Mitglied
- Beitritt
- 11.09.2003
- Beiträge
- 113
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Task beenden
„Thomas, das war ganz weit vorn
und wir stoßen ins Horn,
wenn Du weißt, was ich mein,
wenn nicht: VERLORN!“
Fanta 4
Marvin hockte vor seinem Laptop und stierte auf die Mattscheibe.
Der Standby-Modus war aktiv, doch er registrierte es gar nicht.
Marvin war, wie Pete Sommerset gesagt hätte, MEGADONNERBREIT.
Das Weed, das sie von Joey dem Fuchs bekommen hatten, war erste Sahne. Super-Skunk war ein Scheißdreck dagegen. Lecker. Er rauchte es in der Pfeife, nicht in der Tüte, und, Junge, es bretterte ihn voll weg. Das Dope, das sie hatten, war Standard, und das war nicht so optimal. Das hieß vielleicht nachher noch ein bisschen Kotzerei, aber auf jeden Fall Kopfschmerzen, morgen nach dem Aufstehen.
Sangria besorgte den Rest der Arbeit, die nötig war seine Synapsen zu verknoten.
Es war ein herrliches kleines Gelage gewesen, doch nun war Marvin wieder allein in seiner Zweizimmerwohnung. Die Anderen waren vor Stunden gegangen, und er hatte immer noch Lesters Spruch im Ohr, den er ihm zum Abschied gedrückt hatte: „Mach´s gut, el Professore. Nicht so viel herumkonstruieren, okaaaayyyy?“ Damit hatte Lester das Tütenbauen gemeint, und Marvin hatte sich ja auch daran gehalten.
Anscheinend hatte Lester die Wasserpfeife vergessen. Schon bald würde es wieder hell werden, und von einem Bauernhof in der Nähe konnte man einen Hahn hören, der das Morgenrot beschwor, doch auch das registrierte Marvin nicht.
Er war gefangen in einem Dämmerzustand, der seine tastenden Fühler, mit denen er seine Umwelt wahrnahm, wie mit Schraubzwingen umklammert hielt.
Ein Flashback jagte den nächsten. POTZBLITZ. HASTENICHGESEHN. WOW.
Alles war verzerrt und verschwommen. Die Welt ein sich in sich drehendes, quadratisches Rad. Hätte er einen klaren Gedanken fassen können (der Jackie war echt zu viel gewesen. Oh, mannomannomann!), dann hätte er sich in einer verschmutzten und vermüllten Wohnung wiedergefunden, die seine eigene war, die er aber kaum wieder erkannt hätte. Hatte er wirklich vier Stunden seiner kostbaren Zeit damit verschwendet, sie aufzuräumen? Fuck, welch ein Verlust für die Wissenschaft. „Herr Professor, das Experiment war ein Misserfolg.“
Doch er konnte keinen klaren Gedanken fassen, stoned, groovy und geflasht wie er nun mal war. No Chance. Die Bilderflut, die sich durch sein winziges Fenster im Haus seines Bewusstseins, zwängte, war ein klebriger Strom seiner Empfindungen und Erinnerungen, die ohne Unterlass auf ihn einschmetterten.
Ein Brei aus Informationen und Eindrücken, der ihm im Hals stecken geblieben war.
Zitternd nahm er die Cola-Flasche in die Hand, drehte den Verschluss auf und trank einen Schluck. Dann schraubte er die Flasche wieder zu und stellte sie ebenso wie zu Beginn zitternd wieder weg.
Der gesamte Vorgang beanspruchte neun Minuten. Neun Minuten, die Marvin schienen wie Sekunden und in denen er beansprucht wurde wie bei einem Marathon. Auf seiner Stirn war Schweiß ausgebrochen, und er hatte das Smashing Pumpkins-T-Shirt ebenfalls schon durchgeschwitzt, doch auch das waren Tatsachen, die er nicht wahrnahm. Sie gehörten nicht zu dem Brei, den seine Vergangenheit auf ihn herabregnen ließ. Sie waren schlicht zu real, um wirklich interessant zu sein.
Marvin konnte hin und wieder ein Gesicht in dem ihn marternden Mahlstrom erkennen, eine alte Liebschaft, seine Eltern, er selbst, aber auch Stimmen waren zu hören.
Sie riefen boshafte Dinge. Dinge wie „Das darfst Du nicht“, „Ich hasse es, wenn Du das tust“ oder „ Lass uns Freunde bleiben“, und weiß der Kuckuck, was noch. Eine weibliche Stimme bellte: „Du kannst mich nicht einfach so hier stehen lassen, Marvin. Ich liebe Dich. Warum tust Du das, ich...!“ und ab da war es ganz und gar nicht mehr groovy, Babe. Es war seine ganz private Hölle.
Sie existierte nur wegen ihm und sie war nur wegen ihm hier. Vor seinem inneren Auge erschien sein zu Hause vor, das, überschattet von den Gewitterwolken seiner Vergangenheit, auf einem Hügel thronte und der Witterung schutzlos ausgeliefert war. Aus dem Erdreich im Vorgarten krochen seine Sünden hervor und stahlen sich in das Haus, bis es überquoll und barst unter der Last seiner Erinnerungen.
Immer schneller und schneller füllte sich die Zweizimmerwohnung in seinem Kopf mit Unrat und Schmutz, wurde überflutet von brodelnden Absonderungen schwarzer Materie. Entscheidungen, die er getroffen hatte stachen wie mit Nadeln in sein Herz, und die, die er nicht getroffen hatte, hatten sogar Messer.
Sie alle waren erbarmungslos.
Er weinte, schluchzte wie ein kleines Kind, aber er war viel zu bekifft, um noch irgendwas mitzukriegen. Die Zeit hatte ihre Wunden in seiner Seele hinterlassen, und er sah keinen anderen Weg sie zu lecken, als sich zu betäuben.
Er floss mit dem Strom, wie ein toter Fisch.
Schon seit geraumer Zeit dröhnte „Blackmail“ aus der Stereo-Anlage im Wohnzimmer. Es war wie das letzte Bild eines gealterten, gefallenen Rockstars in der Hotel-Suite, in der er sich gleich den letzten Schuss setzen wird oder vielleicht schon gesetzt hat und auf den Effekt wartet.
Das kalte Schwarzlicht von Marvins „Partyraums“ stahl der Umgebung alles, was an Natürlichkeit vorhanden gewesen war.
Die Pflanzen auf dem Fensterbrett waren radioaktiv verstrahlte Wüstenplanetenbewohner auf Urlaub.
NOBODY´SHOMEINMYHOMEI´MALONE!!!
Das Poster von AS GOOD AS IT GETS schien ihn zu verhöhnen.
AAAAAAAAAAAAAAAAHHHHHHHHHHHHHH!!!
Das Schlagzeug stampfte einem durch Mark und Bein und der Song näherte sich seinem Höhepunkt. ANDI´MTRYIN´TOBENICE!!! ANDI´MTRYIN´TOBENICE!!!
ANDI´MTRYIN´TOBENIIIIIIIIIIIIIIIIIIIICE!!! Die Zeit und alles was existierte schien zu rasen und zu keuchen, doch Marvin dämmerte weiter vor sich hin.
Seine private Gehirnwäsche lief auf vollen Touren.
„Das Experiment läuft ganz nach Plan, Herr Professor.“ Lesters Stimme hallte durch sein Bewusstsein und hinterließ tiefe Spuren.
Mit zitternden Händen bedeckte er sein Gesicht. Er wehklagte wie ein altes Waschweib und fühlte, wie seine Tränen durch seine Hände flossen und seine Wangen hinabliefen.
Er tippte auf den Computer ein und hackte darauf herum wie ein Specht. Zahlen und Buchstaben erschienen in der Word-Datei, die sich geöffnet hatte. Sein Server war noch aktiv. Die Internetseite www.willage.records.de war noch geöffnet. Marvin hatte sich die neuesten Aufnahmen von Blood Shot Eyes runtergeladen. Er beendete die Verbindung. Nachdem der Bildschirm und die Festplatte auf Touren wieder auf Touren gekommen waren, sah Marvin, woran er zuletzt gearbeitet hatte, als er noch nicht ganz so breit gewesen war. Es war eine Kurzgeschichte oder vielmehr der Anfang davon. So war das meistens bei ihm. Er hatte eine gute Idee, setzte sich hin um sie umzusetzen und scheiterte kläglich an der Ausführung. Es war scheinbar hoffnungslos. Zeitverschwendung.
Der Titel der Geschichte lautete: „Fauxpas“
Sie spielte in London und sollte dahingehend ausufern, dass der Protagonist mithilfe seines Computers die Zeit anhält, doch er hatte nicht mal die Einleitung geschafft.
Ein weiterer Beweiß seiner Unzulänglichkeit Dinge zu Ende zu bringen.
Er stöhnte, und seine Lunge pfiff wie ein Ozeandampfer.
Alles war Scheiße.
Alles Vorbei.
Alles in den Sand gesetzt.
„Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt für Plan B gekommen, Herr Professor?“
Der gute, alte Lester. Marvin konnte ihn hören, als ob er neben ihm stehen würde und sie waren beide zugekifft und besoffen bis zum Anschlag, also quasi breit wie zwei Haubitzen. „Lester?“ Er antwortete nicht.
Marvin bekam Kopfschmerzen. Die prägensten, doch leider auch die tragischsten Momente seines Lebens, erschienen in seinem Kopf. Sie spukten umher und ließen ihn nicht los. Marvin war zwar erst Siebzehn, doch er hatte schon einiges mitgemacht in seinem Leben, und auch schon einige Chancen sein Leben zu ändern und in den Griff zu bekommen versemmelt. Es war ne Menge Scheiße übern Jordan geflossen und jetzt schien sie, wie eine dunkle Flut, zurückzukommen. Für seinen Geschmack hatte er genug schlechte Erfahrung für zwei Leben gemacht, er wollte jetzt auch mal den Jackpot, er wollte jetzt mal die Sahne vom Schokopudding.
Marvin wollte einmal in seinem Leben alles richtig machen.
Das wollte er mehr als alles andere.
„PLAN B!“, schrie er plötzlich in den Raum hinein. „ES KOMMT NUR AUF DEN RICHTIGEN ZEITPUNKT AN! DAS IST DER SCHLÜSSEL!“
Seine Hände zitterten immer noch, als er den Cursor seines Laptops über den Bildschirm zog und das Start-Kästchen anklickte. Er wählte die Option „Beenden“.
Der Bildschirm wurde grau, die Windows-Texturen und Grafiken waren auf einmal ausgefranst und blass, wie Reflexionen in einem blinden Spiegel.
Draußen fuhr die erste Straßenbahn die Haltestellen an, um die morgendlichen Pendler aufzunehmen. Frühaufsteher brachen mit ihren Autos zur Arbeit auf und die Vögel zwitscherten.
In dem blauen Fenster, das sich auf dem Screen geöffnet hatte, standen drei Worte. „Herunterfahren“, „Standby-Modus“ und „Abbrechen“.
Marvin schwitzte.
Hier saß er nun, in seiner verdreckten Wohnung vor seinem Computer, total bekifft und abgrundtief traurig. Seine letzte Hoffnung, auf ein Bestehen in der Welt, in der er morgen leben musste, war diese quere Idee, diese kranke Eingebung, die sich in seinem Kopf festgebissen hatte, wie ein reißzahnbewehrter Parasit.
Auf einmal konnte er nicht anders und er begann ein wenig vor sich hin zu kichern, als hätte er einen schmutzigen Witz gehört. Immer lauter musste er lachen.
Er lenkte den Cursor auf „Herunterfahren“, machte einen Doppelklick und sah das Wort einem blauen Rechteck verschwinden. Als er danach die Del-Taste drückte, verschwand es völlig und das vierstellige Wort, das er stattdessen einsetzte, gefiel ihm viel besser.
Die Glocke des nahegelegenen Kirchturmes schlug fünf Uhr. Jeder Schlag hallte in seinen Ohren wie eine vergebliche Warnung und klang wie die Kunde schlechter Botschaft.
Er dachte noch einmal kurz an den Tag, der ihm bevorstand.
An die Arbeit.
An Nancy.
An alles.
Er lenkte den Cursor auf das OK-Kästchen und klickte es an.
Der Klang der Kirchturmuhr verstummte. Es war nicht so, dass der Ton der schlagenden Glocke verhallte, sondern es schien fast so, als hätte ihn jemand wie mit einer Schere abgeschnitten.
Marvin bemerkte es nicht. Er würde nie wieder etwas merken und er würde niemals wieder eine Tüte konstruieren. Er war auf ewig gefangen, in einem Raum ohne Tiefe oder Dauer. Die Planeten verharrten in ihren Umlaufbahnen.
Eine Träne wollte von seiner Wange tropfen, doch sie schien im Fallen festgefroren zu sein, wie ein Standbild.
Die Straßenbahn schien auf den Schienen festgeleimt zu sein.
Die Autos bewegten sich nicht mehr...
...und kein Vogel sang.
Das Wort, das Marvin statt „Herunterfahren“ eingetippt hatte, war: Zeit.