Mitglied
- Beitritt
- 14.07.2004
- Beiträge
- 369
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Taron und Ophelia
Der immergrüne Regenwald umhüllte ihn mit warmen Nebeln. Seine Gedanken drehten sich nur um Ophelia. Er dachte an ihre smaragdgrünen Augen. Ihre schlanke Gestalt. Die kunstvollen Ornamente ihrer zarten, samtweichen Haut. Schon von je her war er fasziniert von ihrer Grazie und Eleganz. Er liebte sie. Es gab nichts, was er sich sehnlicher wünschte, als mit diesem göttlichen Wesen sein Leben zu teilen.
Viele Monate waren vergangen, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Er dachte daran, was sein Vater ihm beigebracht hatte und besorgte die verschiedensten Leckerbissen für sie: Kaninchen, Mäuse, Ratten und Papageieneier. Doch von all dem wollte Ophelia nichts wissen. Taron war ratlos. Traurig schlängelte er sich durch das faulende Unterholz.
Als die Nacht hereinbrach, erreichte er eine Lichtung. Palmen und Farne wuchsen zwischen den Ruinen einer verlassenen Stadt. Müde und erschöpft kroch er durch die Trümmer und suchte Schutz in einem der Häuser. Ein Dach gab es nicht mehr und der helle Schein des Mondes erfüllte seine Zuflucht. Taron starrte hinauf zu den Gestirnen und langsam rollten salzige Tränen über seine Wangen. Dann schlief er ein. Er sah Ophelia, die glücklich und strahlend durch seinen Traum tanzte. Er spürte, wie sie sich immer mehr von ihm entfernte und nur noch die Dunkelheit zurückblieb, die ihn gierig verschlang.
Die Sonnenstrahlen blinzelten durch die Kronen der mächtigen Mammutbäume und Taron erwachte. Er konnte nicht glauben, was er sah. Goldene Bilder zierten die Wände. Kerzen standen auf großen Ständer verteilt im ganzen Raum. Unzählige Reihen von Bänken füllten das Zentrum des Gebäudes. Leise schlängelte er sich nach vorne zu einem großen Tisch. Er kroch empor und fand ein vergilbtes Buch. Wunderschöne Bilder konnte er sehen. Taron konnte nicht lesen, aber die Zeichnungen zogen ihn in ihren Bann.
Ein alter Mann stand inmitten eines großen Meeres und viele Menschen folgten ihm. Glückliche Menschen, die auf den Schultern kleine Kinder trugen und Tiere vor sich hertrieben. Einen brennenden Busch erblickte er, der hell erleuchtet wurde und ein Mann kniete davor. Dann erspähte er einen kleinen Jungen, der einen Stein auf einen sehr großen Mann warf. Auch sah Taron immer wieder Tiere: Fische, Lämmer, Pferde und Rinder, aber Schlangen erblickte er nicht. „Was ist das für ein seltsames Buch, in dem es keine Schlangen gibt?“, fragte er sich und blätterte begierig weiter mit seiner Zunge Seite für Seite des mächtigen Buches um. Dreizehn Männer, die auf einem Berg saßen und sehr traurig waren. Eine Frau, die ein Baby in einen Korb legte und in einen Fluss warf. Einen jungen Burschen, der einen anderen Knaben erschlug. Dann war er beinahe am Ende des Buches angelangt. Er spürte, wie die Wut in ihm wuchs. „Wo zum Teufel sind die Schlangen?“, zischte er erbost. Dann plötzlich sah er sie. Eine rote, mächtige Schlange räkelte sich auf einem Baum. Ein junges Mädchen stand davor und lächelte, während sie in einen Apfel biss. Taron war sich nicht sicher, warum die Schlange so böse schaute. War sie sauer, weil das Mädchen ihr den Apfel gestohlen hatte? Ja, das musste es sein. Genau dies musste der Grund sein für die verächtlichen Blicke.
Schnell verließ Taron den Tisch und kroch hinaus in den Wald. Stundenlang verfolgte er den Lauf der Sonne, bis er endlich wieder zu Hause war. Er sammelte Blätter und duftende Orchideen, die er zu einem wunderschönen Kreis auf dem Waldboden richtete. Zum Schluss legte er ein Bündel aus Palmblättern darauf. Dann suchte er nach Ophelia. Friedlich schlafend lag sie auf einen toten Baum in der Sonne. Sie bemerkte ihn erst als er sie sanft mit seiner Zunge am Kopf streichelte. „Ophelia, komm mit mir. Ich möchte dir etwas zeigen.“
„Taron, ich habe dir doch gesagt, du sollst mich in Frieden lassen.“
„Ich bitte dich, schenk mir nur ein paar Minuten.“ Widerwillig verließ Ophelia den herrlich warmen Baum und folgte Taron tiefer in den Wald hinein. Dort fand sie einen Kreis aus duftenden Blüten und das Bündel, das Taron für sie bereit gelegt hatte. Geschickt öffnete sie die Blätter und sah auf einen wunderschönen roten Apfel. Ophelia strahlte und Taron strahlte zurück. Verliebt züngelten sie miteinander. Taron war glücklich. Er wusste nun, dass Ophelia für immer nur zu ihm gehören würde. Inniglich ineinander verschlungen flüsterte Ophelia Taron zu:„Ich liebe dich, aber woher wusstest du, dass ich Vegetarierin bin?“
„Ich hab´s gelesen“, hauchte Taron und versank in ihren smaragdgrünen Augen.