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Tattoo

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12.04.2007
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Tattoo

Tattoo

Der Alte erstarrt, als er das Tattoo an der Dirne sieht.

Plötzlich ist er wieder der Junge von sechs oder sieben Jahren, der draußen länger gespielt hatte, als von den Eltern erlaubt. Es hieß grundsätzlich
„spätestens um sechs zum Abendbrot!“,
und es galt das noch strengere
„wenn die Laternen angehn!“,
zu Hause zu sein.

Was sollte einer wie er auch zuhause, wenn der Fernseher kaputt war und der Onkel Janos erst zum Abendbrot käme, um hernach das Gerät zu reparieren?

So hatte er mit Freunden Verstecken gespielt – einen ganzen vergnüglichen Nachmittag lang.
Es war ein gerechtes Spiel, für alle Jungen mit gleichmäßig verteiltem Erfolg.

Als die Dämmerung einsetzte, einigte sich die Rasselbande auf ein letztes Spiel für diesen Tag.

Er versteckte sich und war zunächst stolz, dass kein Spielgenosse ihn allzu schnell fände.
Als schließlich „die Laternen angingen“ und aufleuchteten, gab er den Spielkameraden einen Ton zur Hilfestellung. Und doch wurde er von niemandem gefunden!
Wenn man ihn schon nicht sah, warum hörte man ihn nicht?

Langsam dämmerte ihm, dass er sich allzu gut verborgen hätte!
Stolz wandelte sich in Sorge.
Als er endlich aus dem Versteck kam, war kein Spielkamerad mehr zu sehen und es stand zu befürchten, dass keiner nach ihm gesucht hätte.
Dem Jungen wurde mulmig.
Zum Heulen elend kam er nach Hause, wo die Eltern und Onkel Janos lange gewartet hatten und dann vor Sorge, was geschehn sein könnte, ohne ihn oder besonderen Appetit das Brot brachen.

Gerade wollten die Männer zur Suche aufbrechen, als der weinende Junge in Erwartung einer Strafe zögerlich anklopfte. Aber es erhob sich kein Donnerwetter. Nicht ein böses Wort fiel! Stattdessen fragte Onkel Janos sofort nach dem, was geschehen sei. Und der Neffe klagte über die gemeinen Spielkameraden!

Er meinte nun, Tränen in Onkels Auge zu erkennen, als der sagte: „Es ist also wahr, wenn es da heißt: Ich verberge mich, aber niemand will mich suchen!“, dass die Mama sofort anfügte: „Wie aber mag’s angehn, dass ein kleiner Wurm, der Gott und der Welt getreulich anhängt und sich der Güte nahe weiß, zunehmend Bruch und Entfernung erfährt?“

Onkel Janos wählte nun ein Bild vom Laufenlernen: „Wenn das Kindchen zu gehen lernt, stellt man es zunächst nah vor oder zwischen sich und hält es an seinen Händchen, auf dass es begreife und nicht falle. So geht das Kind auf Mama oder Papa zu und beide sind bei ihm und das Kind weiß es. Es weiß die Eltern an seiner Seite und kommt nicht ins Straucheln.

Mit der Zeit aber rückt man, egal, ob Mutter oder Vater, vom Kinde immer mehr ab und lässt es ohne zu halten immer länger laufen. Was das Kind auch will seit dem Augenblick, da es sich zum ersten Male aufgerichtet hat. Bis hin zu dem Tage, an dem das Kind ohne Halt selbständig läuft.

So lernt in der Regel ein Kind gehen durch Abstand halten und Entfernung.“

An diesem Tag war nichts mehr mit Fernsehen.
Und als der Junge - bereits im Schlafanzug - „eine gute Nacht“ wünschen wollte, hatte Onkel Janos gerade die Rückwand des Fernsehers abgeschraubt, schaute ins Innere des Gehäuses und schraubte eine durchgebrannte Röhre heraus. Weil die Ärmel aufgekrempelt waren, erblickte der Junge auf einem Arm des Onkels – direkt unterhalb des Handgelenkes – einige Ziffern, zu viele für eine Telefonnummer.

„Was bedeuten die Zahlen, Onkel Janos?“, fragte der Junge und der antwortete verschmitzt: „Als ich ein kleiner Junge war – wenn auch mehr als doppelt so alt wie du – haben Faschisten die Ziffern angebracht, damit ich nicht verlorenginge“, und heute weiß der Alte, dass Onkel Janos nie ein kleiner Junge sein durfte. In seiner Heimat tobte der Faschismus und die Familie wurde umgesiedelt nach Nirgendwo, das sich findet am Westrande der Stadt Oswiecim.

Onkel Janos war immer groß gewachsen und kräftig. Er kam in einer ehemaligen Kaserne unter und wurde an Großunternehmen vermietet. Zeitlebens fragte er sich: „Warum gerade ich?“

Vater, Mutter und Geschwister hat er nie wiedergesehen.

Im Angesicht der Lüge, dass Arbeit frei mache, hat er die Sprüche Salomo begriffen, wonach einem Menschen vergolten würde, was sein Mund geredet, und gesättigt würde er mit dem, was seine Lippen ihm einbrächten. Tod wie Leben stünden in der Macht der Zunge, wer sie aber beherrschte, würde ihre Frucht genießen.

Was aber mit verschwundenen Leuten geschähe, wusste er damals nicht. Ob sie die Selektion auf der Viehrampe auch nur um eine halbe Stunde oder einen Tag überlebt hätten, sei ungewiss. Sicher war er, dass sie ausgeschlachtet wurden und immer schloss er die Erzählung ab mit einem „Warum gerade ich nicht?“

Als der Alte selber Vater geworden und Onkel Janos ans Sterben ging, fragte der Neffe, was mit all denen sei, die dafür sorgten, dass die verbrecherischen Regimes reibungslos liefen – und der Onkel antwortete leise und behutsam, nannte den Neffen gar mit seinem hebräischen Namen: „Siehe, Shelomo, in jeder Mischpoke gibt’s solche, die Massel haben und geben und solche, die Bohai machen. Die schlimmsten aber, die über deinesgleichen Schlamassel bringen, stammen aus dem eigenen Haus. Es ist müßig, sich ihrer zu erinnern.“

 

Anfangs hab ich gestutzt,

liebe Sabine,

dass

der Anfang [m]einer Geschichte [... D]ich eingelullt
habe, was sich aber sofort legte, denn für einen Einstieg hier vor Ort ist es ein mehr als gelungener Kommentar -

und damit erst einmal herzlich willkommen hierselbst!

Dabei muss ich direkt mit einem Geständnis beginnen, da ich Irving bis heute nicht einmal in die Hand genommen habe und nicht eine Zeile von ihm kenne, was sich aller Wahrscheinlichkeit auch nicht ändern wird. Er spielt ja dann auch keine Rolle mehr im weiteren Verlauf Deiner treffenden Ausführungen.

Der Tonfall
ist bewusst gewählt, er soll ganz i. S. des ollen Brechts befremden, der ja von seinem Publikum geradezu verlangt, nicht zu glotzen, sondern zu denken, also nicht nur zu konsumieren (was man ja eh schon zwangsweise muss), sondern selbst zu produzieren.

Was den Konjunktiv betrifft, so halte ich mich i. d. R. an die Trennung indirekte Rede (I) und Konjunktiv irrealis, sofern etwa Zweifel bestehen (Konj. II). Ob ich die Regel mal durchbrochen habe werd ich gleich noch einmal nachschauen müssen und ggfs. darüber nachdenken.

Sind Geschichten über den Holocaust nötig, überflüssig, zu viel?
Du spielst nicht nur auf Deine Namensbase an, aber auch bis 1966 war bei uns im Haushalt der Völkermord kein Thema, wiewohl ich in Geschichte verdammt gut drauf war (und hoffentlich immer noch bin). Erst als ich als Lehrling Studenten begegnete, änderte sich das auch in der Familie. Immerhin ... Umgekehrt versteh ich auch meine Elterngeneration, der immerhin die Jugendzeit geraubt wurde. Umgekehrt - Marai hat's schon in ihrem Kommentar formuliert - wir dürfen nix vergessen!

Wobei diese Geschichte hier ja nicht die Lager und das Grauen direkt beschreibt, sondern sich aus einem zeitlichen und Generationenabstand herantastet.
Was auch beabsichtigt ist. Der Holocaust als Lesevergnügen dem Horrorgenre zu überlassen liegt mir eh nicht.

Ich hab mich sehr gefreut und danke Dir fürs Lesen und Kommentieren!

Gruß aus'm dauernieselnden Ruhrpott vom

Friedel,
der neugierig auf Deine nächsten Zeilen (Geschichte oder Komm) ist

 

Hallo Sabine,

ich habe mir den Text noch mal angesehen bzgl. der Konjunktive und überlegt, wie die entsprechenden Sätze/Satzteile sich durch den Indikativ verändern werden und erläutere anschließend, wobei der Einstieg notwendig länger ausfallen wird, als nachfolgende Erläuterungen, soweit sie schon vorweg mitschwingen.

Ich liste mal in der Reihenfolge innerhalb des Textes auf:

Der erste Konjunktiv taucht hier auf:

Was sollte einer wie er auch zuhause, wenn der Fernseher kaputt war und der Onkel Janos erst zum Abendbrot käme, um hernach das Gerät zu reparieren?

Hier hätte ich auch ein schlichteres Futur wählen können, denn wir dürfen annehmen, dass der Onkel Janos zuverlässig ist und auch kommt, wenn er zu kommen zugesagt hat. Umgangssprachlich ließe sich in diesem Fall das Präsens einsetzen in Verbindung eben des kommenden Zeitpunkts des Abendessens. Der Satzteil sähe nun so aus

…, wenn der Fernseher kaputt war und der Onkel Janos erst zum Abendbrot [kommen wird/ alternativ: kommt], um hernach das Gerät zu reparieren?

Nun spielt das Ganze sich aber im Kopf eines älteren Herrn ab, der schon weiß, dass an dem erzählten Tag zumindest nicht alles so ablaufen wird, wie der Indikativ es vorgaukeln will: Der Protagonist weiß ja schon, dass "damals" Unerwartetes eintreten wird, vom Schicksal des Onkels ganz abgesehn, das ja noch eine Zeitebene früher anzusetzen ist – indem die Rasselband ihn einfach sitzen lässt in seinem Versteck. Könnte also nicht auch beim Onkel Janos was dazwischenkommen vorm Abendbrot?

Der alte, wissende Protagonist weiß um die Unwägbarkeiten des Lebens (wie auch der Autor, der natürlich alles noch besser weiß als der Prot. es sich zumindest einbildet), von dem sich der junge, unerfahrene Protagonist noch kein Bild machen kann. Oder – wenn ich schon Buber missbrauche, so kann’s auch Paul Tillich sein: Prinzipiell gilt doch, dass nur das geschehen kann, was auch möglich ist ( aus dem Spannungsfeld Potentialität/Aktualität hat der/das ev. Theologe/Mitglied der Frankfurter Schule Paul Tillich eine ganze Philosophie aufgebaut, wobei der Möglichkeiten unendlich mehr bestehen als das Ereignis, das schließlich eintritt, aktuell wird).

Der nächste Konjunktiv kommt jetzt beim letzten Spiel:

Er versteckte sich und war zunächst stolz, dass kein Spielgenosse ihn allzu schnell fände.
Wer spielt, will auch gewinnen. Also hofft der junge Prot, dass er sich gut versteckt hat, die halbe Miete zum Gewinn. Aber was, wenn durch Zufall ihn ein Kamerad findet? Kann doch allemal passieren!

Dass dann keiner kommen wird, tatsächlich alle bereits gegangen sind, ist eine der unangenehmeren Möglichkeiten.

Und mit der Dämmerung dämmrt’s selbst unserm kleinen Helden

Langsam dämmerte ihm, dass er sich allzu gut verborgen hätte!
Auch hier: Zweifel bis zur Verzweiflung: was, wenn die andern ihn gar nicht mehr gesucht haben? Das wäre dann der nächste Konjunktiv
… und es stand zu befürchten, dass keiner nach ihm gesucht hätte.

Purersternenstaub hat das schön dargestellt, ich zitier
Denn: Den kleinen Jungen hat man ja aufgefordert, sich zu verstecken. Das gilt doch für Gott nicht. Der tut das doch, in der Hoffnung, man möge auf die Idee kommen, dass er irgendwo sei - und dann suchen. Das Kinderspiel jedoch, das ist, wie soll man sagen, eine Art Vertrag. Man muss eigentlich so lange suchen, bis man ihn gefunden hat. Dass die Kinder einfach nach Hause gegangen sind, das ist Vertragsbruch. Die Suche nach Gott allerdings, die verstehe ich immer anders. Und ich glaube, sie ist tatsächlich grundlegend anders gemeint. Leider habe ich Theologie nicht studiert, also hänge ich jetzt ein wenig in der Schwebe, interpretationstechnisch gesehen. [PSS # 12 vom 5.12.2012]

Nunja, dazu muss man nicht studiert haben, nicht einmal Thologie. Beherrschend ist das Vertragsrecht, ausgedrückt im bürgerlichen Recht, das selbst dem Unbedarftesten aufgenötigt wird, ob er’s begreift oder nicht, wenn man so will mit der Geburtsurkunde bis zum Totenschein und symbolisch von der Beschneidung oder Taufe an bis zum bitteren Ende, unterbrochen durch Kauf-, Arbeits- oder Dienstverträge, aber auch die Ehe, die ein uraltes Wort fürs Recht ist …

Der nächste Konjunktiv betr. indirekte Rede und sollte unproblematisch sein.
Bei der Rede des Onkel Janos freilich wird zwischen Konjunktiv irrealis und dem Indikativ der Konj. I gewählt, weil er offener endet als der Indikativ. Geschrieben steht hier

„Wenn das Kindchen zu gehen lernt, stellt man es zunächst nah vor oder zwischen sich und hält es an seinen Händchen, auf dass es begreife und nicht falle. …“
Der Konjunktiv endet im offenen, wenn auch unbetonten e, der Indikativ endet in jedem Fall mit dem harten t und symbolisierte damit einen endgültigen Abschluss:
… Händchen, auf dass es begreif[t] und nicht [fällt]. …“

Während der nächste Konj. I ein Anflug von Ironie ist
… – haben Faschisten die Ziffern angebracht, damit ich nicht verlorenginge“, …

Die letzten Abschnitte zeigen in ihrer Form Zweifel, dass die Argumente sich von nun an wiederholen würden.

Sollte ich was ausgelassen/übersehen haben, lass es mich wissen. Auch ich kann mich irren.

Gruß

Friedel

 

Hallo Friedel,

ich kämpfe gerade mit den Tücken der Zitierfunktion. Irgendwo im Getriebe sitzt ein Dämon mit diabolischem Grinsen und sammelt die Zitate innerhalb der Zitate. Meinetwegen könnte er gern von jedem eine Kopie haben, wenn er mir denn nur diejenigen ließe, die ich benötige. Solange er die nicht rausrückt, werde ich bei meiner Antwort etwas improvisieren:

Der erste Konjunktiv, den Du benennst, ist für mich nachvollziehbar, der war mir beim Lesen nur kurz aufgefallen, wurde dann aber von mir genauso eingeordnet, wie Du es hier angeführt hast. Dennoch wären beide Formen für mich hier denkbar. Der Erwachsene, der zurückblickt, blickt ja auch auf die Gedanken des Kindes zurück, das von einem bestimmten Ablauf noch unterschütterlich überzeugt ist.

Der zweite Konjunktiv war genau derjenige, der mich stutzen ließ.

Er versteckte sich und war zunächst stolz, dass kein Spielgenosse ihn allzu schnell fände.
(Einzeln rückt der Dämon seine Beute anscheinend raus.) Wie kann der Junge stolz auf etwas sein, das noch nicht eingetreten ist, dessen Eintritt gar in Frage steht. Stolz kann er sein, dass er noch nicht gefunden wurde, dass die anderen so viel Zeit benötigen, aber stolz auf etwas, das in Frage steht? Wenn Du den Konjunktiv an dieser Stelle behalten willst, könntest Du vielleicht ein andere Formulierung in Betracht ziehen.

Langsam dämmerte ihm, dass er sich allzu gut verborgen hätte!
Hier schwanke ich. Das Verbergen geschah in der Vergangenheit, der Konjunktiv bezieht sich auf die Befürchtung, dass er nicht entdeckt wird, er ist korrekt, lässt mich aber dennoch innehalten, weil der Junge sich tatsächlich zu gut verborgen hat und der erwachsene Erzähler dies auch weiß. Allerdings weiß der Erzähler auch, wie die Gedanken des Knaben damals hin und her sprangen, von dem Wunsch, möglichst spät entdeckt zu werden, zu der Angst, gar nicht gefunden und damit ausgegrenzt und verlassen zu werden. Insofern hat auch dieser Konjunktiv seine Berechtigung.

Die letzten Beispiele, die Du zitiert hast, sind für mich stimmig, da gab es auch beim ersten Lesen keine Schwierigkeit. Es bleibt der eine Konjunktiv, der mich in Verbindung mit dem Stolz misstrauisch gegen die nächsten gestimmt hat. Mag sein, dass das nur ein Gedankenknoten meinerseits ist.

LG
Sabine

 

Hallo ihr beide,

je länger ich darüber nachdenke über die beiden Sätze, umso schwankender wird der Boden, dass ich Eure Argumente mit nach Hause nehmen werde und ein Ründchen darüber schlafen werde. Aber vorweg schon einmal Dank an

Dich, Sabine,
und danke Dir,
lieber Uwe!

 

Hallo Sabine,
grüß Dich Uwe,

ihr zeigt beide Probleme zu zwei gleichen Sätzen im Konjunktiv an, in der Reihenfolge der Geschichte zunächst

Er versteckte sich und war zunächst stolz, dass kein Spielgenosse ihn allzu schnell fände.*
und dann
Langsam dämmerte ihm, dass er sich allzu gut verborgen hätte!**

Zäumen wir das Pferd von hinten auf, da es dort eine einheitliche Meinung auf (**):

Sabine schwankt zunächst und entscheidet sich:

Hier schwanke ich. Das Verbergen geschah in der Vergangenheit, der Konjunktiv bezieht sich auf die Befürchtung, dass er nicht entdeckt wird, er ist korrekt, lässt mich aber dennoch innehalten, weil der Junge sich tatsächlich zu gut verborgen hat und der erwachsene Erzähler dies auch weiß. Allerdings weiß der Erzähler auch, wie die Gedanken des Knaben damals hin und her sprangen, von dem Wunsch, möglichst spät entdeckt zu werden, zu der Angst, gar nicht gefunden und damit ausgegrenzt und verlassen zu werden. Insofern hat auch dieser Konjunktiv seine Berechtigung.

Uwe hält dagegen und ist sich dann sicher
Als ihm dämmerte, … Welche Zeit ist das? Die Zeit nach dem Verbergen, also muss der Satz richtig lauten:
Langsam dämmerte ihm, dass er sich gut verborgen hatte!
Für Uwe gilt allein der indicativus, der zur Aussage/Anzeige geeignete Modus, der behauptet, die Wirklichkeit – man hört aus dem Indikativ das Diktat heraus: so und nicht anders ist/war es!

Sabine klärt auf über die Zeit, die Uwe verwirrt, denn schon das Verb dämmern ist alles andere als eindeutig (jeden Tag schon vom ersten Licht vor der Morgenröte bis hin zur Tageshelle und umgekehrt wenn es wieder dunkel wird bis zum spärlichsten Licht nach dem letzten Abendrot hinein ins Dunkel) und im Modus kann dergleichen geschehn, denn der wird üblicherweise vom Präteritum abgeleitet, im Falle der identischen Form (dämmerte ind. + konj.) zöge die würde- als Hilfskonstruktion, dem Jungen „würde“ langsam dämmern/einleuchten, ein Prozess vom bloßen Verdacht hin zur (keineswegs eindeutigen) Gewissheit, denn der Junge weiß so wenig wie wir, aus welchem Grund auch immer daran gelegen hat, dass die Spielkameraden die Suche aufgaben (vllt galten die gleichen Regeln für die, nach Hause zu gehen, wie für unsern Helden), woraus sich der Konj. II des Nebensatzes ergibt: Niemand weiß, ob er sich allzu gut versteckt hat oder ob das Spiel aus zeitlichen oder sonstigen Gründen abgebrochen, der kleine Held alleingelassen wurde.
Wir deuten den Konjunktiv allein als Möglichkeitsform im Gegensatz zur Wirklichkeitsform (Indikativ). Der coniunctivus bedeutet aber mehr, er ist der einer (Satz-)verbindung dienliche Modus. Uwe will Sicherheit, die es nicht gibt, wenn der Alte sich an seine kindliche Gedanken erinnert. Es kann da keine Authentität geben wie vorm Gericht, wenn der der Richter Eindeutigkeit aus „ist oder kann“ verlangt, wenn ein Zeuge vorsichtig formuliert, dass etwas so gewesen sein kann ...

Sabine schreibt:

(…) Wie kann der Junge stolz auf etwas sein, das noch nicht eingetreten ist, dessen Eintritt gar in Frage steht. Stolz kann er sein, dass er noch nicht gefunden wurde, dass die anderen so viel Zeit benötigen, aber stolz auf etwas, das in Frage steht? Wenn Du den Konjunktiv an dieser Stelle behalten willst, könntest Du vielleicht ein andere Formulierung in Betracht ziehen.
Uwe, der wieder Eindeutigkeit verlangt, meint
Auch dieser Satz macht keinen Sinn. Er versteckt sich und dann ist er stolz, worauf? Natürlich darauf, dass ihn bis jetzt noch keiner gefunden hat. Ob sie überhaupt gesucht haben, ob sie von einem Unbekannten festgehalten wurden und nicht suchen konnten, ob sie sich vor Angst in die Hosen geschissen hatten und mit der Reinigung beschäftigt waren, kann er nicht wissen, dass Einzige, was er weiß ist, dass sie ihn noch nicht gefunden hatten und auch nicht allzu schnell finden würden, weil er sich ja gut versteckt hatte, worauf er stolz war und nicht wäre.
Ich betrachte das nicht als "Umgangssprache", sondern als "normale Sprache".
Aber was ist schon normal? Genau: Die Umgangssprache ist der Regel- und somit Normalfall, die auch versucht, das Adjektiv stolz in den Griff zu bekommen – und auf was man heute alles stolz ist! Dabei bedeutet es nichts weiteres als im ahd. hochmütig, im mhd. immer noch hochgemut, aber auch schon prächtig und stattlich. Die Etymologie geht sogar so weit, durch Ablautung eine Verwandtschaft zur Stelze herzustellen, das es ursprünglich „steif aufgerichtet“ bedeutete (Duden Bd. 7, S. 816 f., hier S. 817), das sind die, die wie ein eins stehen: stocksteif.

Der Satz könnte dann auch lauten

Er versteckte sich und war zunächst [hochgemut], dass kein Spielgenosse ihn allzu schnell fände.

Bekanntlich kommt Hochmut vor dem Fall …

Aus den Erfahrungen mit Schlimmverbesserungen (wie's hierzulande heißt) die Frage, Was ihr davon haltet?

Dank Euch nochmals und ein schönes Wochenende wünscht der

Friedel

 

Hallo Friedel,

kurz, weil es schon spät ist und Konjunktivitis eher die Dämmerung liebt:

Hochgemut käme mir entgegen, wobei ich zu bedenken gebe, dass allein dieses Wort bereits manchen Leser verschrecken mag. Der Junge könnte auch guten Mutes oder voll Hoffnung sein, oder einfach hoffen, was allgemeinverständlich häufig zu unvermeidlichen Enttäuschungen führt.

LG
Sabine

 

Hallo Sabine,

schön, dass Du so schnell geantwortet hast - und noch schönes, dass Du noch nicht in ein Konjunktief gefallen ist. Aber dass ein scheues Reh wie ich Leser verschrecken könnte ...

Spaß beiseite: Dein Abwägen gefällt mir und ich denke, dass ich eine kleine Änderung vornehmen werde - welche weiß ich aber noch nicht.

Bis dahin ein gutes Wochenende

Friedel

 

Hallo Friedel,

Diese Geschichte habe ich mehrfach gelesen. Immer mit einer Pause dazwischen. Der erste Satz

Der Alte erstarrt, als er das Tattoo an der Dirne sieht.

hat mich verleitet, den Alten als einen Besucher des Straßenstrich zu sehen. Warum auch immer. Warum musste es das Tattoo einer Straßendirne sein?

Ist die Trägerin durch ihr Tattoo so stigmatisiert wie ein Verfolgter? HMM ...

Ich konnte relativ schnell den Bogen spannen zu den Tätowierungen der NS Verfolgten. Beruflich habe ich BEG Akten durchlesen müssen. Daher habe ich vielleicht ein Hintergrundwissen, infolge dessen ich sehr nüchtern die Verfolgungsgeschichten betrachte. Als junger Mensch dagegen, habe ich mich sehr echauffiert, wie man dieses Unrecht zulassen konnte, war auch nicht gerade sparsam mit meiner Kritik, insbesondere da meine Eltern das dritte Reich und seine Verbrechen von sich aus nie thematisiert hätten. Heute frage ich mich immer öfter, ob es möglich sein kann, dass sich das Unrecht wiederholt? Daher denke ich, dass es gut ist, wenn diese Geschichte geschrieben wird.

Besonders gut hat mir gefallen, dass diese Geschichte nicht anklagt.
LG, GD

 

Hallo GD,

Beruflich habe ich BEG Akten durchlesen müssen,
hoppela, da wirstu manches über die unterschiedlichsten Schicksale erfahren haben, was dann auch den schnellen Übergang zum Kern der Geschichte bewirkte. Mit der Elterngeneration haben wir, wenn schon nicht gleiche, so doch ähnliche Erfahrungen. Gleichwohl schwelgte mein alter Herr in seiner Jugendzeit, dafür fand ich nachträglich einiges Verständnis, ist sie ihm ja buchstäblich geklaut worden.
Meine Mutter ging übrigens bei Gewitter in den Keller ...

Du fragst,

Ist die Trägerin durch ihr Tattoo so stigmatisiert wie ein Verfolgter?
und antwortest bedeutungsschwanger
HMM ...
. Aber Dirne bedeutet auch schlicht Mädchen und das Dirndl soll ja nicht nur Sternreporterinnen gut stehen. Aber Tätowierungen als modischer Schmuck stigmatisiert sicherlich niemanden, wie überhaupt kein Mensch stigmatisiert werden sollte, die Natur kann das viel besser.

Heute frage ich mich immer öfter, ob es möglich sein kann, dass sich das Unrecht wiederholt?
Ich fürchte, es wird keineswegs unmöglich sein ..
.Daher denke ich, dass es gut ist, wenn diese Geschichte geschrieben wird.
Was hiermit versucht worden ist ...
Besonders gut hat mir gefallen, dass diese Geschichte nicht anklagt.
So bin ich halt, aber Onkel Janos hat's mir leicht gemacht.

Dank Dir,

liebe GD,

und vllt. kann ich zum im folgenden angesprochenen sprachlichen Problem auf Dich rechnen.

Hallo Sabine,

Du wägst die Bedeutungsvielfalt von „stolz“ ab

Hochgemut käme mir entgegen, wobei ich zu bedenken gebe, dass allein dieses Wort bereits manchen Leser verschrecken mag. Der Junge könnte auch guten Mutes oder voll Hoffnung sein, oder einfach hoffen, was allgemeinverständlich häufig zu unvermeidlichen Enttäuschungen führt.

Die Varianten zum Ausgangssatz
Er versteckte sich und war zunächst stolz, dass kein Spielgenosse ihn allzu schnell fände.
wären somit wie schon vorgeschlagen
Er versteckte sich und war zunächst [hochgemut], dass kein Spielgenosse ihn allzu schnell fände,
dem sich nun ein
Er versteckte sich und [hoffte] zunächst, dass kein Spielgenosse ihn allzu schnell fände,
zugesellt.

Wenn Du aber schreibst

Der Junge könnte auch guten Mutes oder voll Hoffnung sein, oder einfach hoffen, was allgemeinverständlich häufig zu unvermeidlichen Enttäuschungen führt,
dann ist das die Zerreißprobe zwischen der Hoffnung, die man nie aufgeben soll und die doch zuletzt stirbt, was zwangsläufig zur Enttäuschung führe.
Enttäuschung zeigt an, dass man die Selbsttäuschung, der man bis gerade noch anhing, ablegt.
„Hoffen/Hoffnung“ hat auf jeden Fall was für sich.

Aber jetzt ist mir Kurioses bei der Arbeit auf einer andern Baustelle, der manches Not täte, aber treffende Variation in der schon genannten etymologischen Nähe zur Stelze aufgegangen: das Adjektiv stolz liegt nahe beim Verb stolzieren und somit stolpern / fallen, den Themen dieser kleinen Geschichte.

Das Problem, wie Du schon angedeutet hast, liegt da im Leser, der ja nicht wie wir mit den Worten ringt, sondern allein eines vorgesetzt bekommt.

Wat nu’?, fragt der Niederrheinländer den geneigten Leser und bedankt sich schon einmal!

Gruß

Friedel

 

Dank Dir fürs Votum,

liebe GD,

warten wir noch Sabine ab, die ja eigentlich erst die Problematik aufleuchten ließ ....

Bis gleich,

Friedel

 

Lieber Friedel,

so viel, fast alles ist schon gesagt. Und jetzt komme auch ich noch.
Diese Geschichte gefällt mir und sie geht unter die Haut, weil es dir gelungen ist, mich scheinbar leichtfüssig über ungemein schwere Wege, und ohne Entsetzen durch eine entsetzliche Zeit gehen zu lassen. Hut ab!
Gerade in der heutigen Zeit, wo einige nichts mehr davon hören wollen und andere sich bereits wieder daran aufzugeilen beginnen, wo es doch einmal hiess: Nie wieder! Ich fürchte mich bis in die Zehenspitzen vor Menschen, die die Liebe hochhalten und den Hass nicht sehen wollen…

Kernpunkt war für mich das Kinderspiel. Das ist schon sehr grausam für ein Kind, im Versteck vergessen zu werden. Und später ist es dann ebenso grausam zu erfahren, dass alle tot sind und nur ‚ich‘ überleben durfte. Wie soll man das (und wen) je hinterfragen, wie dazu je eine Antwort finden?

Nochmal: diese Geschichte ist dir gelungen. Vor allem der Anfang als Auslöser der Erinnerung. Noch eben denkt man mit dem Alten und schon ist man drin im Weltgeschehen. Aus Spiel wird Ernst. Schauerlich, was dir da mit wenigen Worten gelungen ist.

Lieben Gruss,
Gisanne

 

so viel, fast alles ist schon gesagt. Und jetzt komme auch ich noch
, aber Du musst Dich nicht entschuldigung, es ist mir immer eine Freude, von Dear "heimgesucht" zu werden,

liebe Gisanne,

es ist fein, Dich hier einmal wieder "zu hören" und "zu sehen", noch dazu, wenn es heißt

Diese Geschichte gefällt mir und sie geht unter die Haut, weil es dir gelungen ist, mich scheinbar leichtfüssig über ungemein schwere Wege, und ohne Entsetzen durch eine entsetzliche Zeit gehen zu lassen.
Hut ab!, vor Deinen Worten (obwohl doch jeder weiß, dass ich erst dann eine Pudelmütze und Handschuhe trage, wenn die Ohren abzufallen drohen und die Schelle am Fahrrad durch die Kälteeinwirkung nicht mehr bedient werden kann. Wofür hätt ich denn sonst den Haarschopf (der übrigens vor Weihnachten mitsamt Bart gestutzt wurde, wollt ich doch partout nicht den Weihnachtsmann geben). Konsequent müsst' ich Deinen Kommentar vollständig zitieren, aber ich hoff', er wird auch ohne Wiederholung gelesen.

Gruß und Dank vom

Friedel,
und natürlich ein schönes Wochenende!

 

Vor fünfzig Jahren begann heute auf den Tag genau in Ffm. der Auschwitzprozess. Aus dieser Anregung heraus hab ich den Schluss geändert, besser: erweitert.

Mir erscheints wie eine notwendige Variante. Ob der Text eine Verbesserung erfährt müssen andere entscheiden.

Gruß

Friedel

 

Lieber Friedel,

zunächst und vor allem: hat mir gut gefallen, dein Blitzlicht auf Vergangenes und längst Vergangenes (das gegenwärtig bleibt).
Obwohl ich in diese Geschichte aufgrund einer falschen Fährte gestolpert bin. Denn einer meiner Abkömmlinge will sich unbedingt eines stechen lassen und die Diskussionen hierüber füllen inzwischen
Bände, was sag ich, Waschkörbe!

Aber die Bedeutung hier bei dir haut rein und führt zu Wesentlicherem.

Wobei, zuvor haute es mich auch raus, die philosophierenden und pädagogisch geschulten Erwachsenen machten es mir zunächst ein bissel schwer, dabei zu bleiben:

"Er meinte nun Tränen in Onkels Auge zu erkennen, als der sagte: „Es ist also wahr, wenn es da heißt: Ich verberge mich, aber niemand will mich suchen!“, dass die Mama sofort anfügte: „Wie aber mag’s angehn, dass ein kleiner Wurm, der Gott und der Welt getreulich anhängt und sich der Güte nahe weiß, zunehmend Bruch und Entfernung erfährt?“

Onkel Janos wählte nun ein Bild vom Laufenlernen: „Wenn das Kindchen zu gehen lernt, stellt man es zunächst nah vor oder zwischen sich und hält es an seinen Händchen, auf dass es begreife und nicht falle. So geht das Kind auf Mama oder Papa zu und beide sind bei ihm und das Kind weiß es. Es weiß die Eltern an seiner Seite und kommt nicht ins Straucheln.

Mit der Zeit aber rückt man, egal, ob Mutter oder Vater, vom Kinde immer mehr ab und lässt es ohne zu halten immer länger laufen. Was das Kind auch will seit dem Augenblick, da es sich zum ersten Male aufgerichtet hat. Bis hin zu dem Tage, an dem das Kind ohne Halt selbständig läuft.

So lernt in der Regel ein Kind gehen durch Abstand halten und Entfernung.“

Das ist alles richtig und wahr, auf Abstand gebracht hat es mich dennoch.

Aber dann gleich wieder:

"An diesem Tag war nichts mehr mit Fernsehen.
Und als der Junge - bereits im Schlafanzug - „eine gute Nacht“ wünschen wollte, hatte Onkel Janos gerade die Rückwand des Fernsehers abgeschraubt, schaute ins Innere des Gehäuses und schraubte eine durchgebrannte Röhre heraus. Weil die Ärmel aufgekrempelt waren, erblickte der Junge auf einem Arm des Onkels – direkt unterhalb des Handgelenkes – einige Ziffern, zu viele für eine Telefonnummer.

„Was bedeuten die Zahlen, Onkel Janos?“, fragte der Junge und der antwortete verschmitzt: „Als ich ein kleiner Junge war – wenn auch mehr als doppelt so alt wie du – haben Faschisten die Ziffern angebracht, damit ich nicht verlorenginge“, und heute weiß der Alte, dass Onkel Janos nie ein kleiner Junge sein durfte. In seiner Heimat tobte der Faschismus und die Familie wurde umgesiedelt nach Nirgendwo, das sich findet am Westrande der Stadt Oswiecim. "

Das ist, wie drücke ich das am besten aus, groß! Ehrlich, bestens gelungen! Alles drin, um mich zurückzuholen.
Bis fast zum Ende, das ich dann leider nicht ganz verstehe.

"Die schlimmsten aber, die über deinesgleichen Schlamassel bringen, stammen aus dem eigenen Haus. Es ist müßig, sich ihrer zu erinnern."

Wen meint er, der Onkel? Hier wird doch nicht Schuld verschoben zu denen, die vor allem und zuerst Opfer waren? Bin auf die Lösung gespannt und wünsche dir einen sonnigen Tag!

Viele Grüße,

EVa

 

zunächst und vor allem: hat mir gut gefallen, dein Blitzlicht auf Vergangenes und längst Vergangenes (das gegenwärtig bleibt).
So soll es auch sein,

liebe Eva.

Ja, ich denk schon, dass viele erst auf einer falschen Fährte sind, dass T.s auch anderes bedeuten als sich einer Mode zu unterwerfen. Denkwürdig auch, weil T.s ursprünglich auch religiöse Bedeutung hatten.

Wobei, zuvor haute es mich auch raus, die philosophierenden und pädagogisch geschulten Erwachsenen machten es mir zunächst ein bissel schwer, dabei zu bleiben:
Ja, manchmal überkömmt's mich. Ich hatte damals Martin Buber gelesen und prompt setzte er sich in meinem Schädel durch. Du musst mal seine Bibelübersetzung lesen. Poesie pur!

Aber schön, dass es Dich dennoch - trotz aller Klippen - gefallen hat!

Das ist, wie drücke ich das am besten aus, groß! Ehrlich, bestens gelungen!

Was Deine Frage
Wen meint er, der Onkel?
zu dem Zitat
"Die schlimmsten aber, die über deinesgleichen Schlamassel bringen, stammen aus dem eigenen Haus. Es ist müßig, sich ihrer zu erinnern."
wird Schuld nicht verschoben. Der Onkel warnt. Wenn sie nicht Zionisten waren fühlten sich die meisten Juden wie Protestanten und Katholiken als Deutsche, halt mit einer anderen Religion, die einem großen Teil der Deutschen fremd vorkam (wir reden vom 20. Jah.!) und gefährlich. Religion als Stigma. In Ansätzen geschieht heute ähnliches in Ungarn, dass man eigentlich erstaunen müsste, dass die EU im Prinzip tatenlos zuschaut. Im Prinzip ließe sich das auch im Gelobten Land aufzeigen.

Der Sündenbock ist übrigens alttestamentarischen Ursprungs.

Meine Frage ist nun: Kommstu mit den jiddischen Ausdrücken zurecht - von Masel, Schlamassel, Bohai?

Dank Dir fürs Lesen und Kommentieren!

Gruß

Friedel

 

Lieber Friedel, gibts ja gar nicht!

Bubers (+ Rosenzweigs) Übertragungen der hebräischen Bibel stehen bei mir im Regal, so seit dreißig Jahren, und waren echt verflixt teuer damals (für eine arme Studentin).
Ja, und sie sind reinste Poesie, hab' ihre Anschaffung nie bereut!
Tja, und der gute alte Sündenbock, wird doch bis heute - vielleicht weniger religiös überhöht - in die Wildnis gejagt.
Doch, doch, die jiddischen Ausdrücke sind mir geläufig - so ganz ausradieren konnten die dunklen Jahre sie schließlich nicht.
Freut mich enorm, dich hier zu treffen! Gibt's ja nicht soo häufig, Menschen, die einerseits Ideen der 68er bewahren und sich andererseits für die biblischen (und vielleicht auch andere religiöse?) Überlieferungen interessieren. Aber schließlich hat selbst Brecht auf die Frage nach seiner Lieblingslektüre geantwortet: "Sie werden lachen, die Bibel!"

Beste Grüße,

Eva

 

Doch, doch, die jiddischen Ausdrücke sind mir geläufig - so ganz ausradieren konnten die dunklen Jahre sie schließlich nicht.

Das ist gut,

liebe Eva,

da ich gerade in den Blättern für deutsche und internationale Politik einen Aufsatz über den Holocaust, insbesondere die "willigen Helfer" nicht nur auf deutscher Seite gelesen hab, kann ich ein bissken anders als gestern antworten, zu dem Geheimnis des letzten Absatzes. Tatsächlich ist die latente Gewaltbereitschaft ja kein deutsches Phänomen. Hier noch mal der Absatz mit der geheimnisvollen Rede

Als der Alte selber Vater geworden und Onkel Janos ans Sterben ging, fragte der Neffe, was mit all denen sei, die dafür sorgten, dass die verbrecherischen Regimes reibungslos liefen – und der Onkel antwortete leise und behutsam, nannte den Neffen gar mit seinem hebräischen Namen: „Siehe, Shelomo, in jeder Mischpoke gibt’s solche, die Massel haben und geben und solche, die Bohai machen. Die schlimmsten aber, die über deinesgleichen Schlamassel bringen, stammen aus dem eigenen Haus. Es ist müßig, sich ihrer zu erinnern.“

„Regimes“ deshalb, weil es nicht nur ein totalitäres System gab und gibt. Die Demokraturen und die marktkonforme Demokratie tendieren schließlich dahin mit der Macht der Konzerne, die ja eigentlich das Sagen haben.

Seit Goldhagens unglücklichen „willigen Vollstreckern“ (die es sicherlich auch unter Stalin und den heutigen Demokraturen gibt) ist die Soziologie viel weiter, obwohl in seinem Wälzer auch Wahrheit/en zu finden ist/sind.

Negative Seiten hat jeder, der Ausdruck Familienbande hat den Beigeschmack der Wahrheit, wenn’s darinnen kracht oder einer dominiert. Denk an die Mafia, die sich in Familien organisiert.

Aber auch an Spitzel innerhalb der eigenen Familie, da bedarf es keines besonderen Talentes oder einer Ausbildung, jeder hat das Talent, obwohl nicht jeder es nutzt (was ja mal positiv zu werten ist).

Familien zerbrechen wie Freundschaften - aus welchen Gründen auch immer, dass bei einer lockereren Kameradschaft (das sind buchstäblich die, die eine Kammer – frz. nur mit einem m – sich teilen) es nur scheinbar einfacher wird mit dem Bohai. In jeder K. & F. gibt’s das Kameradenschwein, den Prügelknaben und Sündenbock.

Aber da haben wir schon das entscheidende Element: Gruppen von Menschen, die organisiert auftreten. Der heute vorherrschende Typ des außengeleiteten Menschen (ein Begriff aus David Rieman’s The Lonesome Crowd von 1950) passt sich dem mainstream an, schwimmt in der Masse. Das Gegenpaar in dem Modell Riesman bilden der traditions- und der innengeleitete Mensch, die wie Fremdkörper in der Massengesellschaft wirken können, nicht müssen.

Zwangsorganisationen wie Lager, Reservat, KZ rekrutieren ihr Personal aus willigen Gefangenen – und die wird man immer finden.

Organisationen brauchen heute gar nicht mal mehr mit fester Hierarchie auftreten. Denk an flashmobs, die so was wie Lynchjustiz, Revolten, gar Kriege erzeugen können …

Keine schönen Aussichten für die vernetzte Welt!

Und auch in den vorherigen Kommentaren ist - nachdem ich nochmals durchgeschaut habe - schon einiges gesagt.

Genug für heute, meint der

Friedel,
der vorsichtshalber schon mal ein schönes Wochenende wünscht!

 

Weißt Du wie viel Sternlein stehen
an dem blauen Himmelszelt?
Weißt Du wie viel Wolken gehen
weithin über alle Welt?
Gott der Herr hat sie gezählet,
dass ihm auch nicht eines fehlet
an der ganzen großen Zahl,
an der ganzen großen Zahl.​

Hallo Friedrichard,

ein wunderbare Geschichte übers Festhalten und Loslassen, sich Verstecken und Gefundenwerden. Wie schön, dass maria.meerhaba sie ausgebuddelt hat (und da kann ich sie ruhig für einen Satz loben, der sich schon in der Vorlage fand).

Ich musste an das obige Kinderlied denken, in dessen dritter Strophe es dann um die Menschenkinder geht. Ein Lied, von dem ich erst später, als Erwachsene erfahren habe, dass es im Gesangbuch steht und warum wohl.

Der Alte erstarrt, als er das Tattoo an der Dirne sieht.

Huh, mit dem Titel, mit dem ersten Satz hättest du mich beinahe abgeschreckt. Bin kein Fan von Tattoos, obwohl die Kulturgeschichte des Tattoos, wie ich gerade gesehen habe, endlos lang ist und sogar die (in Bozen weilende) Gletschermumie Ötzi schon Tattoos aufwies.

Vater, Mutter und Geschwister hat er nie wiedergesehen.

heißt es über Onkel Janos. Hm, also ist er ein Patenonkel, der mit dem Jungen ('Neffen') gar nicht verwandt ist?

Deine Erzählsprache gefällt mir ausnehmend gut. Sanft, weise und schlicht, etwa hier:

Langsam dämmerte ihm, dass er sich allzu gut verborgen hätte!
Stolz wandelte sich in Sorge.

Und ich gestehe, es mag durchaus sein, dass das auch an dem einen oder anderen deiner Konjunktive liege - beinahe hätte ich 'liegt' geschrieben, für die ich nicht immer eine Erklärung wüsste; wie bin ich bisher nur so indikatief durchs Leben gekommen, frag ich mich da? (Und als ob ich deine Empfehlung nicht schon vorausgeahnt hätte, als ich Papiertiger den Gezeitenwechsel ans Herz legte ...)

Die allerletzten Flusen noch:

So hatte er mit Freunden Verstecken gespielt – einen ganzen vergnüglicher Nachmittag lang.

Ob sie die Selektion auf der Viehrampe auch nur um eine halbe Stunde oder einen Tag überlebt hätten, [] sei ungewiss.

Das habe ich wirklich sehr gerne gelesen. Danke!

LG, Anne

 

Hallo Anne49,

schön, dass Du den Schreck am Anfang überwinden konntest und das nu' ma' so vorweg, ich halt auch nix von Tattoos und manchmal bin ich mir sicher, dass die also sich vermeintlich schmückenden nicht wissen, was sie tun und vor allem ist es ein Frevel gegen Papua und andere indigene Völker, denen Tattoos mehr als eine lebenslange Zierde ist.

Vater, Mutter und Geschwister hat er nie wiedergesehen.
heißt es über Onkel Janos. Hm, also ist er ein Patenonkel, der mit dem Jungen ('Neffen') gar nicht verwandt ist?
Hm, da müsst ich mir mal den Stammbaum ansehen ... oder im Familienstammbuch (weiß gar nicht, ob ich das finden werde ... Diese Tohuwabuhu am Anfang aller Geschichte ... Peinlich, peinlich, so lange her und noch nicht einmal aufgeräumt ...). Aber vielleicht ist es ja so, dass der Alte in jungen Jahren jeden mit "Onkel" (wobei die "Tante" nicht ausgeschlossen werden darf) bezeichnete, dem (oder der) er vertraute ... also etwa "sach ma' Tante Anne neunundvierzig ... warum führstu die Zahl im Namen?" Die Schuhgröße wird es doch nicht sein ...

Das mit den letzten Flusen entwickelt sich aber ausgesprochen kurios (Einsatzgeschichte hat immerhin zehn Jahre gebraucht ...) Ich schau da sofort nach ...

Das habe ich wirklich sehr gerne gelesen. Danke!
Trotz aller Skepsis von drei Adjektiefen -

Da bad ich ja wieder in Milch und Honig ...

Danke,

liebe Anne,

und vorsorglich ein schönes Wochenende vom

Friedel

 

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