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Taubenherz
Fünfunddreißig Häuser. Alle Straßen hier trugen Vogelnamen: Amsel, Drossel, Fink und so weiter. Der Kuckuck bringt das Hochzeitskleid, hatte Papa mal gesagt. Langsam ließ er den Wagen ausrollen. Vor der Garage stand Opas Mercedes, der nur noch zur Pflege ausgefahren wurde.
Wir liefen durchs Gartentor, stiegen die Treppenstufen hinauf und Papa klingelte. Nach einer Weile sah ich einen Schatten hinter der Glastür. Die Tür öffnete sich und Oma Fine stand vor uns. Sie lächelte, drückte Papa und presste ihre Lippen auf seine Wange. Dann sah sie mich an. Ich wusste, dass ich ihr nun einen Kuss schuldete, und den gab ich ihr, auch wenn ihre Haut nach altem Apfel schmeckte.
Wir traten ein; drinnen war es kühl und dunkel und es roch nach dem Schrank in Papas und Mamas Schlafzimmer, der von Opa und Oma war. Opa stand im Flur und begrüßte uns. Er umarmte mich, nannte mich seinen Jungen. Ob wir Hunger hätten, fragte Oma; Papa sah mich an und ich schüttelte den Kopf und dann schüttelte auch er den Kopf.
Unsere Koffer brachten wir ins Schlafzimmer meiner Großeltern. Sie schliefen in getrennten Zimmern und wir in ihrem alten Ehebett. Das war gut gefedert und das Bettzeug immer kühl und glatt. Aus irgendeinem Grund waren die Rollläden dauerhaft verschlossen, sodass immer nur ein feiner Lichtstreifen hindurchfiel. Papa ging in die Küche und ich machte ein paar Liegestütze und Sit-ups auf dem Teppich. Mit vierzehn, spätestens, wollte ich Muskeln haben. Ich spürte, dass es darauf ankommen würde.
Irgendwann kam Papa zurück und sagte, dass wir jetzt doch einen Teller Suppe äßen. Ich nickte.
Oma Fines dünne Lippen tasteten nach dem Löffel. Ich rührte um, roch und sah zu, wie die Fleischklümpchen in der Suppe kreisten.
»Das ist Taube«, sagte Opa.
Wir aßen und hinterher räumten Papa und Oma den Tisch ab. Opa und ich gingen in den Waschkeller und trugen einen Korb nasser, duftender Wäsche nach oben und in den Garten. Gemeinsam zogen wir ein Laken straff, schüttelten es aus, dass die feinen Tropfen in der Sonne glitzerten, und warfen es über die Wäscheleine. Opa bedankte sich und sagte, ich könne mir etwas Süßes aus der Küche holen. Zwar kannte ich den Geschmack meiner Großeltern für Süßigkeiten bereits, doch schaden konnte es nicht. Opa ging ins Fernsehzimmer.
Ich fand ein paar Sahnebonbons, das war alles. Ich nahm eins, löste das Goldpapier und steckte es in die Hosentasche. Während ich mir das Bonbon in den Mund steckte, blieb mein Blick an etwas hängen.
Das Taubenherz lag auf einem Porzellanteller auf dem Küchentisch. Es war klein und grau, und dass es ein Herz war, erkannte ich an seiner Form. Eine Weile blieb ich dort stehen, betrachtete es, schluckte gelegentlich süßen Speichel herunter. Warum lag es hier und wer hatte es dort hingelegt? Ich vernahm das Ticken der Uhr, sonst war es still.
Es stellte sich heraus, dass das Herz für Papa war. Oma hatte es ihm gebraten und ich lernte, dass es ein gutes Stück sei. Opa schaute Fernsehen. Ich setzte mich zu ihm und gemeinsam sahen wir Conan der Barbar. Conan kämpfte gegen eine Echse. Er befreite einen Mann und gemeinsam flohen sie durch ein Labyrinth.
»Können wir Sechsundsechzig spielen«, fragte ich.
Opa nickte. Dann schaltete er den Fernseher aus.
Ich liebte es, Opa beim Mischen zuzusehen. Erst hielt er die Karten locker zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann ließ er sie gleichmäßig in die andere Hand fallen. Den Rest konnten meine Augen nicht auseinanderhalten. Ich kannte niemanden, der so schön mischte wie Opa. Er teilte jedem von uns sechs Karten aus. Zum ersten Mal sah ich, dass etwas mit seinem rechten Daumennagel nicht stimmte.
»Was ist damit?«, fragte ich und berührte seine Hand.
»Da ist mir mal ein Pferd drübergelaufen«, sagte er.
Wir spielten einige Runden, und so wie ich wusste, dass Opa mich mochte, obwohl ich nur sein Stiefenkel war, so wusste ich auch, dass er beim Kartenspielen schummelte. Nicht ein Mal ließ er mich gewinnen.
»Hast du eigentlich ein paar Freunde im Fußballverein«, fragte er.
»Ja«, sagte ich.
»Und eine Freundin?«
Ich schüttelte den Kopf.
Bevor wir aufs Feld gingen, machte ich noch ein paar Liegestütze und Sit-ups. Ich befühlte meinen Bauch, hielt die Falte in der Hand und drückte mit den Fingerspitzen tiefer, um zu eventuellen Muskeln vorzudringen. Dann ging ich in die Küche und machte mir einen Kakao. Oma fragte, wo Papa sei und ich sagte, im Garten, beim Pflaumenbaum. Als ich die Milch in den Kühlschrank zurückstellte, sah ich das Taubenherz dort auf dem Teller liegen. Anscheinend hatte er es nicht angerührt.
»Wir gehen zum Schlag«, sagte Opa zu Oma und hielt mir meine Jacke hin.
»Ich war nie dort«, sagte ich, als hätte sie danach gefragt.
Oma nickte.
Im Garten stand Papa mit einem Weidenkorb, pflückte Pflaumen. Der Baum war zu seiner Geburt gepflanzt worden, das hatte er mir mal erzählt. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass wir nur zum Ernten und Stutzen der Äste herfuhren. Opa und ich liefen durch den Kuckucksweg, durch Amsel- und Adlerstraße. Ich zählte zwölf Briefkästen.
Über dem Feld hingen graue Wolken und das Getreide leuchtete. Es war nicht mehr ganz warm. Opa zog den Reißverschluss seiner Jacke zu und ich auch.
»Wie viele Tauben hast du?«, fragte ich.
»Dreiundzwanzig«, sagte Opa.
»Macht es Spaß, Tauben zu haben?«
»Es ist ein Hobby«, sagte er. »Außerdem schmecken sie gut.«
»Kann man auch Briefe mit ihnen versenden?«
»Ja, das geht auch.«
»Aber wie finden sie zurück?«
»Die haben GPS«, sagte Opa. Wir lachten.
Der Taubenschlag war anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Ein hoher, von Wellblech zusammengehaltener Kasten, vor dem ein Jeep parkte.
»Herri ist da«, sagte Opa.
Wir traten durch die offene Tür. Ein Mann mit weißer Schürze grüßte uns. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Käfig, indem einige Tauben scharrten, daneben lag ein Messer.
»Wir teilen uns das hier«, sagte Opa. »Na, Herri. Guck’ mal, wer da is’.«
Herri sah mich an, wischte sich eine Hand an der Schürze ab und hielt sie mir hin.
»Mein Enkel.«
Herri nickte. »Das seh’ ich.«
Kurz überlegte ich, ob man da wirklich etwas sehen konnte.
Herri öffnete den Käfig, griff hinein und zog eine braune Taube heraus. Seine großen Hände umschlossen ihre Flügel. Er überreichte sie mir und ich gab mir Mühe, die Flügel nicht zu fest gegen den Körper zu drücken. Mit beiden Händen hielt ich sie. Ihre schwarzen Augen starrten mich an oder an mir vorbei; ihr Bauch fühlte sich warm an, die Federn waren weich und ich spürte ihren Herzschlag.
Es roch nach Kuchen, als wir zurückkamen. Oma stand im Flur und nahm uns die Jacken ab. In der Küche lief Radio, Eintracht gegen Mainz. Papa hatte Omas karierte Schürze an und die Hände in der Teigschüssel.
»Du kannst mir helfen«, sagte er.
»Willst du etwa noch einen backen?«, fragte ich.
Papa antwortete nicht.
Draußen begann es zu regnen, Papa kippte das Fenster. Schweigend lauschten wir dem Kommentator und dem Regen. Papa drückte Teig in die Springform und ich entkernte die übrigen Pflaumen.
Abends aßen wir kalt. Ich mochte das Brot meiner Großeltern nicht. Es war gräulich und trocken und alles schmeckte darauf gleich. Zu trinken gab es Wasser, sodass sich nach langem Kauen ein Matsch aus Brot und Wurst in meinem Mund bildete, den ich im Ganzen herunterschluckte.
»Darf ich aufstehen?«, fragte ich und schaute in die Runde.
Papa nickte.
Als Papa kam, hatte ich die Zähne schon geputzt. Ich lag im Bett und blätterte in einem Spawn Comic. Spawn hatte sich in Satans rechtem Arm vergraben und bohrte sich nun von innen ein Loch durch seinen Bizeps. Satan schrie, sein Bizeps platzte und er blutete grünen Schleim.
»Wolltest du kein Fernsehen mehr schauen?«, fragte Papa und knöpfte sein Hemd auf.
»Heute nicht«, sagte ich.
»Ich hab’ mit Mama telefoniert und ihr erzählt, dass du mit Opa bei den Tauben warst.«
Ich legte den Comic beiseite.
»Warum hat Opa einen schiefen Daumennagel?«, fragte ich.
»Ich glaube, von der Kriegsgefangenschaft«, sagte Papa. »Habt ihr darüber gesprochen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Er war nur ein paar Jahre älter als du.«
»Glaubst du, er hat mal wen umgebracht?«, fragte ich.
»Weiß ich nicht«, sagte Papa. »Er hat darüber nicht gesprochen.«
»Also hat er es vielleicht getan«, sagte ich.
»Erzähl nicht so einen Mist. Du kannst froh sein, nicht im Krieg aufzuwachsen.«
»Woher willst du das wissen?«
Papa sah mich verwundert an, dann knipste er das Licht aus.
Als ich erwachte war es dunkel. Nur ein schmaler Streifen Tageslicht fiel von den verschlossenen Rollläden ab. Barfuß schlich ich mich aus dem Zimmer.
In der Küche saß Oma. Vor ihr auf dem Tisch lagen die zwei Pflaumenkuchen und ein dickes Buch mit dem Gesicht von Papst Benedikt, dessen Mund durch die Gläser ihrer Lesebrille verzerrt wirkte.
»Möchtest du einen Kakao?«, fragte Oma.
Ich nickte.
Das Glas in der Hand ging ich ins Fernsehzimmer. Opa stand in Unterhemd und Boxershorts da und machte Kniebeugen. Er atmete stoßweise aus und sah mich nicht an. Ich stellte den Kakao beiseite, kniete mich hin und machte ein paar Liegestütze.
»Das hier ist gut«, sagte Opa und machte eine Bewegung, die an das Schlagen großer Schwingen erinnerte. Die Ellbogen raus, dann die Arme spreizen. Ich probierte es ein paarmal, bis ich die Lust verlor.
»Ich geh’ Papa wecken«, sagte ich.
Opa schaute weiter geradeaus.
Ich schob die Tür einen Spalt auf und sah Papa mit halb geöffnetem Mund daliegen. Er schnarchte. Ich beschloss, ihm noch zehn Minuten zu geben, nahm mir das Spawn Heft vom Nachttisch und zog die Tür leise hinter mir zu.
»Ich setz’ mich zu dir«, sagte ich.
Oma nickte.
Wir achteten nicht auf die Zeit, bis Papa irgendwann von selbst kam. Er wirkte grummelig, noch nicht ganz wach. Oma setzte Wasser für einen Tee auf.
»Na, du Bengel«, brummte er.
Ich beäugte ihn kritisch.
»Willst du deiner Oma nicht mal helfen?«
»Doch«, sagte ich.
»Wo ist Opa?«
»Macht Sport.«
Zuerst dachte ich, Papa würde uns rufen, aber dafür war seine Stimme zu laut. Sofort rannte ich ins Fernsehzimmer; ich sah Papa über Opa gebeugt, er drückte auf seine Brust.
»Ruf einen Notarzt!«, schrie er.
Ich stand da, konnte an nichts denken.
»Los!«
Ich rannte zum Telefon. Ein Mann mit ruhiger Stimme nahm ab.
»Sie müssen sofort kommen«, sagte ich. »Mein Opa stirbt.«
»Wo ist er denn?«, fragte der Mann.
»Im Kuckucksweg ..."
Ich hatte Papa noch nie weinen gesehen. Er drückte noch immer auf Opas Brust, während Oma da kniete und seine Hand hielt. Er weinte und ich verstand zum ersten Mal, dass Opa sein Vater war.
Der Krankenwagen nahm Opa mit. Oma weinte in Papas Schulter hinein. Papa deutete mir herzukommen und nahm mich in den Arm. Ich weinte und dachte kaum darüber nach, wie es gewesen wäre, jetzt nicht weinen zu können. Opa war weg; und das war etwas Endgültiges. Was gestern gewesen war, wirkte bereits fern. Ich hielt mich an Papa fest.
Omas Augen schauten leer. Wir tranken Tee und Papa telefonierte. Es gab nichts zu bereden. Papa kam in die Küche und nickte. Sofort brach Oma in Tränen aus. Papa setzte sich zu ihr und ich legte meine Hand auf ihre.
Wir aßen eine Kleinigkeit. Das graue Brot schmeckte; weil ich hungrig war und traurig. Niemand sagte etwas. Omas Lippen bebten beim Kauen, sie sah in meine Richtung, aber an mir vorbei. Wir blieben lange sitzen. Papa fragte, ob er Tante Irmela anrufen solle, und Oma nickte. Ich wollte nicht mit ihr allein in der Küche sein. Etwas an ihr machte mir Angst.
»Ich muss in den Garten«, sagte ich.
»Bleib bei deiner Oma«, sagte Papa.
Ihr graues, faltiges Gesicht wirkte ausdruckslos. Still musterte sie mich.
»Bist ein guter Junge«, sagte sie, und: »Der Papa hat dich lieb.«
Ich wusste, dass ich darauf nichts antworten brauchte.
»Die Oma hat dich auch lieb«, sagte sie.
Die Pflaumenkuchen lagen auf der Anrichte. Ich fragte mich, ob wir sie noch essen sollten.
Am Nachmittag kam meine Tante Grete zu Besuch. Sie küsste Papa auf die Wange, sie weinten, und das war ansteckend. Zusammen aßen wir fast einen halben Kuchen. Wir hatten sogar Schlagsahne. Ich dachte an Opa und die GPS-Tauben und so musste ich, den Kuchenbrei im Mund, schon wieder weinen.
Grete wollte sich alte Fotos anschauen, als müsste sie sich Opa erst in Erinnerung rufen, dachte ich. Papa wollte das nicht und ich spürte, dass es kurz davor war, Streit zu geben. Später kam mein Onkel und brachte meine Cousine und Tante Irmela mit. Alle umarmten sich. Meine Cousine weinte viel. Es war klar, dass Opas Tod auch andere Personen außer Papa, Oma und mich traurig machte. Trotzdem erstaunte es mich auf eine Art.
Am Abend fuhren wir in ein Restaurant. Oma saß bei uns im Auto. Ich beobachtete sie im Rückspiegel. Sie sah klein aus und beengt, obwohl sie die ganze Rückbank für sich hatte. Sie schaute nur auf ihre Hände.
Der Schotter knirschte unter den Reifen. Mit den drei Autos war der Parkplatz belegt. Ich erinnerte mich, dass wir hier schon einmal gegessen hatten. Papa sagte, ich solle mir etwas Gutes aussuchen. Ich entschied mich für Lende vom Schwein mit Pilzen und Ofenkartoffeln. Papa sagte, ich dürfe auch ein Glas Wein trinken, aber ich wollte nicht.
Als sie den Nachtisch brachten, kam meine Mutter. Sie hielt meine Schwester auf dem Arm. Ihre Haare waren glatt und sie trug Lippenstift. Den ganzen Weg hatte sie auf sich genommen.
Wir blieben, bis alle ihren Nachtisch gegessen hatten. Mama bestellte nichts. Papa trank einen Kaffee und der Kellner brachte die Rechnung.
Wir fuhren in den Kuckucksweg zurück. Mama saß neben Oma auf der Rückbank und Lisa auf Omas Schoß. Ich freute mich, dass Mama da war. Mit ihr war es immer am schönsten bei Oma und Opa. Die Erwachsenen setzten sich in die Küche und Papa brachte Lisa ins Bett. Ich spielte Uno mit meiner Cousine. Mehrmals sagten wir, dass wir es traurig fänden.
Papa schlief in Opas Zimmer und ich teilte mir das Bett mit Mama und Lisa. Es fiel mir nicht schwer, einzuschlafen. Träume zogen vorbei, blieben nicht lang. Wieder erwachte ich im Dunkeln. Kurz hatte ich das Gefühl, in Papas Körper zu stecken, doch als die Füße den Teppich berührten, war ich wieder ich.
Ich ging in die Küche. Oma war nicht da. Ich setzte Wasser auf und warf einen Blick in den Kühlschrank. Das Herz war nicht mehr da, vielleicht hatte Papa es gegessen.
Für heute nahmen wir uns vor, einen Spaziergang zu machen. Trauerkarten mussten verschickt und eine Todesanzeige aufgegeben werden. Papa fuhr zum Bestatter und ich blieb mit Mama, Oma und Lisa zu Hause. Als Papa wiederkam, wollte niemand mehr spazieren gehen. Er hatte die Karten mitgebracht. Kondolenzkarten.
Überall setzte ich meinen Namen mit dazu. Schließlich war ich Opas Enkel, und auch wenn die Verwandtschaft noch nicht allzu viel über mich wissen konnte, so war ich doch froh, dass zumindest hierüber kein Zweifel bestand.