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Tequila Sunrise
Langsam kriegt Heran sie hin, denkt er und zieht am Strohhalm. Auf der Terrasse ist jetzt das perfekte Sonnenlicht. Er blickt auf die Uhr, stellt den Tequila Sunrise auf dem Tisch ab und denkt: Es ist nicht nur der Geschmack, auch die Farbe ist gut. Wie das Feuer der Sonne, im Glas gespiegelt. The Sun Also Rises. Dann blickt er in die Ferne. Hinweg über die Dächer der Villen, über die Blechhütten, die neugebauten Hotels und über Hotels, die gerade gebaut werden, mit Bambusstäben als Gerüsten. Er blickt durch den Smog hindurch bis zu den Bergkuppen, die die Stadt umschließen. Dazu das Hupen der Autos, das Gehämmer, das von den Wänden widerhallt, und dann, genau in diesem Moment, beginnt der Muezzin zu singen und der Gesang mischt sich in das Murmeln, das verzerrt und tranceartig von der orthodoxen Kirche herüberschallt. Er denkt daran, wie er ihn zum ersten Mal gehört hat, nach all den Büchern, es war in Kairo, das ständige Hupen der Autos hat es irgendwie ironisiert, aber die Substanz war noch präsent, wie in den Träumen, die er als Kind geträumt hatte, und das war so ein Moment, in dem er dachte: Ich hab’s geschafft. Und jetzt, da muss er einfach noch einen Schluck Tequila Sunrise nehmen, in diesem fast perfekten Moment, in dem genau das richtige Sonnenlicht auf die Terrasse scheint, auf seine Terrasse in Addis Abeba, Äthiopien.
Namen sind Versprechen, denkt Jan, egal ob es um Frauen, Städte, Bücher oder Drinks geht. Tequila Sunrise ist ein Versprechen, ein Wunsch, eine Stimmung. Und dann erinnert er sich an ‚Afrikanische Spiele‘, das Frank ihm geliehen hatte. An Addis Abeba denkt er, daran, dass es ‚neue Blume‘ heißt, und wie er das erste Mal in die Stadt kam, wie er kaputte Straßen gesehen hatte, Chaos, Armut, Müll überall, Bettler, Blechhütten, abgemagerte Ziegen und Esel mitten auf der Straße. Mit großen Augen hatte er hinter Autoscheiben in die Wirklichkeit geguckt, geschaut, gesucht. Und die Stadt hat ihr Versprechen schließlich doch gehalten: Die Cafés mit den Macchiatos, das Injeera, Hektik um den riesigen Meskal Square, die pulsierende Bole Road, Arat Kilo, voll von Menschen, das Geschrei aus den Minibussen, die Musik, der Rhythmus, der Vibe und nicht zuletzt dieser Nachmittag auf seiner Terrasse. Er wird Addis einmal vermissen.
Und dann denkt er an Timbuktu. An die Träume, die er geträumt hat. Und unweigerlich denkt er an Frank, mit dem er so viele Träume geteilt hat, auch den von Timbuktu, von Longdrinks in Timbuktu, während die Sonne untergeht, und er rührt mit dem Strohhalm im Glas. Wo mag Frank jetzt sein, fragt er sich. Hat er es geschafft? Ist er durch schriftlichen Prüfungen gegangen, durch Assessment-Center, Einstellungsgespräche? Hat er schließlich einen Vertrag unterschrieben, so locker wie immer? Hat er dabei gelächelt, anschließend einen Kurzen gekippt? Oder war er verkrampft und nervös gewesen, hat sich gefühlt wie ein Verräter? Hat er sich einen Anzug angezogen, die Haare abgeschnitten, die Schuhe geputzt? Und während Jan das denkt, da ist er auf einmal wieder in München, auf einmal wieder dort.
Frank knallte den Stapel Bücher auf den Tisch und schob ihn über die schwere Holzplatte, vorbei an Bierdeckeln, durch Pfützen aus Bier, Schnaps und Cola.
„‚König Alkohol‘,“ hob er an, „geniales Buch. Genauso wie ‚In die Wildnis‘.“
Jan grinste. Frank deutete auf den Stapel, bevor er sich ein Helles bestellte. Ganz oben lag ein schmales Buch: Ernst Jünger, ‚Afrikanische Spiele‘.
„Interessanter Titel,“ murmelte Jan und hob das Buch auf.
Frank nickte.
„Lies es. Wird Dir gefallen.“
Es war ziemlich abgegriffen, Frank hatte einige Stellen unterstrichen. Jan blickte sich in der Kneipe um. Viel war nicht los. Ein paar Jungs spielten Billard. Ein alter Mann saß vor seinem Bier in der Ecke und rauchte. Draußen regnete es. Auf einer Tafel stand: ‚Tequila Sunrise 2,50‘. Das nächste Buch auf dem Stapel war Hemingways ‚The Sun Also Rises‘. Jan lachte.
„Das kannst Du gleich wieder mitnehmen. Hab ich schon dreimal gelesen.“
Frank hob anerkennend die Augenbrauen.
„Klasse Buch. Wie wär’s jetzt mit einem Tequila Sunrise?“
„Gute Idee.“
Sie bestellten, schauten einen Moment in den Regen. Wasser spritzte unter den Autoreifen auf. Drei Mädchen schoben ihre Räder vorbei. Etwas weiter hinten das Uni-Hauptgebäude.
Sie schwiegen.
„Was machst Du in den Semesterferien?“
Frank hob langsam die Schultern.
„Arbeiten. Geld verdienen. Lesen.“
Jan rührte gleichmäßig mit dem Strohhalm im Glas.
„Praktikum?“
Frank schüttelte den Kopf und blickte wieder nach draußen.
„Wann bist Du scheinfrei?“
„Zwei Semester vielleicht,“ murmelte Frank und nahm einen Schluck.
„Kannst Du noch so lange im Wohnheim bleiben?“
Frank zuckte mit den Schultern. Dann blickte er auf:
„Und Du willst es jetzt durchziehen?“
Jan nickte.
„Muss was anderes machen. Und raus aus München.“
Die Bedienung stellte zwei neue Drinks vor ihnen ab. Frank schob das Glas auf dem Tisch hin und her.
„Goethe-Institut wäre interessant“, meinte er plötzlich.
Langsam sah Jan auf.
„Wie kommst Du denn darauf?“
Frank lehnte sich vor zu ihm, es blitzte auf in seinen Augen.
„Na, stell Dir mal vor, Chef des Goethe-Instituts in Timbuktu,“ flüsterte er, „jeden Abend Tequila Sunrise auf der Terrasse. Und Du sitzt in Kairo oder so, und wir prosten uns über Skype zu.“
Jan lachte. Dann zog er den Flyer der Semesterabschlussparty aus der Tasche. „Gehen wir noch hin?“
Frank leerte sein Glas.
„Klar.“
Sie stolperten in den Regen.
„Scheiße,“ murmelte Jan und knöpfte seine Jacke zu. Er blickte sich um und sah, wie Frank sich an einem Rad zu schaffen machte.
„Hör auf“, lachte Jan.
„Hab’s gleich.“ Einen Moment später sprang das Schloss auf.
„Komm schon“, rief Frank und trat an.
Jan sprang auf den Gepäckträger, hielt sich an der Jacke seines Freundes fest. Und sie fuhren durch die Nacht, hinein in den Wahnsinn.
Und jetzt zieht er nochmal am Strohhalm und denkt daran, wie er ein paar Jahre später, im Anzug, mit Visitenkarten und Aktentasche, für eine Konferenz in München gewesen war. Als es Abend geworden war, hatte er es im Hotelzimmer nicht mehr ausgehalten, hatte ein Taxi zum Studentenwohnheim genommen, irgendwo geklingelt, bis die Tür aufgegangen war. Er denkt daran, wie er die Briefkästen in der Eingangshalle nach dem Namen abgesucht hatte, durch die dunklen Gänge geschlichen war, alles ohne Ergebnis. Er war wieder eingestiegen, zur Kneipe gefahren, und es war das gleiche Licht, der gleiche Geruch wie immer, aber da war niemand, den er kannte, fremde Leute an den Billardtischen, sogar die Bedienungen waren neu, sahen ihn komisch an. Timbuktu, hatte er hastig gedacht, als er wieder ins Taxi gesprungen war. Vielleicht hat er’s geschafft. Vielleicht haben die kein Internet im Goethe-Institut in Timbuktu, oder vielleicht hat er einfach meine Nummer verloren.
Da hört er, wie ein Auto über den Kies rollt, wie sich ein Tor öffnet und dann ein Hupen. Er steht auf. Vor ihm glüht die Stadt in der Abendsonne. Die Kirche ist verstummt, der Muezzin hat ausgesungen. Die Straßen sind jetzt voll von Menschen, blaue Ladas humpeln durch die Schlaglöcher. Von den Bergen gehen die Holztägerinnen zurück in die Stadt, schwer bepackt, stoisch, kraftvoll. Er zieht noch einmal am Strohhalm. Auf dem Weg zur Treppe bleibt er kurz am Regal stehen und nimmt ein Buch heraus. Ich hab es ihm nie zurückgegeben, denkt er und blättert durch die Seiten. Die Unterstreichungen von Frank, er hat sie nie verstanden. Und als er die Treppe heruntergeht, überlegt er für einen Moment, was Siege überhaupt wert sind, die man nicht teilen kann. Doch Heran steht schon an der Tür und hält ihm den Mantel hin, während der Fahrer im Auto sitzt, bei laufendem Motor, und Jan sagt:
„Danke, das war ein guter Drink“, bevor er hinausgeht.