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Teeniestar
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Es war Dienstag morgen. Die Sonne war noch nicht mal richtig aufgegangen, aber Lilli und Melli waren im Bus bereits unterwegs zur Schule. Es war der zweite Schultag nach den Weihnachtsferien und dementsprechend war ihre Stimmung sehr gedrückt. Gestern hatten sie noch Ferienerlebnisse ausgetauscht, um den wieder-Schule-Schock zu überwinden. Heute aber wurden sie gerade jetzt am Morgen mit der knallharten Realität konfrontiert, dass die nächsten Ferien unendlich weit weg waren.
Gerade wenn sie schlechte Laune hatten, so wie jetzt in diesem öden und außer ihnen und dem Busfahrer noch völlig leeren Landbus, schnitten sie ein Thema an, dass sie auch am schlimmsten Tag in eine bessere Stimmung kommen ließ. Ein Thema, dass ihre Fantasie mehr beflügelte, als es jeder Roman im Deutschunterricht jemals vermocht hätte: Ihre Lieblingsstars. Und vor allem die Nummer eins, der aktuelle Liebling unter den Lieblingsstars von 13jährigen Mädchen wie den beiden – Johnny Williams.
„Er ist ja so süß.“ Mellie war begeistert. Drei Aufkleber mit William´s Bildnis lachten ihr von ihrer Mappe entgegeben. Schmachtend betrachtete sie ihre Sticker. „Hast Du ihn gesehen, letzten Freitag bei KTV-Aktiv? Er liebt seine Fans! Neulich hat er drei Mädchen in seinen Tourbus auf einen Café eingeladen. Ist das nicht super? Er soll ganz normal gewesen sein und gar nicht abgehoben, haben sie erzählt.“ Beide schwiegen einen Moment. Sie in Johnny Williams Tourbus – das war eine Fantasie, in der sie an diesem unfreundlichen Morgen ein wenig schwelgen wollten. Bei Johnny Williams, ihrem Held. Schauspieler, Sänger, Komponist, der alle seine Lieder selber schrieb. Ein Multitalent, ein junger Gott.
„Und er hat sich wie ein echter Kavalier benommen“ wusste Mellie „wie er das schon mal bei dem Konzert in Barcelona gemacht hat – er hat einer der Mädchen die Hand geküsst! Ich hab´s auch gelesen“ Lilli strich unbewusst über ihren Handrücken, ganz in Gedanken. Sie wussten alles über Johnny Williams. Seine Lieblingsspeisen, seine Lieblingsmusiker, sein Leben als Kind, als Teenager, kurz vor seinem Durchbruch und, und, und. Lilli war eigentlich (bis auf die ihr so verhasste feste Zahnspange, aber nur noch ein Jahr!) ein hübsches Mädchen, der Traum macher Teeniebuben an ihrer Schule. Aber für nur eine Minute in Johnny Williams´ Tourbus hätte sie notfalls all ihre neuerlichen Eisspendierer gleichzeitig versetzt.
Der Bus hielt an. Untersteinbach. Sie waren immer die ersten, die in diese Buslinie einstiegen, leider wohnten ihre Eltern in einem abgelegenen Dorf und deswegen mussten sie in dieser Herrgottsfrühe losfahren. Die Tür ging auf. Johnny Williams kam herein. Die Tür ging wieder zu. Johnny bezahlte seinen Busfahrschein und kam direkt auf die beiden Mädchen zu. „Hallo, könnte ich mich zu Euch setzen ?“ fragte er die beiden Teenies mit dem Lächeln von einem der Aufkleber auf Mellies Mappe. Die Augen fielen den Mädchen fast aus dem Kopf, so weit wie sie sie im Moment des Erkennens aufgerissen hatten. Von der Größe wurden sie in ihren Gesichtern aktuell nur noch von den offenstehenden Mündern übertroffen. Ihre Kinnlade war den beiden so weit herunter gefallen, dass sie erst einmal unfähig waren zu antworten. Der Sinn der Frage von Herrn Williams musste auch erst die innere Kopfblockade durchbrechen, die sich in Folge des Schocks in Lillis Kopf gebildet hatte. Aber nachdem es eine Frage von DEM Johnny Williams war, fand sie ihren Weg doch in Lillis Gehirnwindungen und wurde dort verarbeitet. Nun ging es darum, eine passende Antwort zu finden.
“Ah ... äh ...“ Lilli besann sich jetzt zumindest ein wenig, dass sie mit einem so weit offenen Mund nur schlecht mit ihrem Star reden konnte. „Ja ... ja, natürlich“ meinte sie dann und mit einer eleganten Bewegung setzte sich Johnny Williams (in etwa so wie im Film „Madness took her“ in der Szene mit Cameron Dunst im Restaurant) zu den beiden. Lilli rempelte Mellie mit dem Ellenbogen etwas in die Seite, damit auch diese allmählich ihren Mund schloss und wurde einen Moment später, als ihr wieder bewusst wurde, mit wem sie da im Bus saß, erst einmal etwas bleich, dann puterrot und drehte sich verschüchtert etwas zur Seite, damit ihr Gott nicht so sehr sah, was da alles momentan in ihr vor ging. Ganz locker sprach Johnny sie an.
„Na wohin seit Ihr denn unterwegs? Geht´s in die Schule?“ Eine Antwort erhielt er erst einmal nicht, aber einen Routinier wie ihn konnte das nicht erschüttern und unter glanzvollem Einsatz seines Charmes begann er eine lockere Konversation mit den beiden Mädchen.
Was machte er hier eigentlich? Was machte er hier? Wie kam er hierher ? Alles in Johnnys Kopf war irgendwie durcheinander. Er erinnerte sich noch an etwas. Vor ein paar Minuten war er hier in diesen Bus gestiegen. Aber davor? Was war davor? Nebel, verschwommene Erinnerung. Was war das für ein Bus ? Wer waren die zwei Gören, mit denen er da sprach ?
„Wir ... wir wussten gar nicht, dass Sie Deutsch sprechen. Wir ... wir wissen doch alles von Dir, von Ihnen ... hihihi“ meinte Mellie gerade. Johnny verstand sie nicht. Was sprach sie für eine Sprache ? Nun folgte eine Antwort aus seinem Mund. Anscheinend eine gute Antwort, denn die beiden kicherten. Doch – er verstand die Antwort nicht. Sie war in der gleichen Sprache, aus seinem eigenen Mund! Was für eine Sprache sprach er da? War das nicht Dänisch oder Schwedisch oder so ein Zeug? Oder Deutsch? Die Gören, immer noch total verschüchtert gaben höflich Antwort.
Oh mein Gott. Es waren ... Teenie-Fans! Tatsächlich, die Pummelige hatte ein paar von seinen Stickern auf ihre Mappe. Oh Hilfe, Teenager, keine Kamera und er plauderte mit ihnen herum. Welcher Teufel hatte ihn geritten? Wo waren seine Bodyguards, die ihm diese ätzenden Teenies vom Leibe hielten? Oh Himmel, was machte er jetzt? Johnny bemerkte dass er aufgehört hatte, in dieser merkwürdigen Sprache zu reden und die Pummelige ihm diese Mappe gegeben hatte. Und er hatte sie genommen. Sie sah widerlich aus, eine Ecke von einem der Aufkleber ging schon ab und ein dicker verkrusteter Belag aus ekelhaften Haaren und widerlichem Schmutz hatte sich auf der Klebefläche abgelagert. Die Mappe trug sie bestimmt dauernd mit sich herum, überall klebten ihre ätzenden kindlichen Schweißpartikel an ihr, winzige Hornablagerungen von ihrer Haut. Und er nahm sie. Warum nahm er sie ? Er konnte es nicht erklären. Nun holte sie aus einem verschmierten Schlampermäppchen einen dicken Edding heraus und gab ihn ihm. Er nahm ihn! Diesen Stift, den sie bestimmt schon hundert mal in den Mund genommen und ihren kindlichen Speichel darauf gesabbert hatte. Er nahm die Kappe in seinen Mund und öffnete ihn, in dem er diese zwischen seine Zähne klemmte und den Stift davon abzog. Gleich musste er sich übergeben. Nein, er konnte nicht. Er wollte die Kappe ausspucken, doch er konnte nicht. Er konnte nicht! Er hatte keinerlei Kontrolle über seinen Körper! Er sprach wieder irgend etwas. Er verstand es nicht. Die Gören lächelten, sie lächelten mit dieser ekelig-verschüchterten Art, die er schon so viele 10.000 male innerlich angewiedert gesehen und mit diesem perfekten Schauspielerlächeln geantwortet hatte. Wenn die Kameras an waren.
Nachdem er einiges in einer ihm unbekannten Sprache hineingeschrieben hatte, gab er Mappe und Stift an die Pummelige zurück. Sie war offenbar glücklich, so wie diese andere kleine Göre in Conneticut, die er sich nach dem Konzert mit auf sein Zimmer genommen hatte. Wie konnte er damals nur? Sie waren so widerlich, diese kleinen Schlampen und er brauchte seine 10 Stunden Schönheitsschlaf. Das musste das Koks gewesen sein. Kein Wunder, dass er damals keinen hoch bekommen hatte. Aber damals konnte er auch nicht seine Gummihandschuhe und Gummisocken anziehen wie bei den Edelhuren, die ihn sonst befriedigten. Und das mit dem Katzenkostüm für sie konnte er auch nicht bringen. Sie war ein Fan und sein Produzent und sein Ghostwriter hatten ganz recht. Was ein Fan sah, war Öffentlichkeit. Sogar küssen wollte sie ihn. Selbst in diesem Moment überkam ihn der Ekel beim Gedanken an ihren Teenager-Sabber in seinem Mund, der pickeligen Teenager-Haut auf seiner. Oh Gott, wie würde er nun wieder den Kindersabber von seinen zarten Lippen wieder restlos ab bekommen, diese Schweißschmiere von seinen Händen? Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.
Das Gespräch zwischen ihm und den beiden kleinen Schlampen ging weiter. Johnny versuchte, etwas von seinem eigenen Reden zu verstehen, ohne Erfolg. Vom Ton her wurde das ganze herzlicher. Aber so widerlich intim, ohne jede Distanz. Seine Bodyguards waren nicht da. Warum machte er so etwas? Eine Veränderung trat allmählich ein. Das Gespräch ging wohl auf einen Höhepunkt zu. Die beiden Teenies quietschten und wurden wieder mal puterrot. Entsetzt spürte er, wie sein Körper sich nach vorne beugte. Er musste an die grässliche Szene bei dem Konzert in Italien denken – oder war es Spanien. Tatsächlich. Diese ekelhaft Idee von seinem Tourmanager. Er hatte sich geschworen, nie mehr so etwas zu tun. Und nun tat er es, nahm die Hand der Pummeligen und führte sie zu seinen Lippen. Jeden Moment erwartete er den Brechreiz, der ihn damals schon überkam. Doch der kam nicht. Er hatte selbst die Kontrolle über seinen Brechreiz verloren. Nur in seinem Kopf war die gewaltige Welle von Ekel, größer als er sie je in seinem Leben erlebt hatte, als seine Lippen ihre fettige Haut berührten.
Nun wand er sich der anderen zu. Nein, es konnte nicht sein – sein Lippen bewegten sie auf ihre zu. Ihre waren leicht geöffnet, feucht von Teenager-Speichel. Ein Pickel prangte nicht einmal einen Zentimeter neben ihrem rechten Rand, groß und dick, er glaubte direkt ganz oben eine riesige Eiterblase zu erspähen. Nun öffnete das Mädchen den Mund und er sah ihn. Den Gipfel des Grauens. Ihre Zahnspange – sie glitzerte im Licht der aufgehenden Sonne. Gleich würde sich seine Zunge in ihr verhacken. Er wünschte sich eine Flucht, eine Ohnmacht, ein Aufwachen aus diesem Alptraum, der keiner war.
2
Es war die zweite Unterrichtsstunde. Mellie saß gelangweilt im Geschichtsunterricht, ihre Mappe lag vor ihr. Sie war in Gedanken. Irgend etwas war heute morgen im Bus passiert. Aber was? Irgendwie konnte sie sich nicht erinnern. Zumindest an nichts besonderes. Aber sie hatte so ein Gefühl. Was sollte dieses Gefühl? Lilli, war sie nicht dabei gewesen? Mellie schaute zu ihrer Banknachbarin. Sie schaute ganz normal aus und schrieb irgend etwas von der Tafel in ihr Heft ab. Irgendwie war es ein Dienstag wie immer, aber irgendwie fühlte sie, als wäre etwas außergewöhnliches passiert. Aber die Zeit heute morgen im Bus zwischen Untersteinbach und Pfleichenfeld – sie war ausgelöscht wie in einem Blackout. War sie eingeschlafen, hatte sie vielleicht etwas schönes geträumt?
Der Schulgong ertönte. Geschichte war vorbei. Endlich. Mellie klappte ihre Mappe zu und ging schwatzend mit Lilli in die Pause. Draußen trafen sie Britta. Sie sah bestürzt aus, geschockt.
„Habt Ihr schon gehört, habt Ihr schon gehört?“
„Was denn?“
„Ich hab´s gerade im Radio gehört, im Lehrerzimmer. Johnny Williams ist gestorben. Heute nacht !“ Tränen standen ihr in den Augen.
„Was denn? Wie ist das passiert?“
„Eine Überdosis einer Partydroge hat es geheißen.“
„Nein, das ist nicht war! Er war doch so gegen Drogen!“ Lilli war geschockt. Mellie fing an zu weinen. Der Tag war eine Katastrophe, der talentierteste Megastar der Welt war nicht mehr, ihr Liebling war nicht mehr. Sie ließ ihre Mappe fallen. Da sich Mellie wie Lilli nicht mehr an die Busfahrt heute morgen erinnerte, fiel ihr auch nicht auf dass dort etwas fehlte. Ein Autogramm mit Widmung, dass ihr heute morgen jemand gegeben hatte, es war nicht mehr darauf.
3
Es war Dienstag morgen. Die Sonne war noch nicht mal aufgegangen, aber Jeanette saß bereits im Zug auf dem Weg in die Schule. Sie war gestern bei ihrer Oma in Paris gewesen und fuhr heute morgen direkt von dieser in die Schule zurück in ihre Vorstadt. Weihnachten war gerade vorbei, aber Jeanette war zu konzentriert in den spannenden Roman in ihren Händen, um Trübsal zu blasen. Deshalb bemerkte sie auch zunächst nicht, dass die Tür ihres Abteils aufging und Johnny Williams herein kam.
Im Gegensatz zu ihr wusste dieser, was nun passieren würde. Er hatte die Szene mittlerweile in hundert Varianten erlebt. Alles was er hasste, alles was ihn ekelte. Alles, was er in den letzten Jahren vorgespielt und nicht wirklich gelebt hatte immer und immer wieder. Immer mit neuen Fans von ihm, immer mit grauenvollen Tennie-Gören, immer wieder an diesem gleichen öden und grauenvollen Morgen. Mit dem gleichen uferlosen Ekel. Immer wieder in neuen Ländern und neuen Sprachen, die er durch Zauberhand sprach, obwohl er sie nicht verstand. Wie viele solche Fans mochte er haben, die er jahrelang betrogen hatte? Wie oft konnte sich diese Szene wiederholen? Tausende, hunderttausende Male?
In den wenigen Pausenmomenten, als er Fahrkarten löste oder bevor er Schulwege kreuzte kam die Erinnerung an die Nacht vor diesem Morgen. Kam die Erinnerung daran, was geschehen war – der Pille von dem neuen Zeug, dass ihn sein Ghostwriter auf die Party mitgebracht hatte, der Übelkeit, dem Auslöschen seines Lebens. An diesem Morgen war er eigentlich nicht mehr auf der Welt. Er war in seiner Hölle. Einer Hölle, die einem anderen vielleicht gar nicht so schlimm vorgekommen wäre, vor allem nicht einem wirklichen Super-Johnny, mit dem er diese Gören jahrelang betrogen hatte. Dem Gegenteil von ihm selbst, für den dieser Morgen als Johnny Williams ewiges Grauen bedeutete.