Was ist neu

Text- contra Autorenintention

Ich gebe Dir ja völlig recht, schließlich schrieb ich zu Beginn dieses Threads:

Grundsätzlich gilt:
Je mehr ich über etwas weiß, desto genauer kann ich es beurteilen. Wenn ich jetzt also völlig ohne Vorbildung versuche, z.B. Dantes göttliche Komodie zu interpretieren, wird das Ergebnis nur für mich und meinen begrenzten Horizont zutreffen. Wenn ich hingegen weiß, wer wer Dante war, wie er dachte, in welcher Zeit er lebte, was Religion damals bedeutete, wie sie aussah, historischer Kontext, etc.pp. blabla, dann werde ich den Texst genauer zu interpretieren in der Lage sein. So gesehen, ist die Autorintention wichtig.
Die Frage ist für mich nun: Wo ist (bei Prosa) die Grenze?

Nehmen wir Grass, ein arroganter Oberlehrer vor dem Herrn. Halte mich durchaus für gebildet und muss dennoch Fremdwörterlexikon und diverse geschichtliche Nachschlagewerke zur Hand haben, wenn ich "Ein weites Feld" oder so von ihm lese. Das ist legitim. Grass schreibt nun mal nur für Marcel Reich-Ranicki... :lol:
Naja und für ähnlich hochgebildete Schöngeister. Ist ja ok, schlägt man eben nach und lernt sogar noch was dabei oder man legt es weg. Ist für mich deshalb ok, weil nachprüfbar. Grass' Bücher liest man eh nicht, man hat sie im Schrank stehen, hehehe.

Aber die ersten Geschichten von Hexachord? Das ist enigmatisches Worthülssen-Wichsen, ich bleibe dabei (wobei ich hiermit nochmal öffentlich erkläre, dass ich den Autor deshalb nicht als Wichser bezeichne :rolleyes: ). Wenn ich unter Aufbietung all meiner (durchaus beträchtlichen) Vorstellungskraft etwa die Hälfte der Metaphern deuten kann (bei einem Text, der nur aus Metaphern besteht!), dann lässt das unbefriedigt zurück - zumal es m.E. die Kriterien einer Kurzgeschichte nicht erfüllt. Mag ja trotzdem Kunst sein, streite ich ja nicht ab, aber ist es Prosa? Wie dem auch sei, ich habe ja die ersten 3 Stories des guten Mannes boswillig als Neo-Dada eingeordnet, die Grenze, von der ich sprach sehe ich dort also als überschritten, da man den Autor wohl schon gut und persönlich kennen muss, um seine Schreibe zu verstehen. Aber wo genau liegt die Grenze? Eine schwierige und interessante Frage. Was meinen die Mitglieder? Anna, Armelle, Sandra, schätze mal, Eure germanistisch-linguistische Frauenpower ist hier gefragt. Was meint Hexachord selbst dazu? Was die Mods? Was Otto Normalleser?

 

Was meint Hexachord selbst dazu? Was die Mods? Was Otto Normalleser?
Hier Otto Normallesers Meinung: Nachdem ich ja selber hie und da ein bisserl schreibe, kann ich gleichfalls aus der Warte eines "Autoren" berichten.

Also: Wenn ich eine Geschichte schreibe dann unter der Voraussetzung, dass
a) sie jeder verstehen kann, auch ohne Fremdwörterduden
b) die Intention klar ersichtlich ist und keine Kenntnisse über das zweite vatikanische Konzil oder das Sozialverhalten der chinesischen Wüstenspringmaus nötig sind
c) der Text für sich steht und man den Autoren (in diesem Falle mich) völlig beiseite schieben kann.

Dennoch kann ich es mir natürlich nicht verkneifen, mitunter Anspielungen auf bekannte Autoren oder Ereignisse einfließen zu lassen ... oder persönliche Erfahrungen ... oder politische Ansichten ... oder eine divergierende Lesart zuzulassen ... etc.

ABER: Der Text steht immer für sich! Die Geschichte ist stets das wichtigste, der Autor und seine Vita von keinerlei Bedeutung zum Verständnis der Story.

Hier trennen sich meines Erachtens nach die Wege "normaler" von denen "schöngeistiger" Literatur (bitte mich nicht auf diese zugegeben idiotischen, willkürlich gewählten Begriffe festnageln!):
"Normale Literatur" ist jedem Leser zugänglich; hochnäsiges Intellekt-Dünkel nur dem, der sich darauf einlässt und Quell- bzw. Sekundärliteratur wälzt.
Ein gutes Beispiel hierfür stellt "Das fouceaultsche Pendel" von Eco dar. Nach 100 oder 200 Seiten war ich so entnervt, dass ich das Buch weglegte. Und soviel ich weiß, bin ich damit nicht der einzige.

So. Man kann Literatur jedoch einerseits leicht lesbar gestalten, sie aber dennoch auf mehreren Ebenen ansiedeln, die nur derjenige entdeckt, der sich eingehender damit beschäftigt.
Man muss nichts über Hesses Vita wissen um "Unterm Rad" fesselnd zu finden - wenn man jedoch weiß, dass einige seiner persönlichen Erfahrungen darin verarbeitet wurden, gewinnt man dem Roman eine zusätzliche Ebene ab, die jedoch für dessen Verständnis nicht nötig ist.

Über "moderne Kunst" will ich gar nicht erst zu reden anfangen ... Wenn ich Kunst als solche nicht erkennen kann, wenn sie mir erst ERKLÄRT werden muss, hat der "Künstler" in meinen Augen bereits verloren.

 

Das ist ein guter Punkt, Rainer. Auch für mich stellt das Ideal eine Story dar, die ein normal gebildeter Leser (nicht unbedingt jeder Klippschüler) versteht und deren Anspielungen dem "höher" gebildeten Leser eine neue Ebene eröffnen, die ersterem u.U. verschlossen bleibt, jedoch sein grundsätzliches Verständnis der Story nicht behindert.

Bezweifle allerdings stark, dass das ein Muss ist. Schließlich ist Grass immer noch Prosa. :lol:

 

nicht unbedingt jeder Klippschüler
:confused: Hm?

Was ich vergessen habe: Natürlich sollte der Leser auch nicht unterfordert oder "belehrt" werden - so was hass ich!
Grass habe ich nie gelesen.
Andererseits hat er auch nie was von mir gelesen. Ist also fair... :cool:

 

Hi Leute.

Also ich brauch jetzt mal wieder gar nichts mehr dazu sagen. Ich muß mich Rainer bedingungslos anschließen. Sogar mit dem Hesse-Beispiel... :rolleyes:

Menno, Rainer - mußt Du immer genau das sagen, was ich denke? :D

Gruß,
stephy

 

@Alpha:

Das mit dem Neo-Dada ist nicht ganz verkehrt. In irgendnem Deutschbuch von mir standen viele Gedichte und Geschichten dieser Art. Haben mich damals sehr beeindruckt. Ich lese zwar lieber Sachen aus dem 19. Jahrhundert, doch hat die Literatur des frühen 20. Jh. auch so seine Spuren hinterlassen.

Aber wieso siehst Du die Grenze überschritten? Ist das nicht eine zu engstirnige Diskussion?
Wurden Grenzen in der Kunst nicht schon immer überschritten?
Im Barock hätte niemand eine große Septime verwendet, Wagner brachte in "Tristan und Isolde" dann sogar den Tritonus und später kam die Zwölftonmusik. Cage und Stockhausen schließlich brachten Geräusche, andere experimentierten mit 24 Tönen (auch davon ist in meiner Geschichte die Rede: "Die Harmonie kam ins Wanken, als aus 12 plötzlich 24 geworden waren.")
Die Popmusik bediente sich weiterhin der dreistimmigen Akkorde ("...die Heilige Dreifaltigkeit, die allzu lange die Herzen der wiehernden Normalos durchbohrt hatte.")

Ich sehe Grenzen nie formal, sondern nur geschmacklich.

[ 20.05.2002, 18:58: Beitrag editiert von: hexachord ]

 

Ach, und ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, was Du mit Heiliger Dreifaltigkeit meinst!
Ich habe den Text nicht mehr genau im Kopf, jedoch behaupte ich einfach mal, dass das völlig unmöglich für den Leser ist, das richtig zu entschlüsseln.

Ist meiner Meinung nach auch nicht schlimm. Hauptsache ist immer noch, dass der Leser irgendeine gedankliche Verbindung hat. Denn wenn ein Leser mit einem Text "etwas anfangen" kann, muss er ihn ja noch lange nicht, so wie der Autor es beabsichtigt hatte, verstanden haben. Es gibt eben diese verschiedenen Richtungen in der Literatur. Der eine erzählt, um des Erzählens Willen (Rainer etc.), der andere versucht bestimmte Aussagen zu übermitteln (hm, hier fällt mir keiner ein, der sich 100% daran hält) und wieder andere bringen sehr viel von sich in ihre Geschichten hinein (da ist der enigmatische Stil vielleicht auch Selbstschutz???), verarbeiten also hauptsächlich eigene Gedanken (Hexachord etc.). Und last but not least gibt es die Mischer, die mal mehr zum einen, mal mehr zum anderen tendieren (Ponchichi etc.).

Aber das ist doch ok. Jeder hat seine Leserschaft, da jeder ein anderes Ziel verfolgt. Jedem das seine. Und von Grenzen halte ich auch nicht viel.

 

Da ich sowohl gerne lese, als auch schreibe, bin ich halt dahingehend gewöhnt in einer, unter einer bestimmten Rubrik geposteten Geschichte, etwas erkennbares, verstehbares zu finden.
Es macht mir Schwierigkeiten, wenn ich mich erst in eine mir völlig fremde Gedankenwelt hineinzwingen muß, und mich eventuell durch meine Verständnislosigkeit noch herber Kritik als nixversteher aussetze.

Ich finde, dass sich eine Geschichte im besten Falle selbst aus sich heraus erklären sollte, tut sie das nicht, ist sie vielleicht Kunst, aber die ist hier eher nicht erwartet oder gefordert.(zumindest nicht von mir)Kunstvoll geschrieben, ja, aber nicht hyroglyphenhafte Wortspielrätsel die sich als Kunst tarnen.(mögen sie noch so genial sein, wenn ich es nicht erkennen kann, bin entweder ich zu doof dafür, oder der Autor sollte ins grübeln kommen...
Meine persönliche Erwartung geht in die voranstehend geschilderte Richtung.
Dementsprechend reagiere ich, und kritisiere von diesem(meinem) Standpunkt aus.

Lord

 

@Rainer

Das Ideal, welches du hier beschreibst, entspricht in etwa auch meinem Ideal als Autor, wie sicherlich aus meinen Geschichten hervorgehen müsste. Allerdings hat Alpha recht, nur wenn ein Text dieses Ideal nicht erfüllt, bedeutet das nicht, dass er keine Kunst ist. Bestes Beispiel wäre Gottfried Benn, neben Rilke der wahrscheinlich bedeutendeste deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts. Als Mediziner ließ er rasende Horden griechischer Terminologie auf seine Leserschaft los. Wenn man dann mal was nachschlagen muss, sollte man es aber eher als eine Berreicherung ansehen, finde ich.
Jede Diskussion darüber, was denn Kunst sei, ist im Grunde hinfällig. Spätestens seit Beuys wissen wir: Alles ist Kunst. Es gibt nur die Frage nach Qualität, wie hexachord schon sagt. Wenn dir jetzt z.B. Beuys nicht gefällt, nur weil man ihn nicht auf Anhieb verstehen kann, dann ist das völlig OK, es ändert aber nichts daran, dass er Kunst ist, und einen enormen Einfluss hatte. Wenn du dich allerdings intensiver mit Beuys' Kunst oder Theorie auseinandersetzt - und das muss auch nicht unbedingt Sekundarmaterial sein! - dann wird deine Kritik an ihm ebenso überzeugender.

 

Benns "Gehirne" sind schon ne üble Sache... *gg*
Auch die Herbstgedichte von Trakl (aus einem habe ich "das weiße Tier" entlehnt) oder Kafka, Joyce etc. leben von Verschlüsselung.

Mit Beuys hab ich in der Stuttgarter Staatsgalerie wenig anfangen können. Da liegen so ein paar Fettklumpen von ihm rum, will mir aber da sonst kein Urteil drüber bilden.
Skulpturen und Bilder von Giacometti sprachen mich da mehr an. (Von dem bin ich mittlerweile ein richtiger Fan.)

[ 21.05.2002, 02:17: Beitrag editiert von: hexachord ]

 

Äh, vielleicht habe ich mich unklar ausgedrückt:

1. Es geht nicht darum, was Kunst ist, sondern was eine Kurzgeschichte ist

2. Es geht nicht um Grenzen im herkömmlichen Sinne (offensichtlich allgemein negativ belegtes Wort), sondern um Definitionen. Da die Definition eines Genres logischerweise Grenzen darstellt/zieht/aufzeigt (um es von anderen Genres abzugrenzen nämlich), bitte ich, diesen Begriff auch so zu verstehen, jedenfalls was unsere Diskussion betrifft.

 

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