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Taktvoll
Sie hatten sie alle vor ihm gewarnt. Dass er gefährlich sei. Dass er über Leichen gehen würde. Sie hatte so getan, als würde sie alle Warnungen ignorieren, dabei genoss Claudia in Wahrheit den Nervenkitzel, der mit diesen verbunden war. Manchmal war sie sich nicht sicher, wen sie mehr liebte, ihn oder diesen Nervenkitzel. Sie war eigentlich keine Rebellin, ganz im Gegenteil: sie war die brave Tochter, die nach einem durchschnittlich-guten Abitur ihr BWL-Studium begann. Die noch bei ihren Eltern wohnte, weil es für alle Beteiligten billiger und bequemer war. Die keine Drogen nahm, nie einen Freund gehabt hatte, den sie ihren Eltern nicht hätte vorstellen können. Für die das Leben mit 1,2 Kindern im noch abzuzahlenden Reihenhaus gedacht war.
Dann kam Peter Klaasen.
Sie hatte heute Morgen noch lächelnd die SMS gelöscht, mit der man sie warnte, mit ihm weiter zumachen. Er hatte ihr beigebracht, dass man nicht aufgibt. Er hatte ihr beigebracht, dass alles Krieg wäre: das Leben, die Liebe und der Tanz. Ganz besonders der Tanz. Er war der einzige Turniertänzer, der auf der Tanzfläche nicht lächelte. Während alle anderen wie die Perlweiß-Zahnarztfrau auf Speed wirkten, musste er seinen Mund nicht öffnen, um Zähne zu zeigen. Selbstverständlich bekamen sie deshalb Punktabzug in einigen Tänzen, in anderen schien es die Intensität des Tanzes jedoch nur zu steigern. Besonders in der Rumba, dem Tanz der Verführung, wirkte sein strenger Gesichtsausdruck erstaunlicherweise viel erotischer als jedes noch so tiefe Lächeln.
Für Peter Klaasen war Tanz eine andere Form von Schach. Selbstverständlich beherrschte er alle Schritte und Figuren. Er konnte ganze Turniere „blind“, also ohne dass eine einzige Note ertönte, exakt wie nach einem Metronom durchtanzen, genauso wie ein guter Schachspieler Partien ohne Gegner rekonstruiert, wie ein Skispringer seinen Abflug am Fuß der Schanze im Geiste durchgeht. Er nutzte diese Fähigkeit aber nur sekundär dazu, seinen Tanz zu perfektionieren, primär war sie seine Waffe gegen andere Paare. Er war Meister darin, Figuren so anzusetzen, dass sie genau dann in ein anderes Paar führten, wenn dieses gerade zum Höhepunkt seiner Figur ansetzte. Oder einem mit dem Takt ringenden Paar noch genau noch den winzigen Stoß zu geben, um es endgültig raus zu bringen.
Er war weder als Mensch noch als Tänzer beliebt, das hatte sie von Anfang an gewusst – er rief starke Emotionen hervor, in ihr und in anderen, auf und neben der Tanzfläche. Dass der Hass jedoch soweit gehen würde, ihn in der Herrenumkleide mit seiner roten Schärpe zu erdrosseln, hatte Claudia schockiert. Dass der Hass soweit gehen würde, sein Gesicht mit einer Stahlbürste zu zerkratzen, hatte sie sprachlos zurückgelassen. So musste die Trainerin der Polizei erklären, dass diese Art von Bürste bei Tänzern dazu benutzt wurde, zwischen den Tänzen das Parkettwachs aus den weichen Chromledersohlen der Tanzschuhe zu kratzen.
Als sie anfingen, gemeinsam zu tanzen, war sie eigentlich schon eine Klasse höher gewesen als er, aber ihr Partner hatte aufgegeben und sie brauchte dringend einen neuen. Der Markt für männliche Tanzpartner war eng. Erst sah es so aus, als müsste sie aufhören oder ernsthafter suchen; nur vom Klaus, einem alten Schulfreund, hatte sie gehört, dass dieser auch noch suchte. Aber eher hätte sie aufgehört, als mit Klaus zu tanzen. Klaus hatte nach ihrem Geschmack zu viel von einem dressierten kleinen Hund: ganz niedlich, aber zu unterwürfig. Dann hatte sich Peter Klaasens letzte Partnerin Maria einen Knöchel verstaucht, als er sie in ihrem Finaltanz ein anderes Paar hineinführte. Er nahm es Maria sehr übel, dass sie daraufhin den Tanz abgebrochen hatte. Claudia konnte das inzwischen verstehen; sie war eine gelehrige Schülerin. Man brach keine Tänze ab, solange man noch atmen konnte, man gab nicht auf, solange man noch nicht verloren hatte. Und wenn man schon verlor, dann kämpfend mit allem, was einem zur Verfügung stand. Maria tanzte jetzt mit Klaus und beide arbeiteten hart und erstaunlich erfolgreich daran, dass kein Preisrichter es mitbekam, dass sie es war, die führte.
Die nette Polizeibeamtin bekam auch nach einer Stunde keine klare Antwort aus Claudia heraus. Alle wussten, dass Peter Klaasen schon lange vor dem Turnier in der Halle gewesen war. Er war immer der Erste. Nein, sie hatte nicht gewusst, dass er einen Schlüssel besaß, aber es konnte sie nicht verwundern. Peter Klaasen bekam immer alles, was er haben wollte. Nur den heutigen Vereinsmeistertitel, für den sie über sechs Monate streng trainiert hatten, würde er nicht bekommen; noch nicht mal posthum. Es erschien ihr wie eine seltsame Ironie, dass nun ausgerechnet Klaus und Maria als Favoriten gelten müssten – würde das Turnier angesichts des Geschehens denn wirklich stattfinden. Die Pietät und die rot-weißen Absperrungen der Polizei machten eine Verschiebung wahrscheinlicher.
Sie saß am Rande des Turnierfeldes und betrachtete das hektische Treiben der anderen Tänzer, Preisrichter und Vereinswichtigen teilnahmslos. Sie hatte nicht geahnt, dass der Tod so ein Trubel war. Ihr dunkelblutrotes Turnierkleid lag in einem Kleidersack achtlos auf neben ihr. Sie würde es nie wieder tragen. Blutrot war die Lieblingsfarbe von Peter Klaasen gewesen. Seine Partnerinnen trugen immer blutrot, er schwarz mit einem Kummerbund in dem gleichen Blutrot. Sie war ehrlich gesagt froh, das Kleid nicht mehr tragen zu müssen. Es war in Wahrheit zu eng. Sie hatte in letzter Zeit etwas zugenommen, was Peter Klaasen mit viel Hohn bedacht hatte – Hohn und Vergleiche mit der ewig dünnen Maria. Maria, die ohnehin besser tanzen konnte als sie. Maria, die das Turnier nun vermutlich mit Klaus gewinnen würde. Das hätte Peter Klaasen nicht gefallen. Er konnte Klaus nicht leiden. Genau deshalb wird Klaus und allen anderen, die Peter Klaasen nicht mochten, der Sieg noch besser schmecken.
Sie sah auf, als sich ein hochgewachsener Mann neben sie setze. Er lächelte sie an. Instinktiv lächelte sie zurück, lenkte ihren Blick aber gleich wieder in die Ferne. „Ich heiße Ben Weill und bin Kriminalkommissar. Sie sind Claudia, die Tanzpartnerin?“
Sie nickte ohne ihn anzusehen.
„War ein ziemlicher Schock für Sie, oder?“
Sie nickte wieder.
„Ist das Ihr Kleid in dem Sack? Darf ich es mir mal ansehen?“
Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte das Kleid nie wieder sehen, sie wollte nicht, dass es jemand anders sah.
„Welche Farbe hat es?“
Sie sah ihn nun direkt an. „Rot, wie sein Kummerbund.“ Sie sah wieder weg als hätten schon diese wenigen Worte und ihre Bedeutung sie erschöpft.
Sie sah in eine andere Ecke des Raums, in der Klaus versuchte, die hemmungslos weinende Maria zu trösten. Marias Make-up war durch die Tränen aufgelöst, schwarze Rinnsale krochen bereits den Hals runter und drohten ihr neues, wie angegossen sitzendes, kurzes, sexy, dunkelblutrotes Kleid zu ruinieren. Ihr eigenes Make-up saß noch immer fest wie Beton und gab einen seltsamen Kontrast zu ihrem viel zu weitem Sweatshirt mit den Ärmeln bis über die Hände und den langen, locker sitzenden Jeans.
„Stimmt es, dass die Beiden nun gewinnen werden?“
Sie hörte die Stimme des Kommissars und zuckte nur mit den Schultern.
„Wäre das ein Grund, Peter Klaasen zu töten?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nur für Peter Klaasen“, murmelte sie fast unhörbar.
Der Kommissar redete weiter: „Sie kennen die Beiden da drüben, oder? Er soll sehr eifersüchtig auf Ihren Tanzpartner gewesen sein. Glauben Sie, dass das Motiv genug für ihn wäre?“
„Für Klaus?“
„Ja.“
„Nein, Klaus ist viel zu harmlos. Er hat nichts vom Tanzen gewusst. Sehen Sie doch, wie sehr er sie tröstet. Sie ist ihm wichtiger als der Tanz.“
„Und sie?“
Sie sah wieder in die Ferne, ihr Gesichtsausdruck verriet nicht, ob sie über diese Frage wirklich nachdachte, verriet auch nicht, ob sie diese Frage auf sich oder Maria bezogen hatte.
Der Kommissar und sie schwiegen einen Moment, bis ein Beamter kam und ihm ein Stück Papier übergab. Er las es mit gespanntem Gesichtsausdruck und wandte sich ihr wieder zu. „Seit wann haben Sie es gewusst?“
Ihr Körper wurde von etwas geschüttelt, das sowohl ein Weinen als auch ein Lachen hätte sein konnte – doch bevor es sich entscheiden konnte, starb es schon wieder ab. „Heute morgen, als ich ihr Kleid sah.“
„Da wussten Sie, dass er nicht mehr mit Ihnen tanzen wollte.“ Er hob das Papier an. „Hier werden Peter Klaasen und Maria Pape als Tanzpaar geführt.“
„Er sagte, dass ich zu fett sei. Zu unbeweglich. Zu anhänglich. Zu hässlich. Ich hätte nicht das richtige Tänzerinnen-Gesicht. Keine schöne Maske, die den Tanz ansehnlicher macht. Nicht so wie Maria – nicht so wie er. Er hat Schluss mit mir gemacht. Einfach so. Heute morgen, vor dem Turnier. Er hat gestern Abend die Paaraufstellung ändern lassen. Einfach so. Damit war es für ihn beendet. Er drehte mir den Rücken zu und wollte, dass ich ihm seinen Kummerbund reiche.“
„Und dann?“
„Dann habe ich ihn erwürgt.“
„Hat er sich nicht gewehrt?“
Sie zuckte wieder mit den Schultern und zog die Ärmel ihres Sweatshirts hoch, tiefe Kratzspuren entblößend. „Schon.“
„Warum haben Sie sein Gesicht zerkratzt?“
„Ich habe mich gefragt, was sich wohl unter seiner Maske verbirgt.“
Der Kommissar sah ihr tief in die Augen. „Und? Was haben Sie gefunden?“
Sie strich sich gedankenverloren ein einzelnes Haar aus dem Gesicht, das sich auf wundersame Weise aus der felsenfestgesprayten Steckfrisur gelöst hatte, „Nichts. Er war eine Maske, nichts mehr.“
Als sie abgeführt wurde, wunderte sie sich, ob wohl jemals jemand Peter Klaasen eine SMS geschrieben hatte, in der Peter Klaasen vor ihr gewarnt wurde?