Tante Marie - ein grünes Leben
Tante Marie war zeitlebens eine praktische Frau. Aber immer auch ein bisschen spleenig. Jedenfalls nach Meinung der Verwandtschaft. Allein schon weil sie von Anfang an mit der grünen Bewegung sympathisierte. Damit stand sie quer zur Familie, deren politische Präferenzen sich bis heute gleichmäßig auf die beiden großen Volksparteien verteilen.
Trotzdem wurde sie von meinen Eltern fast jeden Sonntag eingeladen, mit uns ins Grüne zu fahren, mal in den Harz, mal in die Lüneburger Heide oder sonst wohin. Ich liebte diese Ausfahrten, auch weil Tante Marie stets Eis oder Sahnetorte spendierte. Doch eines Tages sollte sich alles ändern. Denn plötzlich begann sie, von meinem Vater zu verlangen, Routen zu befahren, auf deren Straßen so genannte grüne Wellen eingerichtet worden waren. Mein Vater, ein gefälliger Mann, war so überrascht von diesem Anliegen, dass er kreuz und quer durch das hannoversche Umland fuhr, stolz, wenn Tante Marie nach der 10. grünen Ampel in Folge Beifall klatschte. Dabei schwärmte sie von den Vorzügen der Farbe Grün, die sie insgeheim mit ihrer Partei gleichsetzte. Noch nie, so Tante Marie, habe sie eine schwarze oder gar rote Welle gesehen. „Rote Welle…“ Hi hi, ein Wort, das sie mit einen spitzen Lachen kombinierte. Unser Ziel, das Steinhuder Meer, hatten wir an diesem Sonntag jedenfalls nicht mehr erreichen sollen. Der Tante war es wurscht, mir war es merkwürdigerweise auch wurscht, meiner Mutter allerdings nicht, und mein Vater hat sich später auch distanziert, mit Vehemenz.
Keine acht Wochen sollten ins Land gehen, dann blieb der Platz von Tante Marie neben mir auf der Rückbank unseres Autos leer, und zwar für immer. Danach war es meine Mutter, die aufjohlte und Beifall klatschte, wenn mein Vater bei Grün demonstrativ laut quietschend in die Bremsen ging.
Monate später wurde es Weihnachten. Üblicherweise feierte die Familie den ersten Feiertag bei meinen Eltern. Großer Bahnhof. Neununddreißig Gäste, darunter selbstverständlich Tante Marie. Es kam wie es kommen musste: nach dem Abendessen und dem 7. Kümmel begann der unvermeidbare politische Disput. Schwarz gegen Rot, Grün gegen den Rest der Welt. Irgendwann nur noch Grün gegen den Rest der Welt. Tante Marie lief zur Höchstform auf. Als die Argumente aufgebraucht waren, schleuderte sie die Namen zahlreicher junger, dynamischer, hellwacher Basis-, Umwelt- und Friedensaktivisten ins Wortgetümmel. Dagegen hatten die Nachfahren der Adenauers, Genschers, Brands und Schürzenjäger nun wirklich nichts ins Feld zu führen. Halt!!! Einer wagte dennoch die Gegenrede. Es war mein Vater: Unter dem Beifall der Familie deklamierte er die jungen, in den Medien abgefeierten Leute zu enthemmten Gewalttätern oder unausgebildeten oder gescheiterten Laien. Überdies, so fuhr er fort, zeichne sich bereits ab, dass es den grünen Wichtigtuern letztlich doch nur um Karriere und Versorgung gehe.
Der zweite Weihnachtstag wurde bei meiner geliebten Tante Marie gefeiert. Es gab Entenbraten, Pommersche Klöße und die obligatorische gebutterte Gemüsepfanne. Tante Marie ließ sich die Teller reichen und legte auf, der Reihe nach. Doch dann! O weh! Bevor mein Vater dran kam, war die erste Ladung Entenbraten ausgeteilt. Die nächste sollte dauern. Doch Tante Marie hatte vorgesorgt und im Kühlschrank einen grünen Hering deponiert. Den legte sie meinem Vater auf den Teller. Dazu eine grüne Tüte Fishermans Friends. Wegen des guten Geschmacks, wie sie sagte. Darauf sprangen meine Eltern auf und brachen den Besuch ab. Trotz aller Versuche der gesamten Familie, die Angelegenheit als harmlosen Scherz darzustellen. Böse Zungen behaupten, die Beförderung meines Vaters zum Vorsitzenden seiner örtlichen Parteigruppe, hätte er allein dem Mitleid für diese Demütigung zu verdanken.
Von diesem Tag an war Tante Marie bei Teilen unserer Familie zur Unperson geworden. Ich für meinen Teil habe Tante Marie stets lieb gehabt, bis heute. Es gab Zeiten in meiner Jugend, da habe ich in ihr meine einzige Freundin gesehen. Kam sie zu Besuch, hing ich an ihren Lippen, vor allem, wenn sie von den Grünen schwärmte, von deren Engagement gegen Atomkraftwerke, für eine ökologische Umwelt oder etwa für die revolutionäre Rotation ihrer Parlamentarier. Und immer stand dahinter die Idee einer sozialen und demokratischen Beseelung der Bevölkerung. Für Tante Marie waren diese Grünen die wirklichen Linken der Bundesrepublik. Nur deswegen, so behauptete sie, sei mein Vater ihr feindlich gesonnen. Schließlich kam der Tag, an dem ich ihr folgte und in die Partei eintrat. Gegen den Willen meiner Eltern, die mich am liebsten bei der Jungen Union abgeliefert hätten.
Wie eingangs erwähnt, Tante Marie war eine praktische Frau. Stets verband sie noch so ausgefallene Gedanken mit einem Nutzen. Grün war für sie nicht nur eine Idee, sondern eine Passion, ein Lebensgesetz. Sie kämpfte gegen den Atomstrom und nutzte die erste Gelegenheit, Strom aus erneuerbaren Rohstoffen zu beziehen. Einkaufen ging sie in die aus dem Boden schießenden Bio-Läden. In ihrer Obstschale auf dem Wohnzimmertisch lagen grüne Äpfel.
Doch auch kein noch so gesundheitsbewusstes Leben kann den Alterungsprozess verhindern. Tante Marie bekam den grünen Star, runzelte zunehmend an und mit ihr auch die Grüne Partei, wie sie an einem meiner spärlichen Besuche einmal seufzend bemerkte. Was genau sie damit sagen wollte, habe ich bis heute, zugegebenermaßen, nicht begriffen. Ja, die Tante war älter geworden, legte sich schrullige Züge zu, aber ihr Tun war stets unterfüttert von ordnenden Gedanken.
Eines Tages, die Tante war gerade 68 geworden, bot sie mir an, ihren regelmäßigen Hausputz zu erledigen und im Garten zu helfen. Entlohnen wollte sie mich mit 100 Euro über dem, was ich mit meinem studentischen Nebenjob verdiente. Ein fantastisches Angebot. Für jeden anderen, nicht aber für mich. Denn ich jobbte bei einem aufstrebenden Im- und Exporteur, einem erfolgreichen Altgrünen übrigens, mit besten, ja glühendheißen Drähten in die Machtzentren der regionalen Politik. Wir verstehen uns prächtig. Inzwischen bin ich sogar für die Beschaffung und den Einsatz der Mitarbeiter fürs Be- und Entladen der Container zuständig. Ich glaube sagen zu dürfen, ein gutes Auge zu haben gerade für solche Jobber, die den Tag lieber mit Rumstehen denn mit Arbeiten verbringen. Die fliegen achtkantig aus der Ladehalle, auf der Stelle. Ach, Mensch, da könnte ich Geschichten erzählen…
Lange Rede, kurzer Sinn, den Job einfach hinschmeißen, dass konnte und könnte ich meinem Chef niemals antun. Da die 19 festen Büroleute unabkömmlich waren, hätte für mich eine neue Kraft eingestellt werden müssen. Und ob die den Job geschafft hätte, so effektiv wie ich? Ein Risiko, denn schon mehrmals war der Chef hereingefallen bei der Auswahl seiner Mitarbeiter, vor allem bei denen, die das Arbeitsamt regelmäßig vorbeigeschickt hatte. Ein Wagnis sondergleichen, nicht zuletzt weil diese lusche Bundesregierung so zäh an altmodischen, überkommenen Arbeitszeitregelungen und Kündigungsschutzgesetzen festhält. Wie sagt mein Chef immer? Wir brauchen Reformen, Reformen, Reformen.
Nein wirklich, ich war unabkömmlich. Klar, dass Tante Marie mir Leid tat. Aber wo nichts zu machen ist, da ist halt nichts zu machen. Am besten wäre es gewesen, sie ins Altenheim zu stecken. Und ich hatte Recht damit: Hätte man die Alte schon frühzeitig unter fachliche Aufsicht gestellt, wäre uns womöglich viel Ärger erspart geblieben. Denn fortan, um kostbare Zeit und persönliche Bioenergie zu sparen, begann sie all die Dinge des täglichen Bedarfs palettenweise einzukaufen. Merke: ich meine Euro-Paletten!! Bald lagen im Keller große Haufen von grünen Äpfeln, grünen Feigen, grünen Salatgurken usw. usf. Fäulnis und grüner Schimmel gehörten fortan zum Alltag. Ihre einzige Waffe dagegen: Grüne Seife. Auch davon besaß sie mittlerweile unzählbare Margen.
Vielleicht ist es Mitleid, was meinen Vater, ein Parlamentarier inzwischen, dazu bewogen hat, sich mit ihr auszusöhnen. Er besucht sie von Zeit zu Zeit, lässt sich sogar auf kleine, überschaubare Dispute ein und bezeichnet sie als stolze alte Dame der Familie. Hauptsächlich aber ist sein Verhältnis zur Tante von Amüsement geprägt. Was übrigens kein Wunder ist, denn neuerdings vergnügt sich die Tante mit dem Aufschäumen ihrer Grünen Seife. Stundenlang, ununterbrochen. Keinen Eimer, keine Wanne, kein elektrisches Küchengerät, das sie nicht zu Hilfe nimmt. Einmal, vor zwei Wochen, hatten Nachbarn die Polizei gerufen, weil aus den Fenstern und Türen ihres stattlichen Hauses riesige Schaumberge quollen. Das Leben ist schön, so heißt neuerdings die Losung der Tante. Im Vertrauen: mit Blick auf mein eigenes Leben muss ich gestehen, dass man/frau ihr da kaum widersprechen kann. Es ist nicht einfach nur schön, dieses Leben, es ist wirklich wunderbar.
Inzwischen hat die Tante auch ihr Testament gemacht. Vater und ich sollen zu gleichen Teilen erben. Zwar verstehe ich nicht, warum sie ausgerechnet meinen Vater so großzügig bedenkt, aber es ist ja genug da. Vater sagt ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass sie trotz ihres Alters auf keinen Fall von uns gehen dürfe. Und händeringend versichert er dazu, dass die Tante noch dringend gebraucht werde. Nur so nebenbei: Ich glaube, dass er es ernst meint. Und man kann zusehen, wie ihr die Worte gut tun, als fiele eine große Last von ihr ab. Über den alten Streit reden sie gar nicht mehr. Im Gegenteil, mein Vater bietet der Tante sogar gelegentlich einen Fishermans an. Und mit dem Atem-Erfrischer auf der Zunge grinsen beide laut wissend vor sich hin.
c: aboreas, 9 / 2006
Jede Ähnlichkeit mit Personen aus dem wirklichen Leben wäre selbstverständlich der reine Zufall.