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Wortkrieger-Team
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23.05.2005
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1​

Häuser sah ich und das war alles, was ich sah. Tokio ruft, die Menge rast, schoss es mir durch den Kopf. Doch ich durfte mich dadurch nicht beeinflussen lassen, ein Buddhist begehrt keinen Ruhm, schon gar nicht, wenn er in Gestalt einer Laugenbrezel wiedergeboren wurde. In meinem letzten Leben muss ich echt versagt haben. Nicht nur, dass ich als Laugenbrezel reinkarnierte, nein, ich war auch noch Deutscher.
Auf meiner Reise durch Japan war ich in der Hauptstadt angekommen, und schon bald fand ich Quartier bei einem netten, älteren Ehepaar. Das war das Ende vom Anfang.

Die Frau war Hausmeisterin der Tokioter Börse. Eines Tages, sie hatte die Börse gerade pünktlich um neun Uhr Ortszeit aufgeschlossen, kehrte sie mit einem Bündel in der Hand zurück.
„Was hast du denn da, Weib?“, fragte der Hausmeisterinnengatte, als sie mit dem kleinen Bündel in die gute Stube trat.
„Guckst du hier ...“, erwiderte die Hausmeisterinnengattengattin.
Nanu, fragte ich mich insgeheim. Seit wann redeten Japaner deutsch, und dann auch noch mit türkischem Akzent.
„Was ist das denn?“
„Uns hat jemand ein kleines Baby vor die Türe gelegt.“
„Och. Herzallerliebst, wie süß. Wir sollten es Gupf nennen. Gupf wie in Hugelgupf.“
„Hugelgupf ... ja, ein wahrlich toller Name für ein Findelkind!“
Hatten sie da was verdreht? Oder war das japanischer Geheimslang, den ich nicht verstand? Und da war noch was, warum unterhielten sie sich auf deutsch? Dachten sie, dass ich sie dann nicht verstehe? Wie gut, dass ich Geheimdetektiv war.

2​

In diesem Kapitel wollte ich mich erst mit der Herstellung niedlicher Briefmarken mit Pokemonmotiven beschäftigen, da das aber weder zum Thema noch zu meinem Outfit passt, stellte ich mir lieber wichtige Fragen wie: Wer hatte Gupf ausgesetzt? Und ausgerechnet vor der Tokioter Börse? Wie viel passender erschien mir hierfür der Louvre. Ach ja, der Louvre ...

2.1​

Ich erinnerte mich an mein vorvorletztes Leben, als ich als Mauerschwalbe öfter mit weit unter Überschallgeschwindigkeit durch die Pariser Stadt düste. Gerade der Louvre hatte es mir angetan, und die dortmalige Sonderausstellung, die sich endoplasmatischer Schmierseife beschäftigte. Oder so. Mauerschwalben sind da nicht so bewandert.

2​

„Hehe, bewandert ...“, sagte ich.
Die beiden frischgebackenen Zieheltern sahen mich argwöhnisch an, ich aber ließ mir nichts anmerken und murmelte buddhistische Weisheiten vor mich hin. Daraufhin ließen sie mich meistens in Ruhe.

3. und letztes Kapitel​

Die Jahre zogen ins Land und Gupf wuchs und wuchs. Ich hauste immer noch bei den Hausmeisters, wie ich sie liebevoll nannte. Meine Weltreise durch Japan hatte ich abgebrochen. ‚Wahre Erleuchtung findet nicht der Reisende, sondern der Aufmerksame’, gab mir mal ein Taxifahrer mit auf den Weg, den ich in Memphis getroffen hatte.

Eines Tages unternahm ich, wagemutig wie ich schon immer war, einen Bummel durch die Tokioter Innenstadt. Man kann über Japaner sagen, was man will, aber tolerant sind sie. In Deutschland könnte eine wandernde Brezel nicht unbehelligt durch die Welt ... also, wandern eben. Auf dem Marktplatz, den es da ja sicher irgendwo geben müsste, trat gerade eine bolivianische Folkloretruppe auf. Anscheinend war es die Vorband. Ich hörte jedoch einige Japaner sagen, dass sie eigentlich eine Hauptrolle hätte spielen sollen.
Innerlich lachte ich. Ich musste mir vorstellen, wie so etwas wohl in einer Geschichte wirken würde. Da hätte der Autor sicherlich eine solch lächerliche Vorgabe einzuhalten gehabt, die er dann so plump eingebaut hätte. Vorwerfen könnte man ihm so was allerdings nicht, wie ich fand. Zum Glück war das aber alles nur ein Gedankenexperiment. Trotzdem wurde die Situation immer abstruser.
Plötzlich rannte ein verwirrter Schauspieler über den Marktplatz, hielt einen Totenschädel in der Hand und rief:
„Ein Pferd, ein Pferd, ein Königreich für ein Pferd!“
Milde lächelnd beobachtete ich, wie er von mehreren Polizisten abgeführt wurde. Die Anklage würde wohl auf Hochverrat lauten. Der alte Akihito war sicherlich nicht damit einverstanden, dass sein Reich gegen ein Pferd eingetauscht würde. Die Tatsache, dass Japan ein Kaiserreich war, schien entweder niemanden zu interessieren, oder es war einfach nur schlecht recherchiert worden. Also, wenn das eine Geschichte wäre, haha.
Nachdem der Hochverräter in spe abgeführt worden war, hörte ich im Vorbeigehen mehrere Leute tuscheln. Ich fing einzelne Wörter wie „sui generis“ auf, machte mir aber keinen Reim drauf, da Brezeln außerordentlich schlechte Dichter sind. Reime passierten höchstens durch Zufall.
Ich begab mich auf den Heimweg, und begann mich zu fragen, welchen Sinn dieser Bummel gehabt hatte.

4 (ich habe eben gelogen)​

Nun muss ich Ihnen doch noch etwas über Gupf erzählen. Glauben Sie, mir macht das auch keinen Spaß, mir dauert das hier eh schon viel zu lang.
Gupf wurde im Laufe der Jahre ein kräftiger Bursche. Aber er hatte nicht nur einen starken Körper, auch ein äußerst wacher Geist wohnte ihm inne. Er war mit Sicherheit das größte Brokergenie des 21. Jahrhunderts. Und doch war er nicht frei von Makel, ganz im Gegenteil. Sein Gesicht war eine entstellte Fratze. Ohne dramatisieren zu wollen, aber das war ... also, die ging echt gar net.
Er musste eine Maske über einer Maske tragen, um wenigstens halbwegs als Mensch durchgehen zu können. Und dennoch zog er sich immer mehr zurück. Er entdeckte unterhalb der Börse einen Keller, der lange nicht benutzt worden war und richtete sich dort ein Quartier ein.
So saß er oft dort, las im Jahrbuch für Wirtschaftswissenschaften 54 den Artikel über Internationale Währungsfonds und genehmigte sich die ein oder andere Tasse Kamillentee. Gupf war ein, man kann es nicht anders sagen, Bösewicht. Niemand ist grausamer als Kinder; sie machten Gupf zu dem Außenseiter, der er heute war. Ein Genie, ausgelacht ob äußerlichen Fehlbildungen. Er hatte stets nur Gutes gewollt, den anderen Kindern nützliche Börsentipps für ihre Eltern mit auf den Weg gegeben, doch seine Hilfsversuche stießen auf taube Ohren und spottenden Münder.
Zumindest redete Gupf sich das ein. In Wahrheit war er einfach ein Arschloch, punktfertigaus.
Mithilfe seines fast beängstigend genialen Verstandes rief er den Tokioter Börsenkrach hervor und wäre fast geschnappt worden. Seine Ziehmutter jedoch verhalf ihm rechtzeitig zur Flucht.

Seither soll er als Phantom des Louvres sein Unwesen treiben.

 

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