Teddybär
Teddybär
„Und dann sitzt er mir gegenüber und sieht mich nur traurig an. Immer wenn ich mit ihm reden will, sieht er mich nur traurig an und hört mir zu. Wenigstens einer, der mir zuhört.“ Annas Worte ziehen an mir vorbei wie dichte Nebelschwaden. Ich bin gereizt und abgegessen von diesen vielen Schülerinnen, die seit der Pandemie psychisch auffällig geworden sind. Sehe ich aus wie eine Psychologin? frage ich mich genervt.
Anna, die an dem runden Tisch (die sind gerade schwer in Mode gekommen) in ihrem schwarzen Hoodie sitzt, in dem sie geradezu verschwindet, ist mit ihrer Mutter gekommen. Ich habe den runden Tisch aus den kleinen und beweglichen Tischelementen hergestellt, die für teures Geld angeschafft wurden und nun lediglich für chaotische Sitzordnungen sorgen. Der alias runde Tisch soll ein Gefühl der Gemeinsamkeit entstehen lassen. Alle sollen sich gesehen fühlen. Das macht vor allem deshalb so viel Sinn, da ich das Mädchen gerademal seit zwei Wochen kenne.
„Sehen Sie? So geht das immer. Sie kommt von der Schule und setzt sich an ihren Tisch. Und dann redet sie mit ihrem weißen Teddybären“ fährt ihre Mutter dazwischen und reißt mich aus meinen vernebelten Gedanken. Kein Wunder, dass das Mädchen verstört ist, schießt es durch meine Gedanken. Die Mutter, vornehm gekleidet und geschminkt, bestückt mit echten Perlen und Goldschmuck ist das krasse Gegenteil der Tochter. Gewählte Ausdruckweise, perfektes Styling. Ist sie gerade aus einem Modemagazin gesprungen und wie konnte so ein Mannequin überhaupt ein Kind gebären? Meine Gedanken verselbstständigen sich schon wieder und ich muss mich zusammenreißen, um das Mädchen nicht aus dem Blick zu verlieren.
„Anna,“ und ich übergehe damit bewusst die Äußerung ihrer Mutter und richte mich direkt an die neue Schülerin, die zusammengekauert wie ein Häufchen Elend mir gegenübersitzt, „magst du mir vielleicht erzählen, wie es dir hier bei uns geht?“ Anna fängt an, hin- und herzuschaukeln, ihr abgemagerter und ausgemergelter Körper bewegt sich in dem übergroßen Hoodie wie eine Schnecke in ihrem schützenden Haus. Ich nehme wie zuvor im Unterricht diese unheimliche Dunkelheit wahr, die sie unvermittelt überkommt. Sie zieht sich noch weiter zurück, steckt den Kopf zwischen ihre Arme, die sie wie zur Abwehr vor sich aufgestellt hat. Sie reißt sich die Haut der Fingernägel auf, die sowieso schon blutig sind. Ihre Haare wirken ausgedünnt. Ein Jahr geschlossene Psychiatrie, absolute Diskretion. Das waren die Worte des Chefs, als er mir Anna anvertraute. Warum immer ich? Während ich wieder im Selbstmitleid versinke merke ich, wie die Mutter wieder die Wortführung übernehmen will und werfe ihr einen scharfen Blick zu. Sie hat verstanden, ich glaube es kaum. Mein Kopf arbeitet fieberhaft, auf der Suche nach einer Lösung. Wie soll ich jetzt weitermachen und wie werde ich diese dominante Mutter los? Wie kann ich Vertrauen zu diesem Mädchen gewinnen? Tausend Gedanken rasen wie ein Blitzlichtgewitter durch meinen Kopf. Sie schaffen das schon, hat der abgebende Kollege mir durch den Telefonhörer zugerufen. Die Dateien, die ich bekommen habe, sind an den entscheidenden Stellen, denen der Diagnose nämlich, geschwärzt. Ich habe nicht die Zuversicht, dass ich das schaffe, zumal ich tatsächlich ein Gefühl von Gefahr empfinde. Was ist hier bloß los?
Spontan lege ich meine Hände auf den Tisch. Vielleicht kann ich sie erreichen? Sie hebt den Blick, sieht mich plötzlich direkt an und richtet ihren Körper auf. Ihre Augen sind von einem warmen Ton bestimmt, ganz im Gegenteil zu den kalten, blauen Augen der Mutter. Anna strahlt plötzlich Offenheit und Freundlichkeit aus, sie greift nach meiner rechten Hand und sagt zu ihrer Mutter „siehst du, das gleiche Armband, das du von Oma geerbt hast.“ Die Mutter lächelt. „Ja, sie hat es mir freudestrahlend erzählt, als sie in der ersten Stunde bei Ihnen war,“ ergänzt die Mutter freundlich. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Woher kam diese plötzliche Wendung? Wie kann diesem Mädchen ein so kleines Detail auffallen? Was hat sie noch gesehen? Wer ist sie? Ihr so plötzlich verändertes Verhalten bringt mich auf die Idee, dieses positive Verhalten zu verstärken und ich spreche sie auf Freunde in der Klasse an. Vielleicht kann ich das Gespräch in eine konstruktive Richtung lenken? Sie lächelt, wird offen und beginnt davon zu erzählen, wie sie sich im Klassenraum fühlt. Anna strahlt, und ihr Strahlen lässt alles andere in den Hintergrund treten. Die Mutter rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her. Ich verstehe ihr Verhalten nicht. Wir machen doch tolle Fortschritte. Anna öffnet sich endlich.
Ich nutze diese angenehme Wendung und frage sie, was sie braucht, um ganz in der Schule anzukommen. Wir vereinbaren, dass sie, wenn sie dieses dunkle Gefühl wieder überkommt, einfach den Klassenraum verlassen darf. Die Mutter bestätigt, dass sie in kürzester Zeit da sein wird, um sie zu holen. „Gut,“ sage ich, fühle mich aber gar nicht gut. Warum ist die Mutter immer so präsent? Arbeitet sie gar nicht? Warum fühlt sich alles an dem Gespräch so falsch an? Was mache ich falsch? Ich hatte mich doch gut vorbereitet, warum bin ich dann jetzt nicht zufrieden mit dieser Lösung, die sich für mich wie eine Scheinlösung anfühlt? „Sehr gut, nicht wahr, Schatz?“ Anna antwortet ihrer Mutter mit nun tiefliegenden, merkwürdig dunklen Augen. The Ring assoziiert mein fieberhaft arbeitendes Gehirn. „Dann hören wir voneinander, vielen Dank für Ihre Mühe.“ Die perfekte Mutter schließt das Gespräch so routiniert und abgebrüht, als hätte sie es schon tausendmal geführt. Sie machen sich unvermittelt auf den Weg und lassen mich ratlos zurück.
Während ich meine Gedanken sortiere und passend dazu den Raum wieder in Ordnung bringe klingelt das Telefon. Ich melde mich, am anderen Ende sagt ein Mann mit bestimmender Stimme, dass unser Gespräch geheim bleiben müsse. Ob Anna zum Gespräch erschienen wäre? Ob alles gut gelaufen sei? Er stellt sich kurz als Forensiker vor. Psychiatrischer Forensiker. Ob Anna in dem Gespräch auf eine bestimmte Figur oder Fantasiegestalt Bezug genommen habe.
„Ja, ein Teddy.“
„Welche Farbe?“
„Der Teddybär?“ Ich verstehe diese Gesprächswendung nicht.
„Ja. Welche Farbe hat der Teddy?“ wiederholt er seine Frage.
„Weiß.“
„Dann ist alles gut“ und er legt unvermittelt auf.