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"Tagezählendurchstricheanderwand" - Szenario
Mein Name ist unwichtig. Wissen tu ich ihn sowieso nicht mehr. Vermutlich wäre er mittlerweile befremdlich oder er ist ohnehin schon vergessen und niemand heißt heute mehr so. Natürlich habe ich über einen neuen Namen nachgedacht, aber ständig fällt mir ein Weiterer ein, den ich besser finde als den, den ich davor erfunden hatte. Ich trug also schon etliche Namen. Ein Dilemma. Dinge zu benennen ist ohnehin eine meiner liebsten Beschäftigungen, und das behaupte ich nicht, weil es hier fast keine anderen Beschäftigungen gibt. Meistens benenne ich vorbeitreibende Algen, Tierchen und andere Dinge. Wenn sie dann einen Namen von mir bekamen, denke ich mir Eigenschaften dieser Wasserlebewesen aus.
Da wäre zum einen der „Pickel-Gürtel“, den ich nach seiner dünnen, länglichen Form und den daran wachsenden Pickeln benannt habe. Diese Alge nutzt ihre Pickel zur Fortpflanzung, da Algen Probleme haben, gezielt etwas anzusteuern. Die hohe Anzahl an Ausbeulungen an der schmalen Pflanze erhöht die Chance deutlich, sich mit einem Artgenossen zu vereinen. So ist das!
Manche Algen oder Tierchen schienen mir allerdings so suspekt, dass ich nicht einmal sicher war, ob es sich um Wasserpflanzen oder Tiere handelte. Sie sind manchmal bunt, manchmal durchsichtig, manchmal sind sogar Schriften drauf, was immerhin die Namensgebung vereinfacht. Eine dieser Entdeckungen ist die „Vio-Qualle“. Eine langsam treibendes Wasserwesen, das sich kaum bewegt, um sich dadurch vor Fressfeinden zu schützen. Gleichzeitig wirkt ihr Inneres ausgedehnt, was optimal ist, um sich den Bauch vollzuschlagen. Warum allerdings der Mund, zumindest was ich dafür halte, verhältnismäßig winzig ausgefallen ist, bleibt mir ein Rätsel.
Ewig betrachten konnte ich die Entdeckungen sowieso nie, schließlich hat die Strömung Mitspracherecht, wie lange ich etwas beobachten durfte. Hier in meinem kleinen, weichen Haus, meinem Gefängnis, meinem Grab, meinem Schloss, meiner magischen Blase oder, unromantisch betrachtet, in einer glibbrigen kleinen Qualle, ohne Chance auf ein Entkommen, sitze ich als noch kleinerer Mensch in ihr drin und bewege mich langsam und still durch den Ozean. So schnell wie eine Qualle halt durch die Strömung treibt. Von meinem Leben vor dem glibbrigen Hausarrest weiß ich nicht mehr viel, da die Erinnerungen stets verblassten und irgendwann fast alles verflog. Nur wenige Aspekte aus meinem damaligen Leben frische ich regelmäßig auf, um sie keinesfalls zu verlieren.
Mein Name gehört zwar nicht dazu, aber ein Buch. Ein Buch über den Ozean und seine Unterwasserwelt, die alle Farben bietet, die man sich nur denken kann, an den bizarrsten Fischen, die gleichzeitig von riesigen Räubern gejagt werden, und alles mitten in einem Urwald von seltsamen Unterwasserpflanzen. Doch hier, außerhalb der kleinen Qualle, regt sich fast nichts. Hier ist es überhaupt nicht bunt. Es gleicht einer trostlosen, dunkelblauen Wüste. Über mir der schillernde, durchsichtige und gleichzeitig undurchsichtige Meeresspiegel und unter mir das immer düster werdende Nichts. Dort schaue ich nicht gerne hinab. Es macht mir Angst. Als würde dieser grenzenlose Schatten jeden Moment zu einem verschlingenden Seemonster mutieren und die Qualle samt kleinem Menschen drin verschlucken und in einhüllende Dunkelheit reißen, bevor ich überhaupt die Zeit gehabt hätte, auch dieses Monster zu benennen.
Immerhin bleibt mir der Blick nach oben, nach vorne, zur Seite, nach hinten oder auf die Fantasiebühne, wie ich meinen inneren Blick getauft habe, wenn ich die Augen nicht zum Schlafen schließe. Bis auf die Aufführungen der Fantasiebühne geschieht außerhalb nicht viel. Ganz selten erscheint der Rumpf eines Schiffes, was allerdings nicht immer eine Freude ist. Ich kenne Schiffe, zumindest sagt mir das meine Erinnerung, aber irgendwann kamen Schiffe dazu, die so dröhnten, dass die weichen Wände wackelten. Wer weiß, wie die Schiffe heutzutage aussehen?
Die Frage, wie lange ich schon hier verweile, kann ich nicht beantworten. Und wie sich denken lässt, dient die glibbrige Qualle nicht sonderlich gut als „Tage-zählen-durch-Striche-an-der-Wand“-Szenario. Die Frage, ob es das Innere meines Unterwasserhäuschens schon ausgefüllt hätte, kann ich beantworten. Ich bin weit über einen Schwarm Quallen hinweg.
In dieser Lage verweile ich, ohne zu wissen, wann es angefangen hat, ohne zu wissen, wann es aufhört.
Dinge zu beobachten und zu benennen ist somit das Größte. Die meiste Zeit schnelle ich meinen Kopf, wie ein Wiesel, in all die Richtungen, die mir keine Angst machen. So tat es sich zu, dass ich eines Tages in der trüben Ferne der dunkelblauen Wüste ein Schimmern wahrnahm. Dieses Schimmern glänzt mir nun schon seit schwer zu schätzender Zeit entgegen. Wenn ich mich allerdings nicht täusche, war es seitdem dreimal Nacht. Jedes Mal, wenn die Sonne erneut durch den Meeresspiegel bricht und das Schimmern wieder zurückkehrt, hat es seinen Standort geändert. Das glänzende Licht kam also eindeutig nicht von dem Ding selber aus, das hatte ich bisher ergründet. Hoffentlich keine Art, die ich schon benannt hatte. Wenn es schon wieder eine „Starbucksköcheralge“ ist, rutscht diese elendige Wasserpflanze auf jeden Fall immer weiter auf meiner Favoritenliste nach unten. Direkt neben den „Roten Coca-Colawurm“, die ich zum Beispiel unter Invasive-Arten kategorisiert habe.
Als die Sonne heute ihre Strahlen durch das Wasser gleiten ließ, konnte ich genau erkennen, was da vor mir trieb. Es war eine Qualle. Nichts Besonderes. Quallen gehören schließlich zu den Tieren, die sich am häufigsten blicken lassen und häufig schon einen Namen tragen. Es war allerdings zu meiner Überraschung exakt die gleiche Art, in der ich selber hauste. Was mir allerdings einen freudigen Stich durch die Lenden schießen ließ, war nicht das Tierchen. Es war ein Mensch. Genau wie ich selbst! Ein kleiner Mensch, der in der Qualle direkt vor mir lag. Eingekugelt, wie eine Assel, auf dem glibbrigen Boden. Er regte sich nicht. Kein bisschen. Sorge übertünchte meine vorausgehende Freude und ich klatschte meine Hände gegen das Innere meines Unterwasserhäuschens, in der Hoffnung, ich könnte auf mich aufmerksam machen. Vergebens. Obwohl das wirklich wichtig war. Der Mensch musste mir doch verraten, wie er hieß!
Eine ganze Weile trieben die Quallen voreinander umher. Fast einen ganzen Tag lang. Nach geduldigem Warten kam es mir so vor, als würden sie sich mit zuckenden Regungen annähern. Darum mag ich die Arten ohne eigenen Namen auf dem Körper lieber. Sie bewegen sich viel mehr. Eine Zeit lang beobachtete ich den Tanz der Quallen. Ihre Nesseln streiften aneinander und ich merkte, wie sie sich nach und nach intensiver bewegten. Noch eine ganze Weile dauerte es, bis ihre Körper eng umschlungen verharrten. Mir wurde ein wenig mulmig, was nun passieren würde, doch die verkeilte Umarmung der Tierchen bot mir einen klareren Blick auf den Menschen, der unverändert dort kauerte. Ich winkte und klatschte, hüpfte und tanzte, um die Person irgendwie zu wecken. Auch wenn ich nicht einmal sicher bin, ob sie schläft oder vielleicht schon tot war.
Meine alberne Akrobatik wurde unterbrochen, als mir eine Beule an der glibbrigen Quallenhaut den Platz nahm. Einen Schritt zurücktretend sah ich dabei zu, wie die Auswölbung in meinem Eigenheim immer größer wurde. Nach einiger Zeit war die Beule so groß, dass ich mich nun selber zusammenkauern musste, um genug Platz zu bekommen. Dann hörte es unangekündigt auf und ich hing in einer engen Spalte, eingebettet in Quallenglibber. Es war weich und es fühlte sich fast schon geborgen an. Ich lächelte selig.
So, wie es mir in dieser Lage möglich war, linste ich zu der anderen Person. Diese lag noch dort. Fast schon unheimlich nah. Ich konnte erkennen, dass es sich um einen jungen Mann handelte. Da ich nicht in der Lage war, irgendetwas anderes an mir zu bewegen, schrie ich. Jetzt musste er mich hören, ganz sicher. Doch das Einzige, was geschah, war, dass der Druck durch die Quallenbeule verschlimmert wurde. Ich schloss die Augen. Das war mir deutlich zu viel Geborgenheit. Jetzt werde ich sicherlich zerquetscht. Ich hatte natürlich an einige Szenarien gedacht, wie meine Reise in der Qualle endet, aber von glibbrigen Wänden zu Mus verarbeitet zu werden, wurde nicht bei meiner Fantasiebühne aufgeführt. Da hätte ich eher gedacht, vom Schlund der „Totenkopf-Riesen“, die hin und wieder bedrohlich vorbeitrieben und mit absoluter Sicherheit alles fressen, was den Weg in ihr Inneres findet. Schließlich ist ein Totenkopf auf der Seite des großen, runden Mauls. Offensichtlicher kann ein Tier nicht vermitteln, dass es Fleisch mag.
Der Druck wurde stärker und als er fast unaushaltbar war, verschwand er schlagartig. Jetzt wurde ich sicherlich zerquetscht. Ich war sicherlich tot.
Zaghaft öffnete ich meine Augen. Etwas ängstlich, doch gleichzeitig neugierig, wie der Tod aussah. Als aus dem verschwommenen Blick nach und nach ein klares Bild entstand, sah ich vor mir, unverändert, den jungen Mann liegen. Ich schaute mich um. Wo war meine Qualle? Ist das meine Qualle? Mein Blick schloss sich wieder der Erscheinung des Mannes an und ich starrte für eine Zeit lang vor mich. Er muss mir seinen Namen sagen! Meine Hand näherte sich dem fremden Quallenbewohner und ich rüttelte an dessen Schulter. Er war warm. Er lebte. „Hallo?“ sprach ich unsicher. Mir kamen meine eigenen Worte seltsam vor, da sie seit einer ganzen Weile nicht nur an mich selbst gerichtet waren. Ich wurde deutlicher. „Hallo, hörst du mich?“ Es blieb still innerhalb der Qualle.
An der Kleidung stand etwas auf der Brust, was mich dazu veranlasste, ihn auf den Rücken zu drehen. Große, helle und flammende Buchstaben zeigten sich mir. „Trasher Magazine“, flüsterte ich. Das war bestimmt sein Name. Meine Mundwinkel breiteten sich zu einem Grinsen aus und ich rüttelte noch heftiger am bewusstlosen Körper, während ich seinen Namen lauter rief. Mein Versuch wurde von einem Stöhnen unterbrochen. Immer noch grinsend schaute ich ihn an. „Trasher Magazine... hallo“, begrüßte ich den neuen Quallenbewohner. Das verzerrte Gesicht des Erwachenden blickte mich an. „Was?“ erwiderte er mit einer Mischung aus Verwirrung und Empörung. Ich half ihm auf die Sprünge und wiederholte mit einem noch breiteren Grinsen meine Begrüßung: „Trasher Magazine... hallo!“, Erwartungsvoll schaute ich sein verwirrtes Gesicht an. „Wer bist du, zum Geier...?“. Mein Grinsen verschwand. Die Frage hatte mich tatsächlich überrumpelt. „Ich weiß es nicht. Ich hatte schon viele Namen.“ Der junge Mann mit eigenem Namen schaute mir in die Augen, bis er diese verdrehte, sie schloss und mit einem erschöpften Seufzer seinen Kopf in den Nacken fallen ließ. „Du bist doch verrückt“, kam es kurz darauf aus seinem Mund. Meine Augen wurden groß. Entgeistert schaute ich ihn an. „Was hast du gesagt?“. Mein Grinsen kehrte zurück und ich spürte eine ungeheuerliche Freude. „Ich bin Verrückt!?“. Die Freude entwickelte sich zu einer ausgelassenen Glückseligkeit und ich sprang auf. „Du hast mir einen Namen gegeben!“ Meine Arme schwangen umher und ich hüpfte von Bein zu Bein. „Hä...?“ betrachtete der Namensgeber meinen Freudentanz. Damit fertig, stellte ich meine Arme in die Hüften und schaute stolz in die dunkelblaue Wüste.
Mein Name ist Verrückt. Wissen tu ich das durch meinen neuen Freund Trasher Magazine, der mir diesen Namen gegeben hat. Vermutlich ist mein Name ziemlich gängig und viele heißen heute so. Verrückt halt.