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Teddybär
„Nimm das!“ sagte Thomas, und die Faust der Cowboypuppe traf den Teddybären auf die Nase. „Uff!“ sagte Thomas und öffnete die rechte Hand. Der Teddybär kippte nach hinten und fiel auf den Rücken, blieb reglos liegen.
Die Tür öffnete sich, und Thomas Mutter trat ein. „Zeit zum Schlafen gehen“, sagte sie fröhlich, und Murren antwortete ihr.
Eine störrische Viertelstunde später lag Thomas im Bett. Das Licht war gelöscht. Der rechte Flügel des Fensters stand offen, denn es war eine warme Nacht. Der Himmel war sternenklar, und der Mond eine silberne Scheibe im oberen Drittel der geöffneten Fensterlade.
Grillen zirpten leise. Die Luft roch nach frisch gemähtem Gras.
Ein Schatten huschte durch die Krone des Baumes, dessen oberes Geäst bis an Thomas Fenster heranreichte. Im silbernen Mondlicht hielt das Eichhörnchen kurz inne, schnüffelte mit der Nase in der Luft und huschte davon, verschwand zwischen grünen Blättern.
Silbernes Mondlicht fiel auch auf einen großen Tisch, der direkt vor dem Fenster stand. Auf ihm die typischen Utensilien eines Fünfjährigen. Spielzeugautos und Bilderbücher, Buntstifte, Blätter, Höhrspielkassetten und vieles mehr.
Unter anderem befand sich auch die Cowboypuppe auf dem Tisch. Sie saß mit dem Rücken an ein Kästchen gelehnt an der dem Fenster zugewandten Seite des Tisches und sah in die Dunkelheit hinaus.
Genau genommen handelte es sich gar nicht um eine Cowboypuppe. Thomas nannte sie nur so. Es war eine Actionfigur aus Hartplastik, nachempfunden dem Helden einer jener Zeichentrickserien, in denen ein Gesetzeshüter mit Laserpistole vor einer futuristischen Kulisse für Recht und Ordnung sorgt. Seine Gesichtszüge brachten das hinreichende Maß an Strenge und Rechtschaffenheit zum Ausdruck. Er wirkte beinahe wie ein Wächter, wie er so in die Nacht hinausschaute.
Ein schmaler Streifen Mondlicht fiel auch auf einen Schrank, der neben der Tür stand. Auf ihm war Thomas Stofftiersammlung aufgereiht.
Unter ihnen der Teddybär.
Er glich entfernt einem Koalabären. Eine gedrungene Statur, Arme und Beine muskelbepackt, ein stoischer Gesichtsausdruck. Zwei schwarze, liedlose Knopfaugen spiegelten den silbernen Schein des nächtlichen Trabanten wieder.
Es lag etwas nachdenkliches darin, wie er mit seinen seelenlosen Plastikaugen unverwandt in die Scheibe des Mondes starrte. Es war, als würde etwas lebendiges in ihm existieren, etwas, das mehr war als bloße Schaumstofffüllung und Styroporkugeln, so wie seine Schöpfer es eigentlich beabsichtigt hatten. Reglos blickten seine Augen die silberne Scheibe an, in sie hinein, tiefer, immer tiefer gruben sie sich in das milchige Licht, bohrten, fragten, forschten, suchten und...
...fanden schließlich!
Er blinzelte. Langsam drehte er den Kopf nach links, sah in die schattige Ecke, in der Thomas friedlich in seinem kleinen Bettchen schlief. Dann, langsam, sehr langsam, drehte er den Kopf nach rechts, hin zum Tisch, hin zum Fenster, vor dessen Helligkeit sich die Silhouette der Cowboypuppe abzeichnete.
Er erhob sich. Langsam ging er zu jener Seite des Schrankes, die dem Tisch am nächsten war. Vorsichtig, jeden seiner Schritte mit äußerster Behutsamkeit setzend, um auch ja kein Geräusch zu verursachen, stieg er über die ausgestreckten Beine der anderen Puppen hinweg. Am Ende des Schrankes angekommen hangelte er sich über die Kante und kletterte mit den für einen Koalabären typischen langsamen Bewegungen am Schrankbein herunter.
Schattiges Halbdunkel verbarg seine Gestalt, während er über den Boden schlich.
Am Tisch angekommen kletterte er mit den gleichen langsamen Bewegungen an dessen Bein herauf.
Oben angekommen blieb er für einige Sekunden hoch aufgerichtet stehen. Das Mondlicht traf ihn frontal, warf seinen Schatten stark vergrößert an die Wand hinter ihm.
Dann setzte er seinen Weg fort.
Vorbei schlich er an einer Kinderschere, mit der Thomas am Nachmittag etwas gebastelt hatte. Vorbei an ein paar Buntstifften und einem Radiergummi, womit Thomas ein Bild für seine Mutter gemalt hatte. Vorbei an einem roten Feuerwehrauto näherte er sich zielstrebig der Cowboypuppe von hinten.
In deren Rücken angekommen blieb er stehen, wendete den Kopf und sah zu Thomas Bettchen hin. Dieser schlief tief und fest, hatte sich während der ganzen Zeit nicht bewegt.
Sekunden verharrte der Teddybär reglos...
Dann schlug er zu!
Sein rechter Arm fiel von hinten auf die Brust der Cowboypuppe. Sein linker legte sich um deren Hals. Stählerne Muskeln spannten sich kurz:
Ein lautes Knacken!
Blitzartig ruckte der Kopf des Teddybären nach links, hin zu Thomas: Aber der hatte das Geräusch nicht vernommen, schlief friedlich weiter.
Der Teddybär versetzte der Cowboypuppe einen verächtlichen Stoß. Sie sackte nach vorne. Ihr Kopf pendelte haltlos hin und her.
Mit den gleichen langsamen, vorsichtigen, lautlosen Bewegungen wie zuvor ging der Teddybär zurück, über den Tisch, am Tischbein hinab, den Schrank herauf bis er seine alte Position erreicht hatte. Dort setzte er sich in exakt derselben Haltung hin, die er auch vorher eingenommen hatte und erstarrte zur Reglosigkeit.
Silbernes Mondlicht spiegelte sich in schwarzen Knopfaugen wieder.
Thomas seufzte und drehte sich im Schlaf auf die andere Seite. Im Apfelbaum vor dem geöffneten Fenster sang ein Nachtvogel.