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Tanzende Steine
Es war einer dieser Tage, von denen man später nicht mehr würde sagen können, ob gutes Wetter gewesen war, oder eher schlechtes.
Die Vergangenheit erscheint einem ja oft in Grautönen.
Sicher aber war es mitten im Winter.
Wir waren unterwegs. Mutter, Annemarie, Traudchen und ich, auf der Suche nach Kohlestücken.
Wir brauchten sie, um damit unseren alten gusseisernen Herd zu beheizen, der sowohl zum Kochen gebraucht wurde, als auch um die Küche einigermaßen warmzuhalten.
Das Problem war, dass es selbst in der Kohlenhochburg Bochum, in der wir lebten, nicht so einfach war, an die begehrte Kohle zu kommen. Durch den Krieg fehlte es an allem.
In der Stadt herrschte fortwährend Bombenalarm und einen Großteil unserer Zeit, verbrachten wir im einigermaßen sicheren, wenn auch sehr kaltem Keller.
An diesem Tag jedoch entschied Mutter, dass wir Kohle brauchten. Und zwar dringend.
Also liefen wir gemeinsam zum Bahnhof. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Wir Kinder streckten unsere Zungen so weit wie möglich heraus, um die Flocken einzufangen, die dann in unseren Mündern schmolzen, einen leicht bitteren Geschmack hinterlassend.
Das in früheren Tagen so majestätische Bahnhofsgebäude stand noch immer aufrecht, trotz der durchlöcherten Wände und den Glaslosen Fenstern, die wie leere Augenhöhlen wirkten.
Von Granaten und Bomben getroffene Zugteile lagen überall weit verstreut herum, als hätten Riesen mit ihnen Fangen gespielt. Nur der eine oder andere Waggon stand noch auf den Schienen, den Geschützen trotzend, als könnten diese ihnen nichts anhaben!
Mit ein bisschen Glück, zwischen den Schienen und Steinen, konnte man noch einige kleinere Kohlestücke finden. Selten ein größeres. Schließlich waren wir ja nicht die Einzigen in der Stadt, die sich hier auf die verzweifelte Suche nach Kohle begaben.
Meine beiden älteren Schwestern und ich verteilten uns zwischen den Gleisen und liefen, die Augen auf den unebenen Boden vor uns geheftet, überall umher.
Für uns war alles nur ein Spiel! Wer die meisten Stückchen findet, wer die größten Stückchen findet. Wir liefen lachend durcheinander, uns hin und wieder bückend, rufend - hier, ich hab eins! - oder - schaut mal, wie groß das hier ist! -
Nur für unsere Mutter war es bitterer Ernst. Während auch sie den Boden zwischen den Gleisen absuchte, ging ihr Blick immer wieder in Richtung Himmel. Sie war sich der Gefahren voll bewusst.
Als der Fliegeralarm dann tatsächlich einsetzte, hatten wir noch nicht viel gefunden.
Die Angst, die bei dem lang gezogenen, hohen Ton der Sirene in einem hoch kriecht, lässt sich nur schwer beschreiben. So jung wir auch waren, wir wussten, dass große Gefahr im Anzug war.
Zu oft waren wir in diesen Zeiten aus unserem Spiel gerissen worden, um uns im Keller zu verkriechen. Zu viele Stunden hatten wir dann dort unten eng beieinander gehockt, hoffend das nicht gerade auf unser Haus eine Bombe fallen würde, so wie bei den Meyers zwei Straßen weiter.
Jetzt allerdings, würden wir es ohnehin niemals bis nach Hause zu unserem Keller schaffen können. In unserer Nähe gab es keinen Bunker.
Wir konnten bereits die Flieger hören, zusammen mit dem typischen ‚Ratatatatata‘ der Maschinengewehre und dem lauten Sirren, das sie verursachten, wenn sie sich über einem im Tiefflug befanden.
Was tun? Mutter blickte gehetzt über das Gelände und sah einen noch auf den Schienen stehenden Waggon. Sie packte uns, so gut sie konnte, bei unseren viel zu vielen kleinen Händen. Gemeinsam rannten wir zu dem eisernen Monstrum, dem im Augenblick einzigen Ding, das uns in dieser Situation noch etwas Schutz würde bieten können.
Wie Sardinen lagen wir, dicht aneinandergedrängt, unter dem Waggon. Die harten und unbequemen Schienen, Holzplanken und Steine bohrten sich in unsere Körper. Mutter lag in unserer Mitte, ihre Arme so gut es ging, schützend über unsere Körper gelegt, als würde sie alleine dadurch die Kugeln von uns abhalten können.
Dann brach die Hölle los.
Verschiedene Geschosse, verschiedene Geräusche.
Ein scharfes Zischen kurz vor einem Einschlag, oder auch ein lautes Poltern. Dumpfes Tack-Tack-Tack, wenn eine Salve einen der Waggons traf.
Der Boden unter uns zitterte und bebte. Wir hörten das metallische Kreischen und die donnernden Einschläge direkt über unseren zitternden Körpern.
Wir hielten uns die Ohren zu, aber das nützte kaum etwas.
Ich hatte Angst und mir war kalt, doch dann zog ein nahezu fantastisches Schauspiel meinen Blick auf sich.
Jede Maschinengewehrsalve nämlich, die auf die Steine bei den Schienen traf, ließ diese wie kleine Fontänen in die Luft spritzen.
Dann fielen sie, noch einmal spielerisch aufhopsend, mit Geprassel zurück.
Es schien mir wie in einem Film. Ich hätte nur zu gerne einmal mitten in dieses tanzende Steinchenspiel hineingegriffen, um ein paar von ihnen aufzufangen.
Besessen von dieser Idee bewegte sich daher meine Hand langsam nach vorne, immer wieder abwartend, da die Steine direkt vor mir ja nicht immer getroffen wurden.
Ich war vollkommen gefangen von dieser sich mir darbietenden Vorstellung.
Inmitten des um uns herrschenden Chaos, sah es ganz einfach fröhlich aus.
Die Steine vollführten kleine turnerische Kunststücke.
Sie drehten sich in der Luft, sie kreiselten, sie überschlugen sich wie Zirkusakrobaten immer und immer wieder.
In der Luft tanzende Steinchen.
Da! Noch eine Salve. Wieder hüpften die Steinchen vor mir auf und ab. Meine Hand näherte sich bereits dem Rand des schützenden Waggons.
Fast hatte ich sie erreicht.
Schon fielen die blitzenden Lichter, der von den treffenden Geschossen verursachten Funken, auf meine Finger, als ein gellender Schrei in meinen Ohren toste.
„NEIN!“
Ein fester, schmerzender Griff um mein Handgelenk.
Mutter hielt mich eisern fest.
Solange die Flieger über unseren Köpfen jaulten und knatterten, und die Steinchen vor meinen Augen ihren wilden Tanz aufführten, ließ sie meine Hand nicht mehr los.
Ich denke oft noch an diesen Tag.
Nicht etwa an die Schrecken, nicht an die Angst, auch nicht daran, dass wir danach noch immer nicht genug Kohle hatten. Nein.
Das einzige Bild vor meinem geistigen Auge, bleiben durch die Luft tanzenden Steinchen.
Und, dass ich sie nicht fangen durfte.