Tatwerkzeug
Das Schloss der Zellentür verschwindet unter den dunkelbraunen Pranken des fettleibigen Wärters. Während er daran hantiert, wendet sein spindeldürrer Kollege seine knorpelige Hakennase zu dem schmächtigen, jungen Mann mit den unordentlichen, blonden Haaren und dem zerknitterten, blauen Anzug.
„Sind Sie neu im Geschäft, Mr Seed?“ Seine Stimme enthält ein Quietschen wie von rostigen Sprungfedern.
Der bleiche, junge Mann krallt seine Finger tiefer in das Kunstleder seiner Aktenmappe. „Hm, ja. Das ist mein erster Fall als Pflichtverteidiger.“
„Ach ja?“ Der Fleischberg sieht nicht von seinen Händen auf. „Und Ihr wievielter Fall insgesamt?“
Der junge Rechtsanwalt schaut auf die Spitzen seiner abgeschabten Lederschuhe hinab. „Ah, mein dritter.“
Der fette Wärter lacht auf. Es klingt als würde eine Gulaschkanone überkochen. „Hast du das gehört, Joe? Sein dritter! Da sieht es für unseren Bewohner hier aber nicht gut aus.“
Joe stößt Luft durch seinen Mund aus. Das Zischen eines Dampfkochtopfs überlagert die brodelnde Gulaschkanone. „Na und? Weißt du Bert, irgendwann müssen die jungen Hüpfer es doch lernen.“
Joe zieht die Lippen weit über seine Zahnwurzeln zurück und krümmt sich. Sein Zischen und Fauchen hören sich an als würden in seinem Lungenapparat Nähte aufreißen. Der junge Anwalt lässt seinen Blick an der Kante des Betonbodens entlang den endlosen Gang des Untersuchungsgefängnisses hinunter wandern.
Unter Berts Händen schnappen Bolzen in der Verriegelung. „Holla, jetzt geht‘s los.“ Seine Stimme klingt immer noch dickflüssig wie Bratensoße.
Bert drückt sein Gesicht kurz gegen den Spion. Dann zieht er die schwere Stahltür einen Spalt breit auf. Joes langfingrige Hände schließen sich wie hungrige Krebse um die Schultern des zögernden, jungen Mannes und schieben ihn hinein. Bert drückt die Tür hinter ihm zu als wäre sie die Schleuse zu einer Quarantänekammer.
„Hallo, Mr Hyde. Mein Name ist Seed, Marvin Seed. Ich wurde Ihnen als Pflichtverteidiger zugeteilt, weil Sie sich keinen eigenen Anwalt nehmen wollten.“
Er sieht anders aus als auf dem Aktenfoto. Sicher, das dichte, kurzgeschnittene Kraushaar mit den immensen Koteletten sitzt unverändert wie eine Haube auf seinem Schädel. Zusammen mit den buschigen Augenbrauen, der langen Nase und den fleischigen Lippen lässt es ihn immer noch wirken wie einen ägyptischen Tempelpriester. Aber hier ist etwas in seinen Augen, das herausschaut hinter den leopardengesprenkelten Kreisen um seine Pupillen, mit der Gefräßigkeit einer vorzeitlichen Gottheit selbst.
Ich strecke ihm eine Hand entgegen. Er steht von seinem Blechstuhl hinter dem zerkratzten Metalltisch auf. Beide sind am Boden festgeschraubt. Die graue, unförmige Sträflingskleidung verbirgt die Einzelheiten seines Körpers, Muskulatur und Knochenbau. Er zupft an seinen Ärmeln als wären es Manschetten von Seidenhemden. Die Neonröhren in ihren Grüften hinter bruchsicheren Scheiben tauchen den schmutzig weiß gestrichenen, fensterlosen Raum in ein totes Licht. Aber das Brennen in seinen Augen können sie nicht ertränken.
„Sehr erfreut, Marvin. Sagen Sie einfach Jason zu mir. Wir werden sehen, ob Sie mir helfen können.“
Er nimmt meine Hand zwischen seine beiden, drückt sie bis zum Gelenk hinauf. Dabei macht er nicht den Eindruck, panisch einen rettenden Strohhalm zu umklammern. Aber auch nicht den, ein einstudiertes, geheucheltes Ritual auszuführen.
„Und ich darf Sie doch Marvin nennen, oder?“
Er scheint sich wirklich über die Abwechslung zu freuen, hier in diesem dusteren Loch, und möchte sich gerne mit mir unterhalten. Immerhin ist er Psychiater. Da kennt er sich bestimmt gut aus mit solchen vertrauensbildenden Gesten.
„Natürlich können Sie mich Marvin nennen, Jason.“
Ich ziehe meine Hand zwischen seinen heraus und setze mich auf das Blechgestell auf meiner Seite des Tisches. Die Aktentasche lehne ich gegen ein hinteres Stuhlbein. Er lässt sich auf der anderen Seite der Metallplatte nieder und sieht mich erwartungsvoll an. Ich lege meine Hände vor mir auf die kalte Tischplatte und schaue noch einen Moment in diese sonderbaren Augen bevor ich beginne.
„Ich möchte mit Ihnen Ihre Verteidigung besprechen. Nächste Woche ist ja schon die erste Anhörung.“
Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, faltet die Hände vor seinem Magen. „Welche Verteidigung? Ich habe kein Verbrechen begangen.“
„Davon müssen wir das Gericht überzeugen. Die Anklage lautet auf vorsätzlichen Mord an Ihrer Patientin, Miss Linda Brennan.“
Jetzt lächelt er. „Vorsätzlicher Mord? Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten und zu Tisch gesetzt, um ein Pfirsich-Sorbet zu verspeisen. Eine sehr angenehme Art zu sterben.“
Unwillkürlich drücke ich mich weiter in meinen Stuhl, bringe mehr Abstand zwischen mich und ihn. „Miss Brennans Neffe, Henry Carter, ist da anderer Ansicht. Er behauptet, Sie hätten die alte Dame zu alldem gebracht.“
Er legt den Kopf schief. „Was ist mit Ihnen, Marvin? Bedrückt Sie etwas? Sie sehen übernächtigt aus.“
Ich muss lächeln. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zuletzt vier Stunden am Stück geschlafen habe. „Ich kenne niemanden, der mit einem zwölf Wochen alten Kind in der Wohnung nicht übernächtigt wäre. Aber um auf Mr Carter und seine Anschuldigung zurückzukommen -“
Er schnaubt und winkt ab. „Der gute Henry. Taucht pünktlich zum Ableben seiner Tante aus der Versenkung auf und beansprucht seine Erbschaft.“ Dann blinzelt er. Sei Blick wird wärmer. „Wie sieht es eigentlich bei Ihnen mit dem Geld aus, Marvin? Sie sind jung. Reicht Ihr Einkommen für die ganze Familie?“
„Weder hinten noch vorne. Und vor vier Tagen hat auch noch unser Auto den Geist aufgegeben.“ Wieso erzähle ich ihm das eigentlich? Liegt das an seinen gütigen Augen? „Sie leiden diesbezüglich ja keine Not, Jason. Miss Brennan hat ihren gesamten Besitz Ihnen hinterlassen.“
„Warum auch nicht?“ Er verschränkt die Arme vor der Brust. „Schließlich habe ich sie jahrelang psychologisch betreut. Vor dem Ende sogar jeden Tag in ihrem Haus. Damit sie nicht von ihrer Melancholie erdrückt wird, wie sie sagte.“ Dann lehnt er sich nach vorne. „Wie ist denn Ihre Wohnsituation, Marvin? Haben Sie genügend Platz? Leben Sie in einer anständigen Gegend?“
„Bescheiden drückt es milde aus, Jason. Die paar Kämmerchen platzen aus allen Nähten. Wir haben kein Zimmer für das Baby. Und es vergeht keine Woche, in der nicht irgendwo im Wohnblock eingebrochen wird.“ Er ist wirklich anteilnehmend. Man fühlt sich bei ihm gut aufgehoben. Kommt das nur von seinem freundlichen Gesichtsausdruck? Oder wie macht er das?
Er patscht seine Hände auf den Tisch. „Hören Sie zu, Marvin. Sie können etwas nützliches für mich tun.“
„Dazu bin ich hier. Um was geht es dabei?“
Er presst seine Handflächen gegeneinander, wie zum Gebet. „Ich gebe Ihnen fünftausend Dollar dafür. Denken Sie an Ihr Kind.“
Für fünftausend Dollar würde ich einiges tun. „Heraus damit, Jason.“
Er beugt sich über den Tisch und senkt seine Stimme. „Gehen Sie in ein Eisenwarengeschäft und kaufen Sie eine Dose Stahlkügelchen.“
Unwillkürlich lehne ich mich ihm entgegen. „Und was soll ich damit?“
„Streuen Sie sie vor seinem Wohnungseingang aus. Ich erkläre Ihnen, wo -“
„Jason!“ Endlich habe ich verstanden, worauf er hinaus will. Seine einnehmende Art hatte mich ganz gefangen. „Sie verlangen einen tätlichen Angriff von mir! Allein dafür könnte man Sie anklagen. Ist das ein Eingeständnis Ihrer Schuld?“
Seine Hände zucken zurück, umklammern die Tischkante. Er starrt darauf hinab. „Sie haben völlig Recht, Marvin. Entschuldigen Sie bitte. Da ist etwas mit mir durchgegangen. Ich habe diese unerhörte Beschuldigung von diesem Erbschleicher immer noch nicht ganz verkraftet.“
„Hören Sie, Jason! So geht das -“ Ach was. Er hat ja Recht. Ein paar Tage im Untersuchungsgefängnis sind bestimmt kein Zuckerschlecken. Das kriegt jeden klein.
Ich nehme die Schärfe aus meiner Stimme. „Schon gut, Jason. Vergessen wir das. Weiter im Text. Sie hatten ja früher schon Klienten mit einem seltsamen Therapieverlauf. Erzählen Sie mir davon.“
Sein Kopf ruckt zu mir hoch. Er schaut ernst, aber seine Augen glitzern. „Also schön, Marvin. Was möchten Sie wissen?“
„Vor ungefähr fünf Jahren starb Ihr Patient Wilbur Long an einem elektrischen Schlag. Sie haben ihn gefunden.“
„Ihn gefunden?“ Sein Blick schweift ab. Über meinen Kopf hinaus, in die Ecken des Raumes. „Ich war dabei als es geschah. Marvin, es war furchtbar. Er hörte so gerne klassische Musik. Hymnen, Chöre, Ouvertüren. Es war gut gegen seine depressiven Phasen. Und wir hatten eine nagelneue Stereoanlage für ihn gekauft, mit Lautsprechern groß wie Wandschränke. Wir hatten sie gerade aufgebaut und angeschlossen. Überall lagen Kabel herum, auch offene. Wissen Sie, Marvin, bei solchen Anlagen braucht man richtig Starkstrom. Er spielte sein Lieblingsstück ab, einen von diesen Engelschören von Mozart. Kennen Sie bestimmt. Und da gibt es eine Stelle, wenn die Stimmen aufsteigen in ungeahnte Höhen, wenn sich die Himmel öffnen, man emporgetragen wird in andere Sphären.“
Er schlägt die Fäuste auf den Tisch, fährt hoch, reißt die Augen auf, fällt fast über mich her. „Und genau da, Marvin, genau da ist es passiert. Ich habe mich umgedreht und sah ihn zusammenfallen wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hat. Ich weiß bis heute nicht, ob es ein Unfall war oder ob er es absichtlich getan hat, zerrissen zwischen seiner pechschwarzen Depression und der himmlischen Musik.“ Er lässt sich zurückfallen auf seinen Stuhl, atmet tief durch.
„Die Behörden haben entschieden, dass es ein Unfall war.“ Ich ergänze die Fakten. „Und das, obwohl er Ihnen sein Haus und sein ganzes Vermögen vermacht hat. Das hätte schlimm für Sie ausgehen können, Jason.“
Er lächelt schief. Seine Augen funkeln. „Finden Sie? Wilbur hatte keine Verwandten. Und das mit seinem Testament hat er sich nicht ausreden lassen. Ich habe ihm immer wieder gesagt, dass er selbst entscheiden soll, was mit seinen Besitztümern geschieht, dass er auf mich keine Rücksicht zu nehmen braucht. Aber Wilbur hat sich nicht beirren lassen. Fast ein Jahr vor seinem Unfall hat er mir zum ersten Mal seinen letzten Willen gezeigt.“
Er fängt mich schon wieder mit seinem gefühlvollen Blick ein. Genauso wie seine Klienten.
„Da müssen Sie ja eine wirklich enge Beziehung zu ihm gehabt haben, viel enger als normalerweise zwischen Arzt und Patient.“
„So ist es, Marvin. Wie ich schon sagte, hatte er keinerlei Verwandte. Und um auf unser eigentliches Problem zurückzukommen.“ - er blinzelt mir verschwörerisch zu - „Ich fände es doch sehr unangemessen, wenn der gute Henry Lindas Hinterlassenschaft erhalten würde. Ich finde, wir sollten etwas dagegen unternehmen.“ Er lehnt sich lächelnd über den Tisch. „Helfen Sie mir dabei, und Sie bekommen von mir ein Auto. Einen Kombi mit genug Platz für Ihre Familie. Wie wäre denn das?“
Versucht er es wieder? „Darüber haben wir doch schon gesprochen, Jason. Ich werde keine Stahlkügelchen vor seiner Tür ausstreuen.“
Er zieht die Augenbrauen hoch. „Wer sagt denn was von Stahlmurmeln? Es gibt noch andere Möglichkeiten. Schneiden Sie die Bremsschläuche seines Wagens durch. Das geht ganz einfach. Haben Sie sowas schonmal gemacht?“
Was redet er da? Und wieso starrt er mich so erwartungsvoll an?
„Denken Sie an den Kombi, Marvin. Tun Sie‘s für Ihre Familie.“
Seine Augen leuchten und glitzern, ziehen mich an wie das Licht eine Motte.
„Also gut, Jason.“ Halt. Was sage ich denn da? „Ich meine - das reicht jetzt mit diesen inakzeptablen Vorschlägen. Wie soll ich Sie so verteidigen? Sie belasten sich zusätzlich!“
Seine Augen erlöschen. Er zieht seine Mundwinkel nach unten, senkt den Blick. Nickt langsam. „Wenn Sie das so sehen, Marvin. Ja, Sie haben Recht. Ich werde es nicht wieder tun.“
Ich schüttle den Kopf. Was ist da gerade in mich gefahren?
Egal, weiter. Wir haben nicht ewig Zeit. „Erzählen Sie mir noch von dem anderen Vorfall, Jason.“
„Von welchem anderen Vorfall?“ Er schaut immer noch auf seine Hände hinab.
„Vor zwei Jahren. Und lassen Sie bitte diese Spielchen, Jason. Sie wissen doch genau, wovon ich rede. Oder gibt es noch mehr solche Ereignisse?“
„Jetzt weiß ich, was Sie meinen, Marvin. Und nein, es gibt sonst keine Vorfälle in dieser Richtung.“ Dann erst hebt er seinen Blick zu mir. „Oder vermuten Sie etwa, ich ziehe das Unglück an?“
„Ihre Akte legt die Vermutung nahe, Jason. Erzählen Sie mir, was vor zwei Jahren geschah.“
Er setzt sich auf, stützt sich auf seine Ellbogen, legt die Unterarme auf den Tisch. „Vor zwei Jahren also. Sie hieß Doris Pelt. Eine zartgliedrige, durchscheinende, ältere Dame mit großen, dunklen Augen und dichten, düsteren Wolken in ihrer Seele. Sie schluckte eine Zyankali-Kapsel und legte sich in ein Zitronen-Schaumbad.“
Dann sagt er nichts mehr.
„Sie war ebenfalls Ihre Klientin?“ frage ich schließlich.
Er schaut zur Seite, an die kahle Wand. „Wir haben uns auf einer Kunstausstellung kennengelernt. Aber ja - ich habe sie therapiert. Sie war meine Patientin.“
„Und ich nehme an, sie hat Ihnen auch ihr gesamtes Vermögen vermacht.“
Er hebt sein Gesicht zur Decke, reibt sich mit einer Hand den Nacken. „Das hat sich ergeben. Es war sonst niemand für sie da. Keine Nichten, die sie besucht hätten. Keine Neffen, die nach ihrem Ableben unerwartet aufgetaucht wären. Alles hat sie mir hinterlassen. Die Villa. Ihre Statuen. Die Schatzbriefe.“
„Waren Sie bei diesem Ableben zugegen?“
Er verzieht den Mund als säße eine Nacktschnecke auf seiner Zunge. „Ich wünschte, ich wäre es gewesen, Marvin. Ich wünsche es mir so sehr.“
Die Erinnerung scheint ihn tief zu berühren.
„Vielleicht hätte ich die Tragödie verhindern können. Ich hatte es in der Hand. Sie war in einer finsteren Stimmung. Ich war den ganzen Nachmittag bei ihr und habe auf sie eingeredet. Gegen Abend wurde ich von einem anderen Patienten angerufen. Ich war hin und her gerissen. Sollte ich bleiben und die Sache mit ihr zu Ende bringen? Oder sollte ich gehen und sie ihrem Schicksal überlassen?“
Sein Kopf fällt nach vorne. „Offensichtlich habe ich mich für das falsche entschieden.“
Ich lasse ihm ein paar Augenblicke. Dann frage ich „Und die Behörden haben ihren Tod als Selbstmord zu Protokoll genommen?“
Er nickt. „Genau. Natürlich wurde ich befragt, sonst wüssten Sie nicht von meiner Verwicklung in diese Angelegenheit. Aber man hat mir keine Vorwürfe gemacht.“
„Sie haben die Erbschaft ohne Schwierigkeiten erhalten?“
Er zuckt die Schultern und hebt die Hände. „Niemand hat sich mir in den Weg gestellt. Und, Marvin.“ - er reckt einen Zeigefinger - „Es wurmt mich immer noch unheimlich, dass jetzt dieser Henry Carter daherkommt und mir Lindas Erbschaft streitig macht. Viel schlimmer noch, mich des vorsätzlichen Mordes an Linda bezichtigt. Wenn Sie mir helfen wollen, dann tun Sie etwas dagegen.“
Er lässt nicht locker. „Bitte, Jason. Fangen Sie nicht schon wieder damit an.“
„Lassen Sie mich ausreden, Marvin.“ Er sticht mir den Zeigefinger entgegen. „Ich habe ihn beobachtet. Ich kenne seine Gewohnheiten. Er geht jeden Abend nochmal an die frische Luft, dreht eine Runde um den Block. Spät. Im Dunkeln. Allein. Keine Begleiter, nicht mal ein Hund.“
„Und? Soll ich ihm eine Stolperfalle stellen?“
Was ist das schon wieder mit seinen Augen?
„Haben Sie eine Pistole, Marvin? Natürlich haben Sie eine. Wie jeder vernünftige Bürger dieser Stadt. Wie jeder Mann mit Verantwortung für eine Familie.“
Woher weiß er das? Kann er Gedanken lesen?
Diese leuchtenden Augen!
„Ich verschaffe Ihnen eine Eigentumswohnung für Ihre Hilfe, Marvin. Neu. Groß. In einem angenehmen Stadtteil.“
„Ja, ich habe tatsächlich einen Revolver, aber -“
Seine Augen werden immer größer, saugen mich auf, blenden alles andere aus.
„Schießen Sie ihn über den Haufen, Marvin.“
Vulkane, in die ich hineinstürze.
„Wie einen räudigen Hund, Marvin.“
Sonnen, in denen ich verglühe.
„Er wohnt in der Lincoln-Straße, Marvin, draußen am Stadtrand.“
Eine große, helle Wohnung.
Für Betty und unsere Goldfee.
Seine Augen schauen so gütig.
„Nehmen Sie heute abend Ihre Pistole, Marvin, und steigen Sie in die U-Bahn-Linie siebzehn.“
Natürlich. Es ist so einfach und logisch.
Diese schimmernden, freundlichen Augen weisen mir den Weg.
Ich hole den Revolver aus der Schreibtischschublade. Die Schachtel mit den Patronen liegt gleich daneben.
„Verdammt, warum klemmt das denn schon wieder?“ Joe fummelt mit einer Knochenhand am Schlüssel und zerrt mit der anderen am Riegel.
„Lass mich mal ran.“ Bert drängt ihn mit seiner schieren Masse zur Seite, legt seine Hände um die Mechanismen und wirft sich mit voller Wucht gegen die Stahlplatte. „Geht doch. Jetzt pass auf.“
Joe stellt sich breitbeinig neben die Tür. Auf die Seite, die sich gleich öffnen wird.
Bert drückt sein Gesicht nochmal gegen die Linse in der Platte. „Alles locker. Keine Hektik.“
Er öffnet die Tür gerade so weit, dass sich der bleiche, junge Anwalt im zerknitterten, blauen Anzug hindurchzwängen kann.
Joe erhascht einen Blick auf den Gefangenen. Er sitzt mit verschränkten Armen zurückgelehnt in seinem Stuhl. Unter dicken Brauen und schweren Lidern die Augen zu Schlitzen zusammengezogen. Die Mundwinkel angehoben zur Spur eines Lächelns. Wie eine satte Schlange.
„Alles in Ordnung, Mr Seed?“ fragt Bert, „Hat er irgendwelche Schwierigkeiten gemacht?“
Der schmächtige, blonde Anwalt hat die Lippen zu dünnen Strichen zusammengepresst und hält seine Aktenmappe wie einen Schutzschild vor der Brust.
„Nein.“ antwortet er, „Keine.“ Es klingt heißer, wie das Knurren eines getriebenen Hundes.
Er dreht sich auf dem Absatz um. Seine Schulter verfehlt Joes Schlüsselbein um Haaresbreite.
Dann eilt er den Gang hinab wie auf einer vorgezeichneten Bahn, als wäre er ein aufgezogenes Blechspielzeug. Das Schlagen seiner Schuhe auf den Betonboden hallt von den Wänden wieder wie Schüsse.
Bert sieht ihm kopfschüttelnd hinterher. „Versteh einer diese Rechtsverdreher. Beim Reinkommen ist er die Freundlichkeit in Person. Und beim Rausgehen tut er so misstrauisch als würden wir ihn wegen irgendwas verdächtigen.“