da hörte sie fröhliche Stimmen und ein schrilles, zickig klingendes Lachen. Ein junges Paar, er mit sehr männlichem Kurzhaarschnitt und modisch ausrasiertem Kinnbart, sie blond mit Engelslocken, rosa Lipgloss, rosa Rouge und einem himmelblauen Flauschejäckchen. Sie steckte ihre Hände fröstelnd in die Jackentasche ihres Freundes, schmiegte ihren Kopf an seine Brust und plapperte etwas, das sich wie Babysprache anhörte: "Mausibär, deinem Hasi ist so kalt bibber, bibber, halt mich warm."
Florences Stirn zog sich in zwei steile Falten zusammen. Ihr Herz hämmerte voller Wut. Das junge Mädchen hatte Florence erspäht und warf ihr mit großen, dick mit schwarzem Lidstrich umrahmten Augen einen langen Blick zu. Dann blickte sie zu ihrem Freund hoch, der nun auch in Florences Richtung schaute und mit den Schultern zuckte. Das Mädchen stieß ihn an und lachte wieder ihr lautes, schrilles Lachen. Der Freund lachte leise mit. Das war Florence zu viel. Sie warf dem Pärchen einen stechenden Blick zu, der den beiden dämlich Verliebten hoffentlich durch Mark und Bein ging. Da fingen die Beiden erst recht zu lachen an. Der junge Mann nahm das Mädchen in den Arm und gab ihr einen laut schmatzenden Kuss. Sie seufzte auf und lachte dann ausgelassen.
Endlich fuhr der Zug ein. Florence hielt nach einem Schaffner Ausschau, sah aber Niemanden. Sie erklomm das Trittbrett. Das junge Pärchen stieg hinter ihr ein. Sie hielten sich eng umschlungen und warfen sich verliebte und erheiterte Blicke zu. Florence hatte das Gefühl ihr Herz würde oben im Kehlkopf klopfen. Ihre Kopfhaut prickelte. Ehe sich das junge Mädchen versah, bekam sie einen Stoß mit dem Ellenbogen in die Rippen, so dass sie vor Schmerz aufschrie und nach Atem rang. Schnell rannte Florence die Treppe hoch in den ersten Stock. Wechselte dann die Treppe in das untere Abteil und eilte ans Ende des Zuges. Ihr war bewusst, dass die Beiden gegen sie eine Strafanzeige wegen Körperverletzung erheben konnten.
Das Abteil war leer, was Florence mit Erleichterung registrierte. Sie schaute auf die Uhr, es war kurz nach acht. Zu Hause wird sie sich noch einen heißen Tee mit Rum genehmigen und dann hoffentlich bald einschlafen.
"Und da war da plötzlich diese ausgetickte Frau, die dazu auch noch ganz schön angetrunken war und hat mir voll eins in die Rippen gegeben. Ich dachte, ich müsste sterben!" hörte Florence eine ihr bekannte Stimme.
"Haben Sie gesehen, wohin diese Frau verschwunden ist? Befindet sie sich möglicherweise noch hier im Zug?" fragte eine männliche Stimme.
Florence erbebte. Entweder war es der zuständige Zugschaffner, mit der diese Teeniezicke sich unterhielt oder vielleicht sogar ein Polizist oder Sicherheitsbeamte der Bahnaufsicht. Angestrengt horchend tastete sie sich in den Flur vor und rannte dann die Stufen hinab. Auf Höhe der Tür sah sie hinten im Flur einen Mann in dunkler Uniform und die beiden jungen Leute stehen.
"Da ist sie!", schrie das junge Mädchen.
Florence rannte durch das untere Bahnabteil und wechselte dann zum ersten Stock. Die Mitreisenden sahen ihr verwundert nach. Als sie wieder in am Ende des Abteils die Stufen herabstieg, verringerte der Zug seine Fahrtgeschwindigkeit und sie sah das Ortsschild von Forst auftauchen. Ungeduldig drückte sie auf den Knopf, während der Zug langsam zum Stehen kam. Sie stieg aus und ein Abteil weiter öffnete sich die Tür und das Teenagerpaar stieg aus. Hinter ihnen stand der Zugschaffner und spähte auf den Bahnsteig. Sie erblickten sie und Florence rannte los, schlug einen Haken wie ein Hase und hechtete über den niedrigen Zaun, der den Bahnsteig eingrenzte. Ein lautes Hupen und das Geräusch von quietschende Reifen ertönte.
"Blöde Kuh, pass doch auf, wo du hinrennst!" schrie empört der Busfahrer eines "Tropical Island"-Pendelbusses.
"Legen Sie sich gefälligst mal eine rücksichtsvollere Fahrweise zu!", schrie Florence zurück. Sie hörte den Busfahrer noch ein paar unschöne Worte hinter ihr herrufen, kümmerte sich aber nicht weiter darum. Sie überlegte, ob sie per Anhalter das letzte Stück nach Königswusternhausen zurücklegen sollte, entschied sich aber den nächsten Zug abzuwarten. Der Fahrschein war bis dahin nicht mehr gültig, aber bis nach Hause waren es nur noch zwei Stationen und sie hatte inzwischen Routine im Umgehen von Kontrollen. Die Zeit bis dahin, wird sie in der kleinen Gaststätte am Bahnhof überbrücken.
Sie öffnete die Wirtshaustür und sah, dass bis auf einen älteren Zecher am Tresen, der in Gedanken versunken vor seinem Glas Weizenbier saß, niemand im Gastraum war. Das war Florence auch recht. Sie bestellte sich einen Irish Coffee zum Aufwärmen und schaute träumend aus dem Fenster.
Florence stand fröstelnd am Bahnsteig. Ihre Augen folgten einem blauen Fiat, der langsam in die Einfahrt zu den Bahnhofsparkplätzen einbog - es war Martins Wagen. Die Tür ging auf und Martin stieg aus. Über seiner linken Schulter baumelte eine große Badetasche.
"Hast du Zeit mit mir ins Tropical Island zu gehen?" fragte er.
"Ich habe keine Badesachen dabei," wandte Florence ein.
"Nicht so schlimm, wir können auf einen Cocktail an die Bar gehen."
Florence zögerte und sagte: "Das geht mir alles zu schnell. Erst warst du noch mit Bettina auf dem Schlossfest in Lübben und nun willst du mit mir ausgehen."
"Das mit Bettina ist beendet. Mir ist einiges durch den Kopf gegangen, und mir wurde klar, dass nur du meine einzige große Liebe bist. Ich hätte damals nicht so sehr auf deine Schwester, hören sollen, die immer nur schlecht über dich gesprochen hat."
Ein lautes Lachen und die gegrölte Vereinshymne von "Energie Cottbus", rissen Florence aus ihren Träumen.
"Meine Güte, vollgedröhnte Fußballfans", murmelte sie genervt.
Aber die Jugendliche, die nun die Kneipe betraten, trugen keinerlei Trikots, Schals oder sonstige Accessoires, die eine Zugehörigkeit zu einem Fußballverein zeigten. Nein, sie waren topmodisch gestylt. Haare gegeelt und kurz, Haare im Sixtylook, Markenklamotten, Hilfinger, Diesel, Joop und Ed Hardy. Eine Flasche mit einem Alkoholmixgetränk wurde leergetrunken und laut scheppernd in einen Papierkorb geworfen. Der Wirt beobachtete sie argwöhnisch.
"Aua!", schrie Florence empört auf, als ein Ellbogen ihren Kopf streifte. Der junge Mann strebte, ohne sich bei ihr zu entschuldigen, blitzschnell auf den großen, runden Tisch am Ende der Gaststube zu.
Der Wirt räusperte sich kurz und sagte: "Hallo, das hier ist unser Stammtisch!"
"Was soll der Scheiß, da sitzt doch Niemand", antwortete ein schlaksiger Junge mit fransig geschnittenen, sandfarbenen Haaren, empört.
"Ihr seid aber spätestens dann vom Tisch verschwunden, wenn die "Fährmänner" zur Tür rein kommen", erwiderte der Gastwirt in einem bemüht resoluten Tonfall und nahm dann missmutig die Getränkebestellungen auf.
Die Tür ging auf und eine Frau mit einer geblümten Badetasche über der Schulter, Florence schätzte sie auf Ende Vierzig, Anfang Fünfzig, betrat die Gaststube. Ihre zerzausten graublonden Locken fielen schlaff herab. Auch ihr sorgfältig aufgetragenes Make Up konnte nicht von ihrem unschönen Äußeren ablenken. Kinn und Mund wirkten klein und eingefallen. Roter Lippenstift betonte ihre dünnen Lippen. Die runden, blaugrauen Augen glitten unruhig über den Gastraum hinweg. Ihre Bewegungen waren fahrig. Florence sog einen großen Schluck Irish Coffee durch ihren Strohhalm. Sie empfand für sie ein ähnliches Mitleid, das sie auch alten, gebrechlichen Leuten gegenüber hegte.
"Sie hat bestimmt ganz einsam und alleine ein paar Schwimmrunden im Tropical Island gedreht und sich dabei an dem netten Ambiente mit den tropischen Pflanzen erfreut", überlegte sie.
Der Junge mit den blonden Locken, der sich als Anführer der Gruppe herausstellte, trank sein Bier aus und rülpste laut.
Unmutsäußerungen ertönten.
"Sieht die aus!"
"Ist die hässlich!"
"Ich guck gar nicht erst hin, sonst kotz ich auf den Tisch!"
"So was wie die müsste eingesperrt werden und dürfte erst nach Anbruch der Dunkelheit raus!"
"Aber dann müsste sie striktes Eintrittsverbot für Tanzlokale und Kneipen bekommen!"
"Hahahaha!"
Florence selbst sah zurzeit wegen der durchgefeierten Nächte und den damit verbundenen Alkoholgenuss alles andere als großartig aus, aber im Großen und Ganzen war sie noch einigermaßen passabel anzusehen. Sie hatte noch nie zu der Gruppe Frauen gehört, die wegen ihres Äußeren verhöhnt wurden.
Die Hitze des Irish Coffee ließ ihr Gesicht glühen und ihr Herz schneller schlagen. Abrupt erhob sie sich von ihrem Platz.
Die graublonde Frau begab sich vor Wut zitternd zum Stammtisch, viel weiß war in ihren Augen.
"Was soll das!" rief sie mit bebender Stimme. "Ich kenn euch nicht und ich hab euch auch nicht angesprochen. Warum lasst ihr mich denn nicht in Ruhe, ihr Assipack!"
"Halts Maul!", schrie der Junge mit den blonden Locken. "Dich hat man wohl vergessen zu vergasen."
Florence baute sich vor ihm auf: "Sag das noch einmal, du Fascho, dann..."
"Hey Jens, cool down", mischte sich ein Junge mit einer sandfarbenen Sixtyfrisur ein.
"Halts Maul, Marvin!", schrie Jens.
Der Wirt schlich sich langsam hinter die Theke und drückte auf dem alten, grünen Wandtelefon eine Kurzwahltaste.
"Wenn ihr die Frau nicht augenblicklich in Ruhe lasst, dann setzt es was!", schrie Florence mit überschlagender Stimme und griff sich einen Bierkrug. Der Junge namens Jens begann brüllend zu lachen. Sein Lachen wurde zu einem Gurgeln und blutend brach er auf dem Wirtshausboden zusammen.
"Du Miststück, du hast ihn umgebracht!" rief der Junge mit den hellen Haaren, und sprang mit geballten Fäusten auf Florence zu. Die massige Gestalt des Wirtes schob sich dazwischen, packte Marvin und drehte seinen Arm nach hinten. Die restlichen Jungs der Clique saßen starr, wie verängstigte Kaninchen an ihrem Tisch und verfolgten mit entsetzten Gesichtern dem Geschehen. Die graulockige Dame saß inzwischen wieder an ihrem Tisch und kramte ein Taschentuch aus ihrer Badetasche hervor.
Die Tür ging auf, uniformierte Polizeibeamte betraten den Schankraum.
"Na endlich sind Sie da. Wiedermal ne Schlägerei, wegen so ein paar bekloppten Jugendlichen", erklärte der Wirt. "Die junge Dame da vorn war aber auch daran beteiligt."
"Aber Hallo!" rief Florence. "Ich musste mich doch irgendwie einmischen. Die Typen haben diese Frau total gemein verhöhnt und eingeschüchtert."
Ihr Blick fiel auf den am Boden liegenden Jens. Er drehte sich zur Seite und stöhnte.
"Zum Glück hab ich den nicht umgebracht", seufzte Florence und spürte, wie sich das kalte Eisen der Handschellen um ihre Gelenke legte.
Florence stand vor der Rezeption des Charités. Jens hatte einen Jochbeinbruch, eine Platzwunde und eine schwere Gehirnerschütterung erlitten. Auf Anraten ihres Rechtsanwaltes, musste Florence ihn in der Klinik besuchen, um ihr Strafmaß zu mildern. Dass sie das alles getan hatte, um eine hilflose Frau zu beschützen, wollte ihr niemand abnehmen. Der Wirt und der einsame Zecher hatten angeblich nur ein Wortgefecht gehört und eine beginnende Keilerei gesehen, aber konnten nicht sagen, was der Anlass dazu war. Die Frau, um die es ging, war zurzeit in psychosozialer Betreuung und Florence hoffte, dass sie nach ihrer Genesung ein gutes Wort für sie einlegte. Jens Freunde hielten natürlich alle zu ihm und sagten gegen Florence aus. Aber Florence wunderte gar nichts mehr, seit sie aus der Presse erfahren hatte, dass an einer Münchner S-Bahn-Station ein Mann, der Kinder gegen gewalttätigen Jugendlichen verteidigte anschließend zu Tode geschlagen wurde, obwohl einige Fahrgäste alles mitbekommen hatten, aber feige im Hintergrund blieben. Nichts sehen und hören wollen ist die Devise.
Ihr Job beim rbb war nach diesem Eklat noch nicht ganz verloren, aber sie musste versichern, dass sie sich freiwillig zur Therapie in eine Entzugsklinik einweisen lässt.
Es wird sich etwas in nächster Zeit ändern, alles liegt in Florences Hand.