Was ist neu

Tage im Büro

Mitglied
Beitritt
26.12.2002
Beiträge
11
Zuletzt bearbeitet:

Tage im Büro

Nachdem ich bereits zehn Bleistifte verspeist hatte, kam ich zu dem Schluss, dass Holz kein sehr gutes Nahrungsmittel ist. Auch die Blumenerde, die ich runtergewürgt hatte um mein quälendes Hungergefühl zu betäuben, schien mir im nachhinein nicht wirklich als Mittagessen geeignet zu sein. Wasser hatte ich ja genug aus der Leitung. Aber dieser Hunger machte mich wirklich fertig. Seit vier Tagen war ich jetzt im Büro eingesperrt und konnte mir nicht erklären, warum mir keiner half und die Tür aufschloss.

Am Dienstag wollte ich das Büro verlassen um eine Zigarette zu rauchen, aber die Tür war abgeschlossen. Am Anfang hielt ich alles nur für einen schlechten Scherz, dann jedoch, nach vier Stunden, fand ich es beängstigend. Ich hatte mich heiser geschrieen und mit den Fäusten gegen die Tür gehämmert, meine Kollegen jedoch taten so, als würden sie mich nicht hören. Oder hörten sie mich wirklich nicht? Ihre Schritte, ihr Lachen und Scherzen waren deutlich zu hören, aber sie hörten mich nicht. Durch das Fenster konnte ich nicht nach draußen, immerhin lag mein Büro im sechsten Stock. Draußen auf der Straße ging das Leben wie gewohnt weiter. Autos fuhren vorbei, Menschen liefen herum, und ich hatte gerufen und geschrieen und gewunken, aber keiner schien mich zu hören. Nur einmal hatte ein kleines Kind, das von seiner Mutter im Kinderwagen gefahren wurde zu mir hoch gesehen und mit dem Finger auf mich gezeigt. Die Mutter hatte ihm hastig ein Spielzeug in die Hand gedrückt und es zugedeckt, war dann schnell weitergefahren, ohne zu mir hoch zu sehen. Dabei hatte ich so laut gebrüllt.

Es wurde langsam dunkel draußen, also schaltete ich das Licht ein und würgte den letzten der Kakteen runter, die noch Vorgestern mein Fensterbrett geziert hatten. Da waren Vitamine drin, die ich dringend brauchte. Nicht wie bei den Radiergummis, die waren ziemlich ungesund, würde ich keinem empfehlen. Dann ging ich zum Fenster und beobachtete das Leben auf der Straße unter mir. Eine Gruppe Jugendlicher lief grölend und Bierflaschen schwenkend vorbei, wenn die wüssten wie der Alkohol sie zugrunde richten kann. Nicht wie mein Kaktus mit seinen Vitaminen und Mineralstoffen, der macht stark und gesund! Hinter ihnen schlenderte eine ältere Dame im Pelzmantel, die ihren Dackel spazieren führte. Sie band ihn an eine Laterne und betrat das Geschäft nebenan. Wie lecker das Tier aussah. Mit Sauce und etwas Gemüse würde es sicherlich köstlich schmecken. Ein Mensch in meiner Situation konnte von so etwas aber nur träumen. Trotzdem lief mir das Wasser im Mund zusammen.

Aber vielleicht war es nicht unmöglich mir das Fleisch zu holen, mir kam eine brillante Idee. Aus einer der Schreibtischschubladen nahm ich eine große Rolle Paketschnur, die hatte ich eigentlich für das morgige Mittagessen eingeplant, und knüpfte eine Schlinge. Jemand in meiner Lage, kurz vor dem Verhungern, musste schon zu außergewöhnlichen Mitteln greifen um überleben zu können.

Ich hörte, wie sich auf dem Gang ein Kollege vom anderen verabschiedete, kurz darauf sah ich durch den Spalt unter der Tür wie das Licht gelöscht wurde. Dass das Licht bei mir noch brannte, schien niemanden zu stören. Aber ich hatte das Klopfen und Rufen längst aufgegeben. Jetzt musste ich mich konzentrieren wie noch nie in meinem Leben. So schnell ich konnte wickelte ich die Paketschnur ab, immer in der Hoffnung, es würde windstill sein, damit ich meinen Plan ungestört in die Tat umsetzen konnte.
Ich hatte Glück, die Schlinge baumelte nach einigem Wickeln direkt über dem Kopf des Tieres, das mir auch noch sehr entgegen kam, weil es die Schnur wohl für ein Spielzeug hielt, das ihm die Wartezeit verkürzen würde. Mir zitterten die Hände, immer wieder versuchte ich dem Dackel die Schlinge über den Kopf zu streifen, und schließlich, nach dem zwanzigsten Versuch, gelang es mir.

Mit einem Ruck zog ich die Schnur an, wickelte sie mir um den Arm, und fing an mit aller Kraft zu ziehen. Der Hund keuchte, würgte und rang nach Luft, hörte aber nach vier Minuten damit auf, sicherlich war er tot. Aber angebunden war er immer noch, also musste ich warten. Nach zehn Minuten kam die Frau aus dem Geschäft, blieb wie angewurzelt stehen und rannte dann kreischend auf ihren vierbeinigen Freund zu. Sie hob ihn hoch und schüttelte ihn, jammerte und weinte, aber schließlich band sie die Leine los. Auf diesen Moment hatte ich gewartet. Ich holte die Schnur ein, so schnell ich konnte, immer weiter und weiter. Das war wie beim Angeln als Kind, ich hatte so viel Spaß damit gehabt. Gut, es war kein Fisch, aber es kam im Endeffekt auf das Gleiche raus.

Leider hatte ich den Dackel roh essen müssen, denn mein Versuch, ein Feuer durch das aneinander reiben von zwei Büroordnern zu entfachen war gescheitert. Wie gut doch alles schmeckt, wenn man nur richtig Hunger hat. Auch die Innereien hatte ich gegessen, wegen der Vitamine, das Fell war weggekaut, mir blieben nur noch die Knochen. Heute begann der zehnte Tag meiner Gefangenschaft, ich hörte die Kollegen wie jeden Tag auf dem Gang, wie sie sich unterhielten, und scherzten und lachten. Ich war nur noch ein blasses Gerippe mit dunklen Ringen unter den Augen, ein Schatten meiner selbst. Über zehn Kilo hatte ich schon abgenommen und ein neues Haustier konnte ich nicht erbeuten. Alles Essbare war gegessen, ich versuchte mich durch das Trinken von großen Wassermengen einigermaßen bei Kräften zu halten, aber ich hatte keinen Erfolg damit. Bei jeder Bewegung wurde mir schwindelig und ich hatte kaum noch die Kraft aufzustehen.

Ein letztes Mal rief ich aus dem Fenster es würde brennen und jemand sollte doch bitte die Feuerwehr rufen, aber keiner beachtete mich. Dann kam ich zu dem Entschluss mein Leiden zu beenden und mich mit Hilfe der Paketschnur aufzuhängen. Ich befestigte ein Ende der Schnur an der Lampe, stellte mich auf einen Stuhl, knüpfte eine Schlinge, und steckte meinen Kopf hindurch. Schnell war der Stuhl umgeworfen, und ich begann auch schon nach Luft zu schnappen. Ausgleichende Gerechtigkeit gibt es also doch, der Hund würde sich freuen mich so zu sehen, dachte ich, und ich hätte wohl auch gegrinst, wenn meine Situation nicht so schlimm gewesen wäre. Galgenhumor.

Plötzlich öffnete sich die Bürotür. Mehrere Menschen betraten den Raum, darunter mein Chef, zwei Arbeitskollegen und eine Frau mit einer Hundeleine. Ein Mann begann mich zu fotografieren und ein anderer rief: “Seht nur, wie seine Augen hervorquellen!“ Dann drängte sich jemand nach vorne, den ich als den Bürgermeister erkannte, er wurde auch fotografiert, wahrscheinlich war der Fotograf von der Presse. „Wie kamen Sie auf die geniale Idee ihn hier umkommen zu lassen?“, fragte er den Bürgermeister. „ Alle Gemeindemitglieder waren sich einig, keiner konnte ihn leiden, und so war der Entschluss, ihn hier sterben zu lassen schnell gefasst. Auf dem Volksfest im Sommer haben wir angefangen alle in den Plan einzuweihen, niemand hatte etwas dagegen, und jetzt ist er tot.“ „Nein, er lebt noch!“, rief mein ehemaliger Chef und zeigte mit dem Finger auf mich. Ich hatte angefangen mit den Beinen zu strampeln und zu zucken, denn der Sauerstoffmangel wurde schnell immer qualvoller. „Er war aber auch ein unsymphatisches Ekel!“, sagte ein entfernter Bekannter von mir. „Er hat sogar meinen Waldi gegessen!“, rief die Frau und schwenkte die Leine durch die Luft. „Mir hat er immer die Bleistifte geklaut!“, schrie eine Kollegin. Mir wurde schwarz vor Augen, ich bäumte mich noch einmal auf und schied aus dem Leben.

 

Als ich deine Geschichte las stellte sich mir eine Frage. Nicht wie die Geschichte ausgehen würde, sondern wann er nach all den verspeisten Gegenständen endlich zur Selbsturinverkostung kommen würde(In dieser Beziehung hast du mich dann leider enttäuscht).
Ich persönlich kann auch nicht nachvollziehen warum sich diese Geschichte unter Horror befindet, ich hätte sie nach Humor gegeben.
Die ganzen Dinge die er verspeist, die kleine Einlage mit dem Dackel und dann dieses geniale Ende. Unter dem Motto keiner konnte ihn leiden dass hat er nun davon.
Das geniale daran ist meiner Meinung nach das selbst der Bürgermeister darin involviert ist und dieser den "Plan" zusammen mit der Bevölkerung geschmiedet hat(wie volksnah), einfach genial.

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom