Teß
Es war Samstag morgen, und ich sah mir die untergehende Sonne an - gemalt von Claude Monet. Selten besuchte ich die Staatsgalerie, noch seltener die Sonderausstellung eines einzelnen Künstlers. Mein Tochter Uli hatte mich, ihre ureigenen Künste gebrauchend, dazu überredet, und ich war auf einen langweiligen Morgen eingestellt gewesen. Nun war ich sehr verblüfft.
„Teß“, sagte ich laut vor mich hin. Ich erinnerte mich plötzlich an Teß, die Jahre, ja Jahrzehnte, aus meinem Geist verschwunden war. Theodora Emilia Schwarz. Die beste Metallica Cover Lead Gitarristin, die ich jemals kennen lernen durfte. Teß, die ich geliebt, und der ich dieses gestanden hatte, das erste Mal überhaupt. Und wie sie dies mit einer so schrecklichen Wahrheit, einem so schrecklich lieben Lächeln und einem so schrecklich enttäuschendem Kopfschütteln entgegengenommen hatte.
Teß rief an, einer ihrer komischen Anrufe. Damals als das Telefon noch eine Schnur hatte. Sie benötigte einen Fahrer und konnte die Bitte darum nicht direkt formulieren, wie so oft. Ich war schon achtzehn und motorisiert mit einem papakreditfinanzierten VW Jetta, was mir nicht nur bei Teß Pluspunkte eingebracht hatte.
„Manu mag Creeping Death spielen. Und ich hab es ihr versprochen. Heute Abend muss es werden!“
Sie meldete sich nie mit Namen am Telefon.
“Teß, bist Du’s?”
“Manuela, die kleine, schwarzhaarige - von Thomas, der Schwarm, kling-glockt es jetzt?”
„Teß, von was redest Du?“
„Niemandem, gar, gar niemandem, der Creeping Death spielen mag, sollte man vorenthalten Creeping Death zu spielen. Das ist meine Meinung. Fest gemauert. Du wirst mich nicht umstimmen.“
„Hä?“
„Sie kann die Riffs nicht. Ich zeig sie ihr. Du darfst mich fahren.“
„Hallo Teß, schön Dich zu sprechen, und toll, dass auch Du mal bei mir anrufst und nicht immer umgekehrt. Wie geht es Dir? Der Magen wieder besser? Doch keine chronische Kotzeritis?“
„Fährst Du?“
„Wohin?“
„Zu Manuela, ich kenn denn Weg. Dann ist das abgemacht. Hol mich so um fünf ab. Es darf nicht zu spät werden, denn Ihr habt ja beide morgen Schule. Bis dann.“
Ihre Stimme war verstummt, die Leitung wie tot. Sie hatte jedoch noch nicht aufgelegt, das tat sie an dieser Stelle des Gesprächs nie.
Nur der Form halber fragte ich: „Teß, bist Du noch da?“
Sie sagte nichts. Ich wusste aber, dass sie lächelte. Dann war sie nicht nur wunderschön, dann war sie wunderbar.
„Okay, ich komme vorbei.“
„Danke!“
Jetzt legte sie auf.
Ich musste nicht läuten. Kaum war ich ausgestiegen, stieg Teß vorsichtig die lange Treppe hinab, wobei sie ihren Gitarrenkasten unter dem Arm trug. Galant hielt ich ihr die Autotüre auf. Es gab ein „wie altmodisch“ und ein Lächeln dafür. Sie trug ein Metallica T-Shirt, Größe XL und dem Schriftzug „Kill’em all“, dessen kurze Ärmel fast noch ihre Unterarme komplett verdeckten, unten eine obligatorische, verwaschene Jeans und alte Turnschuhe mit Löchern, wohl auf ihrer letzten großen Reise. Teß hatte dichtes, sehr langes, schwarzes Haar, zumindest halbseitig. Auf der linken Kopfseite waren die meisten Haare wie immer frisch abrasiert. Dort wuchs „mein Parasit“, wie sie es nannte: Eine Tätowierung, die einer Schlingpflanze glich. Diese wuchs scheinbar aus ihrem Hals heraus und wand sich um das Ohr. Ihre Blätter bestanden aus runenartigen Symbolen. Eines Tages, so erklärte mir einst eine sehr angetrunkene und deshalb auch sehr jammervolle Teß, würde sich der Parasit um ihren ganzen Körper geschlungen haben, und dann würde sie sterben. Niemand würde es bemerken, denn der Parasit würde einfach so tun, als sei er Teß, und all die schwer erspielten Annehmlichkeiten eines Altrockerlebens genießen.
Die linke Teß war die wilde Teß. Mit einer schlichten Körperdrehung konnte sie sich jederzeit in diese verwandeln. Das konnte einem ganz schön Angst machen. Wegen der Tätowierung war sie von ihrer Mutter eine Woche lang rausgeschmissen worden, und hatte mir meine Mutter den Umgang mit Teß verboten, was mir reichlich egal gewesen war und zu jeder Menge Probleme geführt hatte. Teß Mutter erbarmte sich schließlich mit viel Tamtam und noch mehr Möglichen-Konsequenzen-für-das-ganze-Leben-Sprüchen, insbesondere wie sehr doch nun ihr Leben bereits ruiniert wäre, und ihr all die typischen Frauenberufe, wie Vorstandsvorsitzende oder so, auf ewig nun versagt blieben.
Manuela war Arzttochter und das Haus riesig und mit toller Aussicht und das Equipment von der feinsten Sorte und die Eltern sehr tolerant. Musik machen war nicht mein Ding, und so spielte ich ein bisschen das fünfte Rad, bildlich gesprochen. Ich bekam ein Tamburin angeboten, welches ich genau vier Sekunden in der Hand hielt, um dann lieber auf Manus Bett liegend in einem Bildband zu blättern, den ich mir wahllos aus einem der Regale genommen hatte, und in dem todlangweilige Bilder von Bildern drin waren, die nun tote Menschen gemalt hatten. Ich gab den Bildungsbürger, sagte nichts, blätterte eifrig und schielte nach den zweien, was natürlich nicht unbemerkt blieb und bissig kommentiert wurde. Teß Gitarrespielen zu sehen, war geil. Besonders bewunderte ich ihre Finger, die über den Gitarrenhals glitten. Mir gefiel das schöne Spiel der Sehnen und Adern, welches sich bei ihr auf der sonst so knöchernen Hand abzeichnete.
Um sieben steckte Manus Mutter den Kopf zur Türe herein. Bestimmt hatte sie vorher angeklopft, vermutete ich zumindest, aber meine zwei Damen waren sehr laut und sehr beschäftigt. Manu hatte sich als sehr willig erwiesen, und Teß war reichlich bemüht, ihr den Wandergitarrenton auszutreiben.
Wir wurden gefragt, ob wir was essen wollten. Eine Kleinigkeit? Manu war es peinlich, sie wusste wohl schon, was kommen würde. Ich wollte abwiegeln, aber Teß rief sofort: „Au ja, ich hab einen Hunger! Gerne. Danke.“ Sie strahlte, und ich willigte deshalb ebenfalls ein. Manu ging mit ihrer Mama raus, tauchte aber gleich wieder auf.
„Helfen darf man nicht. Jetzt übertreibt sie wieder“, seufzte sie.
Teß zuckte mit der Schulter, ihre Finger stimmten „Fade to black“ an.
Übertreiben war reichlich untertrieben. Ich dachte an Pizza oder so was. Sie hatten den Tisch gedeckt inklusive drei verschiedener Glassorten. Mit schwarzen Ziersteinchen hatte sie ein Metallica-M gelegt. Dazu gab es ein Büffet mit frisch aufgebackenen Brötchen, Vollkornbrot, Toast, Wurst, Käse, Eiern, Marmelade, Quark und vegetarischem Allerlei - wie im Hotel. Einziger Schönheitsfehler war, dass es für meinen Geschmack eher nach Frühstück als nach Abendessen aussah. Man konnte eben an allem noch etwas finden. Der Kunstdruck vom letzten Abendmahl über der Eckbank verströmte jedoch reichlich Abendatmosphäre. Und ich hatte den Eindruck, wenn ich jetzt um ein T-Bone Steak gebeten hätte, Manus Mama hätte es mir gebraten.
Sie komplimentierte uns und ihre widerwillige Tochter an den Tisch und wollte sich dann zurückziehen, wurde aber von der rechten Teß dazu gebeten. Teß schaufelte sich den Teller voll, nahm von jedem etwas, mit Augen als hätte sie seit Tagen nichts gegessen. Sie redete dabei flapsig mit Manus Mama, die gestand mit der Sorte Musik, wie Teß sie so sehr mochte, gar nichts anfangen zu können. Ich sah Teß dabei zu. Sie schien sehr aufgedreht zu sein. Es stimmte so nicht. Sie redete über dies und das, schnitt sich ein Brötchen auf und den Toast zu recht, alles sehr umständlich.
Ich seufzte, nahm mir einen großen Teller und gab einen kräftigen Klecks Quark darauf. Mit einem Messer strich ich diesen glatt. Mit Marmelade, feingeraspelter Gurke und etwas Karotte machte ich ein paar Kleckse und Linien. Auf den Tellerrand legte ich zwei dünn geschnittene Scheiben Baguette. Dann setzte ich mich an den Tisch neben Manus Mama. Teß saß mir direkt gegenüber mit Messer und Gabel in je einer Hand bewaffnet und wartend. Die Serviette hatte sie sich schon, und ich kann mich nicht erinnern, dass ich sie das je zuvor an ihr gesehen hätte, auf den Schoß gelegt.
„Und los!“, sagte sie und ließ unvermittelt den Gesprächsfaden reißen. Sie starrte auf ihren Teller. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Die Hände hatte sie noch zu Fäusten geballt auf dem Tisch neben dem Teller liegen. Ihre Augenlieder schlossen sich kurz, zu lange für ein Blinzeln, und ein Schatten huschte über ihr Gesicht. Sie biss sich mit den Oberzähnen auf die Lippen und sah mich an. Ich sah zurück. Für mich währte es eine Ewigkeit.
„Bist Du krank?“, fragte sie mich mit einer Kopfbewegung auf meinen Teller zeigend. Ich hielt ihn schräg, so dass sie ihn besser sehen konnte und sagte gestelzt: „Schwere Kost. Monet, Sonne im Quarkmeer versinkend.“
„Monet? Ist der besonders lecker?“
„Probier!“ Ich reichte ihr den Teller rüber. Sie reichte mir den ihren, voll beladen. Ein Austausch. Wir schauten uns wieder in die Augen. Und zum ersten Mal nach all dem Trotz und all dem Starrsinn sah ich – Dankbarkeit.